Schlussanträge des Generalanwalts Darmon vom 12. Dezember 1990. Ludwig Rönfeldt gegen Bundesversicherungsanstalt für Angestellte. Ersuchen um Vorabentscheidung: Sozialgericht Stuttgart - EUR-Lex Document 61989CC0227
Karar Dilini Çevir:


Wichtiger rechtlicher Hinweis
| 61989C0227
Schlussanträge des Generalanwalts Darmon vom 12. Dezember 1990. - LUDWIG ROENFELDT GEGEN BUNDESVERSICHERUNGSANSTALT FUER ANGESTELLTE. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: SOZIALGERICHT STUTTGART - DEUTSCHLAND. - SOZIALE SICHERHEIT - VERORDNUNG NR. 1408/71 - IN EINEM MITGLIEDSTAAT VOR DESSEN BEITRITT ZU DEN GEMEINSCHAFTEN ERWORBENE RENTENANSPRUECHE. - RECHTSSACHE C-227/89.

Sammlung der Rechtsprechung 1991 Seite I-00323
Schwedische Sonderausgabe Seite I-00009
Finnische Sonderausgabe Seite I-00019


Schlußanträge des Generalanwalts

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Herr Präsident,
meine Herren Richter!
1. Das Sozialgericht Stuttgart legt Ihnen eine Frage zur Vorabentscheidung vor, die Ihnen in erster Linie Anlaß geben wird zu prüfen, ob der Verlust von sozialversicherungsrechtlichen Vorteilen, die sich daraus ergeben, daß die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates (1) zwischen Mitgliedstaaten geschlossene zweiseitige internationale Abkommen ersetzt hat, mit den Artikeln 48 und 51 EWG-Vertrag vereinbar ist.
2. Einige Einzelheiten zum Ausgangsverfahren: Herr Rönfeldt, ein im Jahre 1924 geborener und derzeit in Deutschland wohnender deutscher Staatsangehöriger, entrichtete von 1941 bis 1957 Beiträge zur deutschen gesetzlichen Rentenversicherung und arbeitete danach bis 1971 in Dänemark - in diesem Zeitraum entrichtete er Beiträge zur dänischen Sozialversicherung -, bis er nach Deutschland zurückkehrte, wo er versicherungspflichtig wurde.
3. Aus den Akten geht hervor, daß das deutsch-dänische Sozialversicherungsabkommen vom 14. August 1953 vorsah, daß deutsche Staatsangehörige, die in Dänemark gearbeitet hatten, bei der Berechnung der in Deutschland gewährten Altersrente die in Dänemark zurückgelegten Aufenthaltszeiten bis zur Hoechstdauer von 15 Jahren berücksichtigt erhielten.
4. Nach Artikel 45 der Verordnung Nr. 1408/71 müssen die zuständigen Träger der Mitgliedstaaten für die Feststellung, ob ein Rentenanspruch begründet ist, alle in diesen verschiedenen Staaten zurückgelegten Arbeitszeiten berücksichtigen. Artikel 46 dieser Verordnung sieht eine Proratisierung der von jedem Mitgliedstaat gewährten Rente entsprechend den unter der Geltung der Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats tatsächlich zurückgelegten Arbeitszeiten vor.
5. Ausserdem ist daran zu erinnern, daß die Verordnung Nr. 1408/71 in Artikel 6 bestimmt, daß sie im Rahmen ihres persönlichen und sachlichen Geltungsbereichs an die Stelle aller Abkommen über soziale Sicherheit tritt, die zwischen zwei oder mehr Mitgliedstaaten in Kraft sind.
6. Im Ausgangsrechtsstreit scheint der deutsche Sozialversicherungsträger nicht zu bezweifeln, daß es für die Feststellung, ob ein Rentenanspruch begründet ist, notwendig ist, die von Herrn Rönfeldt in Dänemark zurückgelegten Zeiten zu berücksichtigen; er lehnt es dagegen ab, die Höhe der in Deutschland gewährten Rente unter Einbeziehung dieser Zeiten festzusetzen. Die Herrn Rönfeldt gewährte Rente ist daher allein für den auf diejenigen Zeiten entfallenden Anteil zu berechnen, für die er in Deutschland Beiträge entrichtet hat.
7. Nun ist aber das Rentenalter in Dänemark und in Deutschland unterschiedlich festgesetzt. Im erstgenannten Staat beträgt das Rentenalter 67 Jahre, während es im zweiten 65 Jahre beträgt, und zwar mit der Möglichkeit eines vorgezogenenen Altersruhegelds nach Erreichen des 63. Lebensjahres. Dementsprechend erhält Herr Rönfeldt unter Zugrundelegung der Auffassung der insoweit zuständigen deutschen Behörde in Deutschland eine Rente, die dem auf die Zeit, in der er in diesem Land gearbeitet hat, entfallenden Anteil entspricht. Von den Sozialversicherungsträgern Dänemarks wird er aber erst nach Erreichen des 67. Lebensjahres ein Altersruhegeld erhalten.
8. In erster Linie ficht Herr Rönfeldt diese Konsequenz vor dem vorlegenden Gericht an. Dieses möchte nun mit der an Sie gerichteten Frage wissen, ob die Verordnung Nr. 1408/71 und die fraglichen nationalen Rechtsvorschriften mit den Artikeln 48 und 51 EWG-Vertrag vereinbar sind. Es ist jedoch angebracht, sich auf die Gründe der Entscheidung des nationalen Gerichts zu beziehen, um genau die Punkte einzugrenzen, zu denen das Gericht im vorliegenden Fall Ihre Stellungnahme wünscht. Insoweit ergeben sich aus dem Wortlaut des Vorlagebeschlusses zwei unterschiedliche Fragen. Zunächst ersucht Sie das Sozialgericht, Artikel 94 der Verordnung Nr. 1408/71 im Hinblick darauf auszulegen, ob frühere Rentenansprüche, die vor dem Beitritt eines Mitgliedstaats zur Gemeinschaft erworben wurden, unter Berücksichtigung der Tatsache, daß die Mitgliedstaaten unterschiedliche Altersgrenzen für den Rentenbezug festgelegt haben, den Rechtsvorschriften des Beschäftigungsstaats oder denen des Herkunftsstaats unterliegen. Sodann äussert das vorlegende Gericht Zweifel hinsichtlich der Gültigkeit der Bestimmungen, die die verschiedenen Altersgrenzen für den Anspruch auf Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung festlegen, im Hinblick auf die Grundsätze des Eigentumsschutzes und der Freizuegigkeit.
9. Soweit es um die Auslegung des Artikels 94 der Verordnung Nr. 1408/71 geht, stellt sich die Frage, ob Herr Rönfeldt in den Anwendungsbereich der Verordnung fällt. Die Antwort auf diese Frage ist meiner Ansicht nach nicht zweifelhaft. Artikel 94 Absatz 2 bestimmt nämlich ausdrücklich: "Für die Feststellung des Anspruchs auf Leistungen nach dieser Verordnung werden sämtliche Versicherungszeiten sowie gegebenenfalls auch alle Beschäftigungs- und Wohnzeiten berücksichtigt, die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats vor dem 1. Oktober 1972 oder vor Anwendung dieser Verordnung im Gebiet des Mitgliedstaats zurückgelegt worden sind." Aus dieser Bestimmung folgt somit klar, daß die Versicherungszeiten, die nach den dänischen Rechtsvorschriften vor Anwendung dieser Verordnung im Gebiet des Königreichs Dänemark zurückgelegt wurden, für die Feststellung der Ansprüche in der Bundesrepublik Deutschland berücksichtigt werden müssen.
10. Sodann legt Artikel 45 der Verordnung die Einzelheiten für diese Berücksichtigung durch den zuständigen Träger fest, der die nach den dänischen Rechtsvorschriften zurückgelegten Beitragszeiten für die Begründung des Rentenanspruchs so berücksichtigten muß, als handelte es sich um in Deutschland zurückgelegte Zeiten. Demgegenüber sieht Artikel 46 für die Berechnung der Höhe der Rente vor, daß diese von jedem zuständigen Träger unter Zugrundelegung der nach den von ihm angewandten Rechtsvorschriften zurückgelegten Versicherungs- oder Wohnzeiten bestimmt wird.
11. Das bedeutet konkret, daß im vorliegenden Fall der deutsche Sozialversicherungsträger die Versicherungszeiten in Dänemark bei der Feststellung, ob ein Rentenanspruch in Deutschland begründet ist, mitrechnen muß, ohne sie aber bei der Berechnung der Rentenhöhe berücksichtigen zu dürfen, da die Höhe der Rente in Deutschland allein von den unter der Geltung der deutschen Rechtsvorschriften zurückgelegten Zeiten abhängt.
12. Was die Divergenz zwischen den dänischen und den deutschen Rechtsvorschriften hinsichtlich des Rentenalters angeht, so ist darauf hinzuweisen, daß die Verordnung Nr. 1408/71 "kein gemeinsames System der sozialen Sicherheit geschaffen hat, sondern eigene nationale Systeme bestehen lässt und daß sie nur die nationalen Systeme koordinieren soll" (2), und ferner, daß "Artikel 51 ... also Unterschiede zwischen den Systemen der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten und folglich auch bezueglich der Ansprüche der dort Beschäftigten bestehen ((lässt)). Die materiellen und verfahrensmässigen Unterschiede zwischen den Systemen der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten und damit den Ansprüchen der dort Beschäftigten werden somit durch Artikel 51 EWG-Vertrag nicht berührt." (3) Aus diesen Grundsätzen geht ganz deutlich hervor, daß etwaige Divergenzen hinsichtlich der Festlegung des Rentenalters keinesfalls gegen die Bestimmungen des EWG-Vertrags über die soziale Sicherheit der Arbeitnehmer verstossen, die nicht die Harmonisierung, sondern die Koordinierung der nationalen Rechtsvorschriften bezwecken.
13. Die Fragen des Sozialgerichts könnten jedoch implizit diejenige nach der Gültigkeit der Verordnung Nr. 1408/71 umfassen, soweit diese Verordnung dadurch, daß sie ihre Bestimmungen an die Stelle der zwischen den Mitgliedstaaten geschlossenen internationalen Abkommen gesetzt hat, einen Eingriff in das Eigentumsrecht und das Recht auf Freizuegigkeit darstellen könnte, da sich die Stellung von Herrn Rönfeldt unter der Geltung dieser Verordnung letztlich als ungünstiger erweist, als sie es bei Anwendung des deutsch-dänischen Abkommens gewesen wäre.
14. Zunächst ist festzustellen, daß Sie die Anwendung des Artikels 6 der Verordnung Nr. 1408/71, der die Ersetzung der Abkommen über soziale Sicherheit zwischen Mitgliedstaaten durch diese Verordnung vorsieht, auch dann für zwingend angesehen haben, wenn sich daraus für den betreffenden Arbeitnehmer eine ungünstigere Stellung ergibt (4). Damit ist meines Erachtens jeder Zweifel über die Tragweite dieser Verordnung ausgeräumt.
15. Ist aber diese Folge mit den vom Sozialgericht angeführten Grundsätzen der Freizuegigkeit und der Beachtung des Eigentumsrechts vereinbar?
16. Soweit es um die Berufung auf die Beachtung des Eigentumsrechts geht, braucht diese Frage meines Erachtens nur sehr kurz geprüft zu werden. Die Situation desjenigen, dessen Eintritt in das Rentenalter bevorsteht, kann nämlich keinesfalls der eines Eigentümers gleichgestellt werden. Allenfalls könnte sich die Frage nach der Rechtsstellung desjenigen stellen, der bereits eine Altersrente erhält und dessen Ansprüche durch Änderungen, wie sie infolge der Verordnung Nr. 1408/71 eingetreten sind, beeinträchtigt werden. Es genügt die Feststellung, daß sich im vorliegenden Fall diese Konsequenz jedenfalls nicht aus der zu prüfenden Verordnung ergibt.
17. Soweit ein Verstoß gegen das Recht auf Freizuegigkeit geltend gemacht wird, sind umfangreichere Ausführungen erforderlich. Unbestreitbar stellt der Verlust von Vorteilen, die einem Arbeitnehmer aus internationalen Abkommen zwischen Mitgliedstaaten zustehen, eine Konsequenz aus Artikel 6 der Verordnung Nr. 1408/71 dar. Diese Situation könnte nun aber Anlaß dazu geben, sich hier von den Grundsätzen leiten zu lassen, die Sie im Urteil Petroni (5) aufgestellt haben, indem Sie festgestellt haben, daß diese Verordnung ungültig ist, soweit ihre Bestimmungen zu einem Verlust von sozialversicherungsrechtlichen Vorteilen für die Arbeitnehmer führen, die ihnen jedenfalls nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats zustehen.
18. So bestechend diese Parallele auf den ersten Blick auch erscheinen mag, sie kann meines Erachtens im vorliegenden Fall doch nicht gezogen werden. Denn zum einen haben Sie im Urteil Walder (6) ausgeführt, daß die Ersetzung der bestehenden internationalen Abkommen durch die Verordnung Nr. 1408/71 selbst dann zwingend ist, wenn sie weniger günstige Folgen für den Arbeitnehmer haben würde; dabei haben Sie keinerlei Andeutung gemacht, die darauf schließen lassen könnte, daß Sie der Ansicht seien, eine solche Konsequenz beeinträchtige insoweit die Gültigkeit der Verordnung. Vor allem besteht aber ein grundlegender Unterschied zwischen dem Fall, in dem die Anwendung der Verordnung zu einer weniger günstigen Situation als der führt, in der sich der Arbeitnehmer bei Anwendung allein des nationalen Rechts befunden hätte, und dem Fall, in dem die Anwendung der Verordnung zu einer weniger günstigen Situation als der führt, die sich aus einem internationalen Abkommen ergibt.
19. Im ersten Fall werden nämlich die Arbeitnehmer, die von ihrem Recht auf Freizuegigkeit Gebrauch machen, gegenüber der Situation bestraft, in der sie sich befunden hätten, wenn auf sie allein die nationalen Rechtsvorschriften Anwendung gefunden hätten. In diesem Fall "((würde)) der Zweck der Artikel 48 bis 51 ... verfehlt, wenn die Arbeitnehmer, die von ihrem Recht auf Freizuegigkeit Gebrauch gemacht haben" (7), weniger günstig gestellt wären, als wenn sie von diesem Recht keinen Gebrauch gemacht hätten.
20. Dagegen führt im zweiten Fall die Nichtanwendbarkeit des internationalen Abkommens keineswegs zu einer Bestrafung des Arbeitnehmers, der im Gegensatz zu der Situation, in der er sich befunden hätte, wenn für ihn allein sein nationales Recht weitergegolten hätte, von seinem Recht auf Freizuegigkeit tatsächlich Gebrauch gemacht hat. Das bedeutet konkret, daß seine Ansprüche gegenüber denen, die durch die Anwendung allein der nationalen Rechtsvorschriften begründet worden wären, nicht geschmälert sind. Wie die Kommission zu Recht ausführt, wird dem Kläger im vorliegenden Fall kein nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats erworbener Leistungsanspruch genommen.
21. Dementsprechend schlage ich Ihnen vor, wie folgt für Recht zu erkennen:
1) Für die Feststellung, ob nach der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates Ansprüche begründet sind, sind alle Versicherungszeiten zu berücksichtigen, die nach den Rechtsvorschriften des Königreichs Dänemark vor dem Zeitpunkt der Anwendung dieser Verordnung im Gebiet dieses Mitgliedstaats zurückgelegt wurden.
2) Die Prüfung des Artikels 6 der Verordnung Nr. 1408/71 hat nichts ergeben, was seine Gültigkeit beeinträchtigen könnte.
(*) Originalsprache: Französisch.
(1) Vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern ((Kodifizierte Fassung im Anhang der Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983, ABl. L 230, S. 6)).
(2) Urteil vom 5. Juli 1988 in der Rechtssache 21/87, Borowitz, Slg. 1988, 3715, Randnr. 23; siehe auch Urteil vom 12. Juli 1979 in der Rechtssache 266/78, Brunori, Slg. 1979, 2705; Urteil vom 12. Juni 1980 in der Rechtssache 733/79, Laterza, Slg. 1980, 1915; und Urteil vom 9. Juli 1980 in der Rechtssache 807/79, Gravina, Slg. 1980, 2205.
(3) Urteil vom 15. Januar 1986 in der Rechtssache 41/84, Pinna, Slg. 1986, 1, Randnr. 20.
(4) Urteil vom 7. Juni 1973 in der Rechtssache 32/72, Walder, Slg. 1973, 599.
(5) Urteil vom 21. Oktober 1975 in der Rechtssache 24/75, Slg. 1975, 1149.
(6) Rechtssache 32/72, a. a. O.
(7) Rechtssache 24/75, a. a. O.
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