E-5822/2008 - Abteilung V - Vollzug der Wegweisung - Wegweisung und Wegweisungsvollzug; Verfügung des B...
Karar Dilini Çevir:
E-5822/2008 - Abteilung V - Vollzug der Wegweisung - Wegweisung und Wegweisungsvollzug; Verfügung des B...
Bundesverwaltungsgericht
Tribunal administratif fédéral
Tribunale amministrativo federale
Tribunal administrativ federal
Abteilung V
E-5822/2008
Urteil vom 17. Februar 2011
Besetzung Richterin Christa Luterbacher (Vorsitz),
Richter Hans Schürch, Richterin Emilia Antonioni,
Gerichtsschreiberin Gabriela Oeler.
Parteien A._______,
B._______,
C._______,
alle Kamerun,
vertreten durch Christian Hoffs, […],
Beschwerdeführende,
gegen
Bundesamt für Migration (BFM), Quellenweg 6, 3003 Bern,
Vorinstanz.
Gegenstand Vollzug der Wegweisung; Verfügung des BFM vom
13. August 2008 / N XXX XXX.
E-5822/2008
Seite 2
Sachverhalt:
A.
Die Beschwerdeführerin, eine kamerunische Staatsangehörige der Ethnie
D._______ aus E._______, gelangte am 17. November 2006 auf dem
Luftweg in die Schweiz. Noch gleichentags suchte sie in Zürich-Flughafen
um Asyl nach. Am 19. November 2006 wurde sie im Flughafen in
Anwesenheit einer Mitarbeiterin für Jugend- und Berufsberatung zu ihren
Ausreisegründen befragt. Dabei gab sie im Wesentlichen zu Protokoll, sie
sei noch minderjährig (15 Jahre und 10 Monate alt) und bei ihrer Mutter
aufgewachsen. Sie habe keine Schulen besucht, sondern zusammen mit
der Mutter auf der Plantage des Grossvaters gearbeitet. Eines Tages
habe die Mutter ihr den leiblichen Vater vorgestellt und gefragt, ob sie mit
diesem in sein Dorf gehen möchte. Sie habe eingewilligt und in der
Folgezeit für einige Wochen bei diesem gewohnt. Da ihr Vater sie jedoch
habe zwingen wollen, den Chef des Dorfes zu heiraten, sei sie
schliesslich wieder von dort fortgelaufen und zu einer Verwandten
gegangen. Für die geplante Heirat sei ihr zuvor eine Identitätskarte mit
falschem Zivilstand (verheiratet) und falscher Berufstätigkeit (Hausfrau)
ausgestellt worden. Der Anwalt der Mutter habe die Polizei bestochen,
damit sie ohne Pass habe reisen können.
Die Beschwerdeführerin trug diverse Unterlagen auf sich, die sie vom Anwalt ihrer Mutter erhalten habe,
darunter einen Mitgliederausweis einer "Human Rights Depence Group", bei welchem es sich laut
Urkundenlabor der Kantonspolizei Zürich um eine Totalfälschung handle, einen Haftbefehl und ein
Anwaltsschreiben, wonach die Beschwerdeführerin auf Veranlassung ihres Vaters der
Genitalbeschneidung hätte unterworfen werden sollen und dieser aufgrund ihrer Flucht einen Haftbefehl
erwirkt habe. Zudem reichte die Beschwerdeführerin die oben erwähnte Identitätskarte sowie einen
Geburtsschein zu den Akten.
B.
Mit Verfügung vom 21. November 2006 wurde der Beschwerdeführerin
die Einreise in die Schweiz gestützt auf Art. 23 Abs. 4 des Asylgesetzes
vom 26. Juni 1998 (AsylG, SR 142.31) zur Prüfung des Asylgesuches
bewilligt.
C.
Aufgrund des äusseren Erscheinungsbildes, welches laut BFM nicht
demjenigen einer Minderjährigen entsprach, ordnete das BFM eine
radiologische Knochenaltersanalyse an. Gemäss Bericht des diese
Analyse nach Greulich und Pyle durchführenden Kantonsspitals
F._______ vom
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30. November 2006 wies die Beschwerdeführerin im damaligen Zeitpunkt
ein Knochenalter von mindestens 18 Jahren – bei ein möglichen
doppelten Standardabweichung von 22,4 Monaten – auf.
D.
Am 4. Dezember 2006 wurde die Beschwerdeführerin im Empfangs- und
Verfahrenszentrum (EVZ) Kreuzlingen summarisch zu ihrem Asylgesuch
befragt. Dabei gab sie zu Protokoll, ihr Vater habe sie zu sich ins Dorf
geholt, damit sie den Dorfchef heirate. Dieser Chef, welcher schon viele
Frauen gehabt habe, habe ihrem Vater für die Heirat Land versprochen.
Sie habe sich dagegen ausgesprochen, diesen alten Mann zu heiraten,
habe jedoch keine Unterstützung erhalten und Rituale im Vorfeld der
Heirat mitmachen müssen. Unter anderem habe sie Blut zu einem
Schrein bringen und einen Eid leisten müssen, dass sie die
Dorfbevölkerung (hinsichtlich der Heirat) nicht enttäusche. Auch sei ihre
Beschneidung geplant gewesen, doch sei diese dank ihrer Menstruation
für ein paar Tage aufgeschoben worden. Sie habe gesehen, wie zwei
ihrer Freundinnen beschnitten worden seien und gelitten hätten. Sie habe
deshalb im Haus des Vaters ihre Dokumente geholt und sei zu ihrer
Mutter geflohen, wo sie eineinhalb Tage später angekommen sei. Diese
habe sie bei einer Bekannten versteckt und ihren Anwalt konsultiert,
welcher sie mit diversen Dokumenten, die sie abgegeben habe, deren
Inhalt sie jedoch nicht kenne, ausgestattet und auf die Reise geschickt
habe. Zirka zwei bis drei Wochen nach ihrer Rückkehr nach E._______
habe sie das Land verlassen. Wer ihre Reise in die Schweiz bezahlt
habe, wisse sie nicht. Sie sei auf illegalem Weg ins Flugzeug gelangt und
habe so keinen Pass benötigt.
E.
Am 6. Dezember 2006 wurde der Beschwerdeführerin das Resultat der
Knochenaltersanalyse mitgeteilt und es wurde ihr dazu das rechtliche
Gehör gewährt. Das BFM teilte ihr mit, aufgrund des Erscheinungsbildes,
des Verhaltens, der Verbreitung von gefälschten Dokumenten in
Kamerun, der ungenauen Angaben zu den Familienverhältnissen und der
Knochenaltersanalyse gehe es fortan von der Volljährigkeit der
Beschwerdeführerin aus. Dies habe zur Folge, dass es auf die
Beiordnung einer Vertrauensperson für Minderjährige verzichten dürfe.
Die Beschwerdeführerin hielt trotz der Vorhaltungen an der von ihr
angegebenen Minderjährigkeit fest.
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Seite 4
F.
Mit Verfügung des BFM vom 18. Januar 2007 wurde die
Beschwerdeführerin für die Dauer des Asylverfahrens dem Kanton
G._______ zugewiesen.
G.
Am 4. und 20. April 2007 wurde die Beschwerdeführerin von der
zuständigen Behörde des Kantons G._______ zu ihrem Asylgesuch
angehört. Hauptsächlicher Gegenstand der Anhörung waren nochmals
die Rituale im Zusammenhang mit der geplanten Heirat, die
Fluchtumstände und die Ausreise. Für die betreffenden Aussagen wird
auf die Akten verwiesen. Thematisiert wurde des Weiteren die
zwischenzeitliche Einweisung der Beschwerdeführerin in eine
psychiatrische Klinik. Die Beschwerdeführerin machte sodann geltend,
sie habe inzwischen vom Tod ihrer Mutter erfahren. Deren Leichnam sei
mit gebrochenem Genick im Busch gefunden worden. Sie sei aufgrund
dieser Nachricht sehr durcheinander gewesen. Nun habe sie niemandem
mehr im Heimatland, da sie ja nicht zu ihrem Vater zurückkehren könne.
H.
Am [Datum] gebar die Beschwerdeführerin in der Schweiz ihren Sohn
B._______.
I.
Am 7. April 2008 wurde betreffend die Herkunft der Beschwerdeführerin
eine Sprachanalyse, ein sogenanntes Lingua-Gutachten, erstellt. Dieses
ergab, dass die Beschwerdeführerin mit Sicherheit aus Kamerun stamme.
J.
Am 23. Juli 2008 wurde die Beschwerdeführerin vom BFM gestützt auf
Art. 41 Abs. 1 AsylG ein weiteres Mal angehört. Für die diesbezüglichen
Aussagen wird ebenfalls auf die Akten verwiesen.
K.
Mit Verfügung vom 13. August 2008 lehnte das BFM das Asylgesuch der
Beschwerdeführerin und ihres Kindes ab und verfügte deren Wegweisung
aus der Schweiz samt Vollzug. Zur Begründung führte es an, die
Vorbringen der Beschwerdeführerin vermöchten den Anforderungen an
die Glaubhaftigkeit gemäss Art. 7 AsylG nicht zu genügen. Sodann sei
der Wegweisungsvollzug als zulässig, zumutbar und möglich zu erachten.
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Seite 5
L.
Mit Eingabe vom 11. September 2008 an das Bundesverwaltungsgericht
erhob der Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin Beschwerde gegen
die BFM-Verfügung vom 13. August 2008. Er beantragte die Aufhebung
der Dispositivziffern 4 und 5, die Feststellung der Unzumutbarkeit des
Wegweisungsvollzugs und die Anordnung der vorläufigen Aufnahme. Auf
die detaillierte Begründung der Beschwerde wird in den nachfolgenden
Erwägungen eingegangen. In verfahrensrechtlicher Hinsicht ersuchte die
Beschwerdeführerin unter Beilage einer Bestätigung betreffend
Sozialhilfeunterstützung um Gewährung der unentgeltlichen
Prozessführung gemäss Art. 65 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom
20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren (VwVG, SR
172.021). Der Beschwerde lag ein Arztbericht bei, welchem zu
entnehmen ist, dass die Beschwerdeführerin mit dem HI-Virus infiziert sei
und an einer posttraumatischen Belastungsstörung mit Angst und
psychotischen Symptomen leide. Die Beschwerdeführerin sei deswegen
vom 14. Februar 2007 bis 14. März 2007 in der Psychiatrischen Klinik
H._______ hospitalisiert gewesen. Ausserdem wurde eine Erklärung
betreffend Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht eingereicht.
M.
Mit Instruktionsverfügung vom 17. September 2008 teilte die zuständige
Instruktionsrichterin der Beschwerdeführerin mit, durch die blosse
Teilanfechtung der Verfügung vom 13. August 2008 seien die Ziffern 1 –
3 des Dispositivs in Rechtskraft erwachsen. Gegenstand des Verfahrens
sei somit einzig die Frage der Rechtmässigkeit des angeordneten
Wegweisungsvollzugs. Weiter hiess die Instruktionsrichterin das Gesuch
um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung gut und verzichtete
auf die Erhebung eines Kostenvorschusses. Das Gericht überwies die
Beschwerde samt Beweismittel dem BFM zur Vernehmlassung.
N.
In seiner Vernehmlassung vom 25. September 2008 beantragte das BFM
die Abweisung der Beschwerde. Zur Begründung führte es aus, die
Erkrankungen der Beschwerdeführerin stünden einem
Wegweisungsvollzug nicht entgegen, da sowohl die HIV-Infektion als
auch die psychologischen Probleme in Kamerun behandelt werden
könnten. Offenbar werde die Beschwerdeführerin gegenwärtig ohnehin
nicht psychologisch betreut. Die Medikamente für die antivirale Therapie
zur Bekämpfung des HI-Virus würden zudem vom Heimatstaat
subventioniert und seien daher für die Bevölkerung erschwinglich.
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O.
Mit Eingabe vom 27. November 2008 nahm der Rechtsvertreter Stellung
zur Vernehmlassung der Vorinstanz. Er bestritt, dass die
Beschwerdeführerin keiner psychogischen Betreuung bedürfe, befinde
sie sich doch seit dem 18. September 2008 in fürsorgerischem
Freiheitsentzug in der Psychiatrischen Klinik H._______. Dem
beigelegten Arztbericht der Klinik, datierend vom 18. November 2008, ist
zu entnehmen, dass die Beschwerdeführerin an einer posttraumatischen
Belastungsstörung mit akuter Suizidalität, dissoziativen Zuständen und
psychotischen Symptomen leide. Aufgrund der erneuten
Schwangerschaft habe zudem die Basismedikation der Psychopharmaka
abgesetzt werden müssen.
P.
Am 27. November 2008 ging beim Bundesverwaltungsgericht ein Bericht
der Kantonspolizei G._______ ein, welchem zu entnehmen ist, dass
gegen die Beschwerdeführerin wegen Verdachts auf Kokainhandel
ermittelt wird.
Q.
Das Bundesverwaltungsgericht lud das BFM mit Instruktionsverfügung
vom 10. Dezember 2008 ein, zur Replik des Rechtsvertreters und dem
eingereichten Bericht der Psychiatrischen Klinik H._______ Stellung zu
nehmen.
R.
In seiner Vernehmlassung vom 8. Januar 2009 teilte das BFM mit, die
Beschwerdeführerin sei gemäss Akten in ein Strafverfahren involviert und
laut der Strafverfolgungsbehörde stehe fest, dass gegen sie Anklage
wegen Mithilfe beim Verkauf von zwei Kilogramm Kokain erhoben werde.
Gegenwärtig sei somit fraglich, ob die Beschwerdeführerin überhaupt
Unzumutbarkeitsgründe nach Art. 83 Abs. 4 des Bundesgesetzes vom
16. Dezember 2005 über die Ausländerinnen und Ausländer (AuG, SR
142.20) anrufen könne oder ob nicht vielmehr die Ausschlussklausel von
Art. 83 Abs. 7 Bst. b AuG zur Anwendung kommen würde. Weiter führte
das BFM aus, der Kindsvater des noch nicht geborenen Kindes der
Beschwerdeführerin sei ebenfalls kamerunischer Staatsangehöriger.
Dessen Wegweisung sei seit dem 25. Juni 2008 rechtskräftig. Die
Beschwerdeführerin könne somit mit dem Kindsvater nach Kamerun
zurückkehren. Das Bundesverwaltungsgericht räumte dem
Rechtsvertreter mit Instruktionsverfügungen vom 28. Januar 2009 und 10.
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Februar 2009 Gelegenheit ein, zur Vernehmlassung der Vorinstanz
Stellung zu nehmen.
S.
Mit Eingabe vom 12. März 2009 nahm der Beschwerdeführer zur
Vernehmlassung der Vorinstanz Stellung. Dabei wies er vorab darauf hin,
dass er aufgrund laufender Ermittlungen seitens der
Strafverfolgungsbehörden keine Akteneinsicht in die Strafakten erhalten
habe. Sodann reichte er einen ärztlichen Bericht der Psychiatrischen
Klinik H._______ vom 11. März 2009 zu den Akten. Diesem ist zu
entnehmen, dass die Beschwerdeführerin am 18. September 2007 (recte:
2008) erneut habe hospitalisiert werden müssen und die Hospitalisierung
immer noch andaure. Die Beschwerdeführerin leide immer wieder an
dissoziativen Zuständen mit akuter Suizidalität, psychotischem Erleben
(Halluzinationen), schweren Angstzuständen und erheblichen
Schlafstörungen mit Albträumen. Als psychotisches Erleben trete bei der
Beschwerdeführerin vor allen Dingen eine optische Halluzination auf,
wobei sie ihren Vater sehe, der sie jeweils mit einem Messer bedrohe.
Durch den Abbruch der Psychopharmakotherapie (wegen
Schwangerschaft) sei es zu einer Verschlechterung der psychischen
Situation gekommen. Für den Zeitpunkt nach der Stabilisierung der
Situation sei die Entlassung aus der Klinik und der Übertritt in ein stabiles
soziales Umfeld, konkret das [soziale Institution], geplant. In dieser
Behandlungsphase müsse dann eine ambulante psychotherapeutische
Behandlung (mindestens einmal pro Woche) erfolgen; die
Psychopharmakatherapie müsse weitergeführt werden.
T.
Am [Datum] gebar die Beschwerdeführerin die Tochter C._______.
U.
Am 15. Juni 2009 wurde die Beschwerdeführerin in nicht ansprechbarem
Zustand aufgefunden und wegen Verdachts auf Intoxikation mit einem
Beruhigungsmittel notfallmässig im Spital I._______ hospitalisiert. Die
Beschwerdeführerin wurde in der Folge wegen möglicher akuter
Suizidalität unter Anordnung des Fürsorgerischen Freiheitsentzuges in
die Psychiatrische Klinik H._______ verlegt.
V.
Mit Entscheid des [Gerichts] vom 28. Oktober 2009 wurde die
Beschwerdeführerin wegen Verkaufs von insgesamt einem Kilo Kokain
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des Verbrechens gegen das Betäubungsmittelgesetz schuldig erklärt. Sie
wurde zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe von 3 Jahren (davon
unbedingt ein Jahr) verurteilt. Das Amt J._______ des Kantons
G._______ forderte die Beschwerdeführerin in der Folge zum Strafantritt
per 9. November 2009 zusammen mit ihren Kindern auf.
W.
Mit Verfügung vom 16. November 2009 ordnete das Amt J._______ des
Kantons G._______ einen Strafunterbruch aus gesundheitlichen Gründen
an. Am 11. November 2009 wurde die Beschwerdeführerin vom
Gefängnisarzt als nicht hafterstehungsfähig beurteilt. Der Aufenthalt der
Beschwerdeführerin und ihrer Kinder in [Gefängnis K._______] wurde
deshalb am 12. November 2009 unterbrochen und die
Beschwerdeführerin wurde zusammen mit ihren Kindern wieder in der
[soziale Institution] untergebracht. Der Gefängnisarzt beurteilte die
Beschwerdeführerin laut Verfügung als ausgeprägt teilnahmslos,
antriebslos, affektverflacht und depressiv mit latenten Sterbewünschen.
Eine akute Suizidalität bestehe aktuell zwar nicht, die Situation sei jedoch
instabil. Die Beschwerdeführerin sei mit der Situation überfordert und
trotz Unterstützung durch das Personal gegenwärtig nicht in der Lage,
selbständig zu den Kindern zu schauen. Die Fortsetzung des
Strafvollzugs sei anzugehen, sobald sich die Lage der
Beschwerdeführerin stabilisiert habe und für die Kinder eine
angemessene Betreuungsmöglichkeit habe gefunden werden können.
Eine Verbüssung der Strafe in [Gefängnis K._______] sei nicht mehr
möglich.
X.
Am 18. Dezember 2009 informierte der Rechtsvertreter der
Beschwerdeführerin unter Beilage eines Berichtes der Psychiatrischen
Klinik H._______ vom 14. Dezember 2009 über die jüngsten Ereignisse
seit dem Haftunterbruch. Gemäss dem Bericht befindet sich die
Beschwerdeführerin seit dem 11. Dezember 2009 wieder in der
Psychiatrischen Klinik H._______, nachdem es zuvor auf dem Bahnhof
L._______ zu Zwischenfällen gekommen war, aufgrund derer Passanten
die Rettung alarmiert hätten. Unter anderem habe sich die
Beschwerdeführerin, die in Begleitung eines ihrer Kinder gewesen sei,
aufs Bahngeleise gelegt und habe nur mit vereinten Kräften in den
Rettungswagen verbracht werden können. Am 12. Dezember 2009 habe
die Beschwerdeführerin im geschlossenen Bereich der Akutstation
versucht, sich mit einem Stromkabel an einem WC-Spülkasten zu
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strangulieren. Die Beschwerdeführerin sei danach nicht ansprechbar und
in einem dissoziativen Zustand gewesen. Sie sei in der Folge mittels
Fixation, Isolation und medikamentöser Sedation zwangsbehandelt
worden. Dem Klinikbericht ist zu entnehmen, dass die
Beschwerdeführerin bereits achtmal in der Klinik habe hospitalisiert
werden müssen, zumeist wegen dissoziativen Zuständen. In solchen
Zuständen sei die Beschwerdeführerin nicht mehr in der Lage, sich um
die Kinder zu kümmern, was sie sonst laut dem Referenten des [soziale
Institution] sehr gewissenhaft tue. Der Eingabe lag erneut eine Erklärung
betreffend Entbindung vom Arztgeheimnis bei.
Y.
Am 29. Januar 2010 setzte die Beschwerdeführerin den Strafvollzug –
erst im [Gefängnis M._______], danach in [Gefängnis K._______] – ohne
ihre Kinder fort.
Z.
Am 8. Juni 2010 reichte der Rechtsvertreter zwei ärztliche Berichte sowie
zwei Meldungen (Todesanzeige, Spitalbescheinigung) betreffend den Tod
des Lebensgefährten der Beschwerdeführerin und Vaters ihrer Tochter zu
den Akten. Den Arztberichten ist einerseits zu entnehmen, dass die
Beschwerdeführerin zwischen dem 14. und dem 24. März 2010 wegen
Verschlechterung des Allgemeinzustandes, mutistischen Zustandsbildes
und Suizidgedanken im [Spital] hospitalisiert gewesen sei. Dem Bericht
des [ärztlichen Dienstes] vom 20. April 2010, wo die Beschwerdeführerin
seit dem Übertritt in [Gefängnis K._______] bei Bedarf betreut wurde, ist
zu entnehmen, dass sich das Befinden der Beschwerdeführerin erneut
krisenhaft zugespitzt habe. Die Beschwerdeführerin sei schwer
niedergestimmt, nicht auslenkbar und apathisch. Sie gebe an, die
Stimmen des Partners und der verstorbenen Mutter zu hören. Sie leide
unter Ängsten, vom Geist des Partners heimgesucht zu werden. Ihre
Situation als alleinstehende, von der Ausweisung bedrohte, psychisch
und physisch kranke Frau sehe sie als hoffnungslos an. Die
Beschwerdeführerin benötige tägliche psychiatrische Visiten und
aufgrund der diversen Suizidversuche (der Bericht nennt einen in den
Akten bisher unerwähnt gebliebenen Suizidversuch im Spital I._______
sowie die Flucht aus der Klinik H._______ mit einem Messer und das
rechtzeitige Auffinden der Beschwerdeführerin) ein umfassendes
Monitoring. Dies könne in [Gefängnis K._______] trotz
überdurchschnittlichem Engagement aller Beteiligten nicht gewährleistet
werden. Eine Einweisung in eine psychiatrische Klinik sei aus
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psychiatrischer Sicht dringend erforderlich. Eine Fortsetzung der Haft –
selbst im Anschluss an den Aufenthalt in der Klinik – sei nicht zumutbar,
da eine stabile Besserung der gesundheitlichen Situation in absehbarer
Zeit nicht zu erwarten sei. Zudem sei die instabile Lebenssituation auch
für die Kinder eine nicht zumutbare Belastung. Der Rechtsvertreter
bezeichnete den Wegweisungsvollzug der Beschwerdeführerin und ihrer
Kinder unter Hinweis auf diesen Arztbericht als weiterhin unzulässig und
unzumutbar.
AA.
Mit Instruktionsverfügung vom 18. Juni 2010 wurde das BFM unter
Hinweis auf die eingereichten Arztberichte erneut zur Stellungnahme
eingeladen. Zudem wurde der Rechtsvertreter zum Einreichen einer
Kostennote aufgefordert.
BB.
Gemäss Auskunft der Amtsvormundschaft M._______ gegenüber dem
BFM wurde der Beschwerdeführerin die Obhut über ihre Kinder entzogen
und es wurde eine Fremdplazierung der Kinder angeordnet sowie eine
Beistandschaft errichtet.
CC.
Am 30. Juni 2010 reichte der Rechtsvertreter eine Kostennote zu den
Akten.
DD.
Mit Entscheid vom 19. Juli 2010 zog das BFM seine Verfügung vom
13. August 2008 teilweise in Wiedererwägung und verfügte hinsichtlich
der beiden Kinder der Beschwerdeführerin wegen Unzumutbarkeit des
Wegweisungsvollzugs die vorläufige Aufnahme. Die Beschwerdeführerin
betreffend hielt das BFM unter Verweis auf Art. 87 Abs. 7 Bst. a AuG
ausdrücklich am Vollzug der Wegweisung fest. Das BFM begründete die
vorläufige Aufnahme der Kinder damit, dass infolge wiederholter
Unfähigkeit der Beschwerdeführerin, für ihre Kinder zu sorgen, ihr das
Obhutsrecht für die beiden Kinder zu deren Schutz habe entzogen
werden müssen.
EE.
Mit Eingabe vom 23. Juli 2010 hielt der Rechtsvertreter an der
Unzumutbarkeit und Unzulässigkeit des Wegweisungsvollzuges der
Beschwerdeführerin fest. Er machte geltend, ein Wegweisungsvollzug der
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Beschwerdeführerin nach Kamerun bei gleichzeitigem Verbleib der
Kinder in der Schweiz als vorläufig Aufgenommene verletze Art. 8 der
Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte
und Grundfreiheiten (EMRK, SR 0.101), da Mutter und Kinder mit an
Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit für immer getrennt würden. Die
Beschwerdeführerin habe ein fortgesetztes Interesse an einer Beziehung
zu ihren Kindern. Der momentane Entzug der Obhutspflicht sei ein
Ergebnis der schweren Erkrankung der Beschwerdeführerin. Eine
dauerhafte Trennung von ihren Kindern sei für die Beschwerdeführerin
undenkbar. Die Beschwerdeführerin habe mit dem Tod ihres Partners
und Vater der Tochter erst vor kurzem eine wichtige Bezugsperson
verloren. Eine Selbsttötung der Beschwerdeführerin sei bisher nur durch
ein ausserordentlich engmaschiges Betreuungsnetz verhindert worden.
Es müsse prognostiziert werden, dass eine Rückkehr nach Kamerun,
zudem ohne Kinder, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit
zum leidvollen Tod der Beschwerdeführerin führen würde. Gemäss
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
(EGMR) sei der Wegweisungsvollzug somit auch als gegen Art. 3 EMRK
verstossend zu erklären.
FF.
Mit Schreiben vom 2. November 2010 ersuchte das [Amt G._______] das
Bundesverwaltungsgericht um prioritäre Behandlung der Beschwerde und
verwies darauf, dass die Beschwerdeführerin am 21. Januar 2011 aus
dem Strafvollzug entlassen werde.
GG.
Mit Eingabe vom 9. Februar 2011 reichte der Rechtsvertreter den
Austrittsbericht der Psychiatrischen Klinik H._______ vom 24. Januar
2011 zu den Akten. Aus dem Bericht geht hervor, dass die
Beschwerdeführerin angesichts ihrer instabilen Verfassung mit
fluktuierender Suizidalität während des Strafvollzuges am 7. Mai 2010,
namentlich nach dem Tod des Lebenspartners, eine verstärkte
Suizidalität gezeigt habe und hospitalisiert werden musste; der Aufenthalt
in der Klinik dauerte bis zum 21. Januar 2011 an. Gemäss den ärztlichen
Ausführungen benötigt die Beschwerdeführerin nach Entlassung aus der
stationären psychiatrischen Behandlung weiterhin Medikamente sowie
ambulante psychiatrische Betreuung.
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Das Bundesverwaltungsgericht zieht in Erwägung:
1.
1.1. Gemäss Art. 31 des Verwaltungsgerichtsgesetzes vom 17. Juni 2005
(VGG, SR 173.32) beurteilt das Bundesverwaltungsgericht Beschwerden
gegen Verfügungen nach Art. 5 VwVG. Das BFM gehört zu den
Behörden nach Art. 33 VGG und ist daher eine Vorinstanz des
Bundesverwaltungsgerichts. Eine das Sachgebiet betreffende Ausnahme
im Sinne von Art. 32 VGG liegt nicht vor. Das Bundesverwaltungsgericht
ist daher zuständig für die Beurteilung der vorliegenden Beschwerde und
entscheidet auf dem Gebiet des Asyls endgültig (Art. 105 AsylG; Art. 83
Bst. d Ziff. 1 des Bundesgerichtsgesetzes vom 17. Juni 2005 [BGG,
SR 173.110]).
1.2. Das Verfahren richtet sich nach dem VwVG, dem VGG und dem
BGG, soweit das AsylG nichts anderes bestimmt (Art. 37 VGG und Art. 6
AsylG).
1.3. Die Beschwerde ist frist- und formgerecht eingereicht. Die
Beschwerdeführerin hat am Verfahren vor der Vorinstanz teilgenommen,
ist durch die angefochtene Verfügung besonders berührt und hat ein
schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung beziehungsweise
Änderung; sie ist daher zur Einreichung der Beschwerde legitimiert
(Art. 108 sowie 105 AsylG i.V. mit Art. 37 VGG und Art. 48 Abs. 1 und
Art. 52 VwVG). Auf die Beschwerde ist einzutreten.
1.4. Die am [Datum] geborene Tochter C._______ wird in das
vorliegende Verfahren einbezogen.
2.
Mit Beschwerde kann die Verletzung von Bundesrecht, die unrichtige
oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts und
die Unangemessenheit gerügt werden (Art. 106 Abs. 1 AsylG).
3.
Mit Verfügung des BFM vom 13. August 2008 wurde das Asylgesuch der
Beschwerdeführerin abgelehnt und sie sowie ihr Sohn wurden aus der
Schweiz weggewiesen. Die gegen diese Verfügung erhobene
Beschwerde richtet sich einzig gegen die Anordnung des Vollzugs der
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Wegweisung der Beschwerdeführerin und ihres Sohnes beziehungsweise
ihrer (inzwischen) zwei Kinder. Damit sind die Dispositivziffern 1 bis 3 der
Verfügung vom 13. August 2008 betreffend Verneinung der
Flüchtlingseigenschaft, Abweisung des Asyls und Anordnung der
Wegweisung in Rechtskraft erwachsen.
Nachdem das BFM seinen Entscheid vom 13. August 2008 im Rahmen des Vernehmlassungsverfahrens
mit Verfügung vom 19. Juli 2010 hinsichtlich der Kinder teilweise in Wiedererwägung gezogen und deren
vorläufige Aufnahme angeordnet hat, ist die Beschwerde hinsichtlich der Kinder gegenstandslos geworden.
Gegenstand des Verfahrens ist heute demnach einzig die Frage der Rechtmässigkeit des
Wegweisungsvollzuges der Beschwerdeführerin (ohne ihre Kinder).
4.
Lehnt das Bundesamt das Asylgesuch ab oder tritt es darauf nicht ein, so
verfügt es in der Regel die Wegweisung aus der Schweiz und ordnet den
Vollzug an; dabei ist der Grundsatz der Einheit der Familie zu
berücksichtigen (Art. 44 Abs. 1 AsylG). Ist der Vollzug der Wegweisung
nicht möglich, nicht zulässig oder nicht zumutbar, so regelt das
Bundesamt das Anwesenheitsverhältnis nach den gesetzlichen
Bestimmungen über die vorläufige Aufnahme von Ausländern (Art. 44
Abs. 2 AsylG; Art. 83 Abs. 1 AuG). Der Vollzug ist nicht möglich, wenn
der Ausländer oder die Ausländerin weder in den Herkunfts- oder in den
Heimatstaat noch in einen Drittstaat verbracht werden kann. Er ist nicht
zulässig, wenn völkerrechtliche Verpflichtungen der Schweiz einer
Weiterreise der ausländischen Person in ihre Heimat-, Herkunfts- oder
einen Drittstaat entgegenstehen. Der Vollzug kann insbesondere nicht
zumutbar sein, wenn er für den Ausländer oder die Ausländerin eine
konkrete Gefährdung darstellt (Art. 83 Abs. 2-4 AuG).
Die Wegweisungsvollzugshindernisse (Unzulässigkeit, Unzumutbarkeit, Unmöglichkeit) sind alternativer
Natur: Sobald eines von ihnen erfüllt ist, ist der Vollzug der Wegweisung als undurchführbar zu betrachten
und die weitere Anwesenheit in der Schweiz gemäss den Bestimmungen über die vorläufige Aufnahme zu
regeln (vgl. Amtliche Sammlung der Entscheide des Schweizerischen Bundesverwaltungsgerichts [BVGE]
2009/51
E. 5.4).
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Seite 14
5.
5.1. Gemäss Praxis der Strassburger Organe sowie jener des UN-Anti-
Folterausschusses zu Art. 3 EMRK und Art. 1 des Übereinkommens vom
10. Dezember 1984 gegen Folter und andere grausame, unmenschliche
oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (FoK, SR 0.105) müsste die
Beschwerdeführerin eine konkrete Gefahr nachweisen oder glaubhaft
machen, dass ihr im Fall einer Rückschiebung Folter oder unmenschliche
Behandlung drohten. Darunter sind massive Verstösse gegen die
Menschenwürde zu verstehen, d.h. Massnahmen, die den betroffenen
Menschen seelisch und meist auch körperlich schwer treffen (vgl.
Entscheidungen und Mitteilungen der Schweizerischen
Asylrekurskommission [EMARK 2004 Nr. 6, mit weiteren Hinweisen). Der
materielle Schutzbereich des Art. 3 EMRK umfasst auch ausgeprägte
unzulängliche medizinische Bedingungen im potentiellen Zielstaat.
Die Schweizerischen Asylbehörden haben in ihrer bisherigen Praxis gesundheitliche Störungen
Weggewiesener meist nur unter dem Aspekt der Zumutbarkeit eingehender geprüft. Eine Prüfung der
gesundheitlichen Situation unter dem Aspekt von Art. 3 EMRK hat die Schweizerische
Asylrekurskommission (ARK) erstmals in den Entscheiden EMARK 2004 Nr. 6 und 2004 Nr. 7
vorgenommen, wobei sie dort eine Konventionsverletzung in Anlehnung zur Rechtsprechung des EGMR
betreffend Wegweisung von am HI-Virus erkrankten Personen verneint hat. Ein weiteres Mal hat sich die
ARK in EMARK 2005 Nr. 23 einlässlich mit der Frage auseinandergesetzt, wann der Wegweisungsvollzug
eines Asylsuchenden mit gesundheitlichen Problemen einen Verstoss gegen Art. 3 EMRK darstellen kann
(zur Fortsetzung der Rechtsprechung der ARK durch das Bundesverwaltungsgericht vgl. BVGE 2009/12).
Auch da analysierte sie die Rechtsprechung des EGMR zu dieser Fragestellung, wobei sie sich vorab mit
dem Urteil des EGMR vom 2. Mai 1997 in Sachen D. gegen Grossbritannien (Nr. 30240/96) befasste, wo
der Gerichtshof einen Verstoss gegen das Verbot der unmenschlichen Behandlung nach Art. 3 EMRK
festgestellt hat. Der EGMR hatte die Situation eines in der terminalen Phase an AIDS Erkrankten zu
beurteilen, der einer intensiven Pflege bedurfte. Gemäss EGMR hätte der Wegweisungsvollzug nicht nur
seine ohnehin nur noch kurze Lebenserwartung zusätzlich reduziert, sondern auch die Gefahr des Todes
unter extremen physischen und psychischen Leiden bewirkt, zumal der Beschwerdeführer nach seiner
Rückkehr ohne jegliche Unterstützung und Pflege gewesen wäre. Unter diesen gemäss Gericht
aussergewöhnlichen Umständen ("very exceptional circumstances") sei eine Verletzung von Art. 3 EMRK
im Falle des Wegweisungsvollzuges gegeben. In vielen weiteren Fällen, in welchen jeweils
Rückkehrprognosen bei Erkrankungen am HI-Virus zu stellen waren, verneinte der Gerichtshof
demgegenüber wiederholt – unter Hinweis auf die Behandlungsmöglichkeiten im Heimatland, die
Möglichkeit der Rückkehrhilfe, die Dauer der voraussichtlichen Behandlung, das noch nicht fortgeschrittene
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Stadium der Erkrankung, die Anwesenheit von Familienangehörigen etc. – eine entsprechende
Konventionsverletzung.
Im Urteil des EGMR vom 6. Februar 2001 i. S. Bensaid gegen Grossbritannien, Nr. 44599/98, in welchem –
wie vorliegend – die Ausweisung einer psychisch kranken Person nach Algerien zu beurteilen war, führt
der Gerichtshof aus, dass sich zwar kein Anspruch aus Art. 3 EMRK ergebe, in einem Konventionsstaat zu
verbleiben, um weiterhin in den Genuss medizinischer Leistungen dieses Staates zu kommen, dass der
Schutzbereich von Art. 3 EMRK aber grundsätzlich auch dann betroffen sein könne, wenn mangels
angemessener medizinischer Behandlungsmöglichkeiten im Heimat- oder Herkunftsstaat eine
Verschlimmerung eines bereits bestehenden psychischen Leidens der von der Rückschaffung betroffenen
Person zu erwarten wäre, die selbstgefährdende Handlungen dieser Person zur Folge haben könnte. Der
Gerichtshof verneinte eine Konventionsverletzung unter Hinweis auf die hohe Hürde, eine Verletzung von
Art. 3 EMRK zu bejahen, in Fällen, wo die Zufügung von Leid nicht in direkte Verantwortung des die
Wegweisung anordnenden Vertragsstaates falle, sowie mit der Begründung, dass die Behauptung der
unzureichenden medizinischen Versorgung und der beschwerliche Zugang zum Spital aufgrund der
allgemeinen Lage zu spekulativ seien.
Der Gerichtshof weist in seinen Urteilen jeweils auf die hohe Schwelle, eine Verletzung von Art. 3 EMRK
anzunehmen, hin und verlangt, dass im Einzelfall aufgrund einer sorgfältigen Prüfung aller relevanter
Umstände konkret erkennbar sei, dass ein Wegweisungsvollzug mit den Massstäben von Art. 3 EMRK
nicht vereinbar wäre. Er verneint eine Verletzung von Art. 3 EMRK, wenn das Risiko einer wesentlichen
Gesundheitsverschlechterung im Falle einer Rückkehr rein spekulativer Natur ist, ebenso verneint er eine
Verpflichtung aus Art. 3 EMRK, von einem Wegweisungsvollzug allein deshalb Abstand zu nehmen, wenn
jemand mit Suizid drohe. Konkret führte der Gerichtshof im Urteil Dragan und andere gegen Deutschland
(Nr. 33743/03) aus, eine Person, deren Abschiebung angeordnet worden sei, vermöge mit der
Suiziddrohung den Staat nicht zu hindern, den Vollzug durchzuführen, solange dieser konkrete
Massnahmen zwecks Verhütung der Umsetzung der Suiziddrohung treffe. Im gleichen Entscheid führte der
Gerichtshof hinsichtlich der Behauptung, im Heimatland keine angemessene Behandlung der Krankheit
erhalten zu können, aus, es sei – wie schon im erwähnten Fall D. gegen Grossbritannien – eine
eingehende Würdigung aller Begleitumstände des Falles vorzunehmen, insbesondere in Bezug auf die
Situation der betroffenen Person im Abschiebestaat.
Eine Bestätigung seiner Rechtsprechung, wonach nur unter sehr aussergewöhnlichen Umständen eine
Verletzung von Art. 3 EMRK in Fällen der Wegweisung schwerkranker Personen angenommen werden
könne, nahm der EGMR – unter einlässlicher Darstellung seiner Praxis seit dem Entscheid D. gegen
Grossbritannien vom 2. Mai 1997 – im Entscheid der Grossen Kammer N. gegen Grossbritannien vom 27.
Mai 2008 (Nr. 26565/05) vor (vgl. insbesondere Ziffern 32 ff.).
5.2. Auf Beschwerdeebene wird bezüglich der gesundheitlichen Situation
der Beschwerdeführerin unter Hinweis auf die zahlreich eingereichten
spezialärztlichen Berichte geltend gemacht, diese sei seit 2007 wiederholt
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in stationärer psychiatrischer Behandlung gewesen und es sei ihr nicht
gelungen, sich dauerhaft gesundheitlich zu stabilisieren. Die
Beschwerdeführerin habe nicht nur Suizidgedanken geäussert, sondern
konkrete Versuche unternommen, diese zu vollziehen. Einer der
Suizidversuche habe vom behandelnden Arzt nur in letzter Sekunde
vereitelt werden können. Eine Selbsttötung in der Schweiz habe bisher
nur durch ein ausserordentlich engmaschiges Betreuungsnetz verhindert
werden können. Deshalb müsse prognostiziert werden, dass eine
Rückkehr nach Kamerun, zudem ohne Kinder, mit an Sicherheit
grenzender Wahrscheinlichkeit zum Tod der Beschwerdeführerin unter
extremem psychischen Leiden führen würde. Diese Risikoeinschätzung
sei keineswegs spekulativ. Insgesamt sei das Vorliegen
aussergewöhnlicher Umstände im Sinne der Rechtsprechung des EGMR
für die Annahme eines Verstosses gegen Art. 3 EMRK gegeben.
Das Bundesverwaltungsgericht erachtet angesichts der reich dokumentierten Krankheitsgeschichte die
Prognose des Rechtsvertreters für den Fall des Festhaltens der Schweizer Behörden an der
Vollzugsanordnung als durchaus realistisch. Bei der Beschwerdeführerin ist eine Vielzahl von Krankheiten
diagnostiziert worden, welche offensichtlich dazu geführt haben, dass sie ihre Situation heute als derart
hoffnungslos und nicht mehr lebenswert betrachtet: Gemäss dem Arztbericht des [ärztlichen Dienstes] vom
20. April 2010 leidet die Beschwerdeführerin nicht nur hauptsächlich an einer posttraumatischen
Belastungsstörung (PTBS) mit dissoziativen Zuständen, sondern ebenfalls an einer nicht-organischen
psychotischen Störung, einer HIV-Infektion im Stadium A1, einem Status nach Benzodiazepin-
Abhängigkeit, einem Status nach multiplen Suizidversuchen und einem Status nach Hepatitis A und B. Die
Beschwerdeführerin musste in den letzten Jahren in der Schweiz in verschiedenen Institutionen betreut
werden, wobei zeitweilig eine engmaschige psychiatrische Einzelbetreuung notwendig war, um sie wieder
aus ihren dissoziativen Zuständen herauszuholen.
5.3. Nach Konsultation öffentlich zugänglicher Quellen zum
Gesundheitswesen in Kamerun einerseits und der Lage der Frauen
beziehungsweise nicht-verheiraten Mütter andererseits (siehe bspw.
ALEXANDRA GEISER, Kamerun: Sozioökonomische Situation einer
alleinstehenden Frau, Auskunft der SFH-Länderanalyse, Bern 17. Januar
2011; ALEXANDRA GEISER, Kamerun: Psychiatrische Versorgung, Auskunft
der SFH-Länderanalyse, Bern, 9. September 2010; Kamerun,
Gesundheitswesen, Informationszentrum Asyl und Migration, Nürnberg,
Juli 2008; Kamerun, Situation der Frauen und Kinder,
Informationszentrum Asyl und Migration, Nürnberg, Juni 2007, jeweils mit
Quellenangaben) kann nahezu ausgeschlossen werden, dass der
Heimatstaat der Beschwerdeführerin in der Lage wäre, ihr die nötige
infrastrukturelle und persönliche Betreuung für die Behandlung ihrer
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multiplen Leiden, allen voran ihrer PTBS, ihrer psychotischen Störung
und ihrer wiederkehrenden Todessehnsüchte, zu bieten. Zu
berücksichtigen ist auch, dass die Beschwerdeführerin nicht aus einer der
Grossstädte kommt, welche als einzige eine psychiatrische Infrastruktur
aufweisen (Yaoundé und Douala; vgl. Geiser, Kamerun, Psychiatrische
Versorgung, a.a.O., S. 3), sondern aus E._______ stammt. Sie würde
dort auf kein soziales Netz – sofern überhaupt noch vorhanden (vgl. Bst.
G) – zurückgreifen können, welches im Krankheitsfall in Kamerun
offenbar unabdingbar ist.
Wie aus den vorstehend zitierten Quellen hervorgeht, kennt Kamerun weder ein Krankenversicherungs-
noch ein Sozialhilfesystem. Die Kosten für eine angemessene Gesundheitsversorgung sind für viele
KamerunerInnen unbezahlbar. Nur eine von 1000 Personen hat die Mittel, einen Spezialisten zu bezahlen.
Notfall- und Hospitalisierungsmöglichkeiten sind selbst in den Spitälern sehr eingeschränkt. Behandlungen
sowohl von Ärzten als auch in Spitälern erfolgen nur gegen Vorausbezahlung. Notwendige Medikamente
müssen in der Regel von den Familienangehörigen selbst organisiert und finanziert werden. Die
Behandlungsmöglichkeiten von psychischen Krankheiten sind sehr limitiert: Auf 20 Millionen Menschen
kommen fünf Neurologen und drei Psychiater. Psychiatrische und psychologische Behandlungen haben
keine Priorität. Diskriminierung, Marginalisierung und Isolation von psychisch kranken Menschen sind weit
verbreitet, auch in öffentlichen Institutionen. Psychisch Kranke werden immer mehr aus den Familien
verstossen und in Douala ausgesetzt. Es gibt nur zwei staatliche Zentren, in denen psychisch Erkrankte
behandelt werden können, diese befinden sich in den Grossstädten Douala und Yaounde. Alleinstehende
Mütter erhalten vom Staat keinen speziellen Schutz und keine Unterstützung. Neben wirtschaftlichen
Problemen haben unverheiratete Mütter mit Verachtung und Diskriminierung zu kämpfen. Eine HIV-
Diagnose bedeutet ebenfalls in vielen Fällen eine weitere gesellschaftliche Stigmatisierung, was zur Folge
hat, dass Betroffene eine HIV- Behandlung oft erst beginnen, wenn sich die Krankheit in einem
fortgeschrittenen Stadium befindet.
5.4. Angesichts der sich der Beschwerdeführerin präsentierenden Lage
im Falle einer Rückkehr muss in hohem Mass befürchtet werden, dass
sie bei Bestätigung der Vollzugsanordnung erneut versuchen wird, ihrem
Leben ein Ende zu setzen. Dem Entscheid des BFM vom 19. Juli 2010, in
welchem die vorläufige Aufnahme der Kinder angeordnet, gleichzeitig
aber am Vollzug der Wegweisung der Beschwerdeführerin/Mutter
festgehalten wird, ist nicht zu entnehmen, dass sich das BFM mit der
aktuellen gesundheitlichen Lage der Beschwerdeführerin oder den
Behandlungsmöglichkeiten in Kamerun auseinandergesetzt oder dass es
die für den Vollzug in der Rechtsprechung des EGMR geforderten
Massnahmen zur Verhütung eines weiteren Suizidversuchs während der
Ausreise geplant hätte. Das BFM geht offenbar davon aus, sich wegen
der strafrechtlichen Verurteilung der Beschwerdeführerin mit dem
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Verweis auf die Ausnahmeklausel von Art. 83 Abs. 7 Bst. a AuG
begnügen zu können und sich nicht mehr mit der gesundheitlichen
Situation der Beschwerdeführerin, deren Behandlungsmöglichkeiten,
deren sozialem Netz im Heimatland und den Vollzugsbedingungen
auseinandersetzen zu müssen; die vorinstanzlichen Ausführungen lassen
auch eine Verhältnismässigkeitsprüfung gänzlich vermissen.
Das BFM wäre aber gerade im Rahmen einer allfälligen Konventionsverletzung vielmehr zur Prüfung
verpflichtet gewesen, ob die Beschwerdeführerin durch das Festhalten am Wegweisungsvollzug – zumal
nachdem der Wegweisungsvollzug nunmehr ohne die Kinder stattfinden würde – nicht der absehbaren
Gefahr des Todes unter schlimmen Umständen ("most distressing cirmumstances", vgl. EGMR-Urteil D.
gegen Grossbritannien) ausgesetzt wäre, oder ob mit selbstgefährdenden Handlungen aufgrund der
Verschlimmerung eines bereits bestehenden psychischen Leidens (vgl. das erwähnte EGMR-Urteil
Bensaid gegen Grossbritannien) gerechnet werden müsste.
In Würdigung sämtlicher Umstände kommt das Gericht zur Einschätzung, dass der desolate
Gesundheitszustand der Beschwerdeführerin, die unzureichenden und unerschwinglichen psychiatrischen
Behandlungs- und Betreuungsmöglichkeiten, die die Beschwerdeführerin als ledige Mutter und HIV-
Infizierte erwartende Diskriminierung und Stigmatisierung sowie das höchstwahrscheinlich fehlende soziale
Netz (immerhin ist der Tod des vom BFM als Rückkehrbegleiter erwähnten Partners und Kindsvater belegt;
siehe Bst. Z) wahrscheinlich dazu führen würden, dass die Beschwerdeführerin der Verwahrlosung geweiht
wäre und angesichts der zahlreichen Suizidversuche ein weiterer Versuch der Selbsttötung absehbar wäre.
Damit wären aussergewöhnliche Umstände, wie sie vom EGMR im Fall D. gegen Grossbritannien zur
Bejahung einer Verletzung von Art. 3 EMRK geführt haben, sowie schlimme Todesumstände wohl zu
bejahen. Aus nachfolgenden Gründen ist die Frage der Verletzung von Art. 3 EMRK jedoch nicht
abschliessend zu beantworten.
6.
Der vom BFM angeordnete Wegweisungsvollzug der Beschwerdeführerin
bei gleichzeitigem Verbleib der Kinder in der Schweiz ist weiter nämlich
auch unter nachfolgendem Aspekt zu kritisieren:
In EMARK 1995 Nr. 24 hat sich die damalige ARK einlässlich mit dem Begriff der "Einheit der Familie", wie
er heute in Art. 44 Abs. 1 AsylG (früher Art. 17 Abs. 1 aAsylG) figuriert, auseinandergesetzt. Gemäss
diesem Grundsatzentscheid gebietet das Gebot der Familieneinheit, dass Familienmitglieder, allen voran
Eltern und ihre minderjährigen Kinder, nicht voneinander getrennt werden, sondern faktisch zusammen
leben können, und dass der Familie nach Möglichkeit ein einheitlicher Rechtsstatus eingeräumt wird. Dies
hat zur Folge, dass analog zu Art. 3 Abs. 3 AsylG, wo sich die Flüchtlingseigenschaft einer Person auf die
ganze Familie ausdehnt, der Status einer Person, welche vorläufig aufgenommen werde, grundsätzlich
auch auf die Familie ausweitet. Die ARK stellte im genannten Urteil fest, dass der Grundsatz der Einheit
der Familie, wie er im Asylgesetz verwendet werde, nicht – wie dies das Bundesgericht demgegenüber bei
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der Prüfung von aus Art. 8 EMRK fliessenden Ansprüchen auf eine Aufenthaltsregelung voraussetzt – an
ein gefestigtes Anwesenheitsrecht eines Familienangehörigen anknüpft und insofern weiter geht als die
entsprechende bundesgerichtliche Praxis zu Art. 8 EMRK.
Gemäss dem genannten Entscheid sind von dem Grundsatz, dass im Falle der vorläufigen Aufnahme
eines Familienmitgliedes die ganze Familie vorläufig aufzunehmen sei, Ausnahmen denkbar, wobei damals
darauf hingewiesen wurde, dass es an der Praxis sein werde, diese anhand konkreter Fälle zu
konkretisieren.
Der Umstand, dass die Beschwerdeführerin zu einer dreijährigen teilbedingten Haftstrafe wegen
Verstosses gegen das Betäubungsmittelgesetz verurteilt worden ist, wäre grundsätzlich geeignet, die
Rechtsgüterabwägung zu Ungunsten der Beschwerdeführerin ausfallen zu lassen, würde die Verurteilung
doch praxisgemäss ausreichen, um einen Ausschluss von der vorläufigen Aufnahme gestützt auf Art. 83
Abs. 7 Bst. a AuG zu begründen.
Trotz der teilbedingten Haftstrafe der Beschwerdeführerin, welche laut Akten am 21. Januar 2011 endete,
ist das Bundesverwaltungsgericht der Ansicht, dass aufgrund der auf dem Spiel stehenden Interessen,
welche sich insbesondere auch aus Art. 3 des Übereinkommens vom 20. November 1989 über die Rechte
des Kindes (Kinderrechts-Konvention, KRK, SR 0.107) ergeben, eine Güterabwägung nicht zu Ungunsten
der Beschwerdeführerin (und ihrer Kinder) ausfallen kann.
Zwar lässt sich aus der KRK kein gerichtlich durchsetzbarer Anspruch auf Erteilung einer
Aufenthaltsbewilligung ableiten. Nichtsdestotrotz gewährt die KRK den Kindern und Eltern zahlreiche
Rechte und hat bei allen behördlichen Anordnungen das Kindswohl Vorrang. So dürfen Kinder
beispielsweise nur aufgrund einer gerichtlich nachprüfbaren Entscheidung gegen den Willen der Eltern von
diesen getrennt werden. Auch haben sie das Recht, regelmässige persönliche Beziehungen und Kontakte
zu den Elternteilen zu pflegen. Dies hat zur Folge, dass die Vertragsstaaten regelmässige Ein- und
Ausreisen zu diesem Zweck gestatten müssen (vgl. Art. 9 und 10 KRK, REGULA GERBER JENNI,
Kindesschutzmassnahmen bei Kindern einer Mutter, deren Asylgesuch abgewiesen wurde und deren
Wegweisung rechtskräftig geworden ist, in: Zeitschrift für Kindes- und Erwachsenenschutz [ZKE] Nr. 2,
April 2010, S. 110).
Aufgrund der sich aus den Akten ergebenden Gefährdung des Kindswohls nach Verschlimmerung der
gesundheitlichen Situation der Beschwerdeführerin während des Strafvollzugs haben die Behörden zwar
Kindesschutzmassnahmen angeordnet und der Beschwerdeführerin die Obhut – nicht aber die elterliche
Sorge als Ganzes - über die Kinder entzogen. Damit wurde der Beschwerdeführerin (nur) die Möglichkeit
genommen, über den Aufenthaltsort der Kinder zu bestimmen. Aus den Akten geht gleichzeitig hervor,
dass die Beschwerdeführerin jeweils bei Dekompensationen aufgrund ihrer psychischen Erkrankung
(zumeist während dissoziativen Zuständen) nicht in der Lage war, sich um die Kinder zu kümmern, dass
sie sich ansonsten jedoch sehr gewissenhaft um die Kinder gekümmert habe (vgl. A76/1). Zu Recht ist das
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BFM davon ausgegangen, ein Wegweisungsvollzug der Kinder zusammen mit ihrer Mutter würde sie in
eine Situation der konkreten Gefährdung versetzen.
Der Rechtsvertreter macht auf Beschwerdeebene geltend, der Obhutsentzug sei eine Folge der schweren
Erkrankung der Beschwerdeführerin. Für sie sei aber eine dauerhafte Trennung von ihren Kindern
undenkbar.
Dem Rechtsvertreter ist beizupflichten, dass das Festhalten am Wegweisungsvollzug der
Beschwerdeführerin die Folge hätte, dass Mutter und Kinder mit grösster Wahrscheinlichkeit für immer
getrennt würden. Den Akten ist nicht zu entnehmen, dass sich die Vorinstanz hinsichtlich der Vereinbarkeit
dieser Massnahme mit den oben erwähnten, sich aus der KRK, aber auch aus der nationalen
Gesetzgebung (Art. 273 des Schweizerischen Zivilgesetzbuchs vom 10. Dezember 1907 [ZGB, SR 210])
ergebenden Rechten auf persönlichen Verkehr auseinandergesetzt hätte. Bei gegenwärtiger Aktenlage
muss deshalb davon ausgegangen werden, dass ein Wegweisungsvollzug mangels konkreter
vormundschaftsbehördlicher und fremdenpolizeilicher Massnahmen rund um die künftige Ausgestaltung
des persönlichen Verkehrs zwischen Mutter und Kindern mit dem Vorrang des Kindswohls nicht vereinbar
wäre.
Zusammenfassend ist demnach festzuhalten, dass der ohne weitere Ausführungen zur Familieneinheit
einerseits und der Wahrung des persönlichen Verkehrs zu den in der Schweiz verbleibenden Kindern
andererseits angeordnete Wegweisungsvollzug als unzulässig zu erachten ist. Die Verfügung des BFM
vom 13. August 2008 sowie der Wiedererwägungsentscheid vom 19. Juli 2010 – soweit den
Wegweisungsvollzug der Beschwerdeführerin betreffend – sind demnach aufzuheben und das BFM ist
anzuweisen, die Beschwerdeführerin – wie bereits ihre Kinder – vorläufig aufzunehmen.
7.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Verfahrenskosten zu
erheben (Art. 63 Abs. 1 VwVG).
8.
Der Beschwerdeführerin ist angesichts des Obsiegens im
Beschwerdeverfahren in Anwendung von Art. 64 Abs. 1 VwVG eine
Parteientschädigung für ihr erwachsene notwendige Vertretungskosten
zuzusprechen (vgl. Art. 7 des Reglements vom 21. Februar 2008 über die
Kosten und Entschädigungen vor dem Bundesverwaltungsgericht
[VGKE], SR 173.320.2). Der Rechtsvertreter weist in seiner Kostennote
vom 30. Juni 2010 einen zeitlichen Aufwand von 23 Stunden, einen Tarif
von Fr. 180.-- pro Stunde sowie Auslagen in der Höhe von Fr. 100.-- aus.
Dieser Aufwand erscheint dem überdurchschnittlichen Umfang und der
Dauer des Verfahrens angemessen und ist tarifkonform. Die
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Parteientschädigung zu Lasten des BFM wird deshalb auf Fr. 4'240.--
(inkl. Auslagen) festgesetzt.
(Dispositiv nächste Seite)
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Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:
1.
Die Beschwerde wird hinsichtlich der Kinder B._______ und C._______
als gegenstandslos geworden abgeschrieben.
2.
Hinsichtlich der Beschwerdeführerin A._______ wird die Beschwerde
gutgeheissen.
3.
Die Ziffern 4 und 5 der angefochtenen Verfügung vom 13. August 2008
werden aufgehoben. Das BFM wird angewiesen, die Beschwerdeführerin
A._______ in der Schweiz vorläufig aufzunehmen.
4.
Das BFM wird angewiesen, der Beschwerdeführerin eine
Parteientschädigung von Fr. 4'240.-- zu bezahlen.
5.
Dieses Urteil geht an die Beschwerdeführenden, das BFM und die
zuständige kantonale Behörde.
Die vorsitzende Richterin: Die Gerichtsschreiberin:
Christa Luterbacher Gabriela Oeler
Versand: