E-5220/2012 - Abteilung V - Nichteintreten auf Asylgesuch und Wegweisung (Dublin-Verfahren) - Nichteintreten auf Asylgesuch und Wegweisung (Dubl...
Karar Dilini Çevir:
E-5220/2012 - Abteilung V - Nichteintreten auf Asylgesuch und Wegweisung (Dublin-Verfahren) - Nichteintreten auf Asylgesuch und Wegweisung (Dubl...
B u n d e s v e rw a l t u ng s g e r i ch t
T r i b u n a l ad m i n i s t r a t i f f éd é r a l
T r i b u n a l e am m in i s t r a t i vo f e d e r a l e
T r i b u n a l ad m i n i s t r a t i v fe d e r a l




Abteilung V
E-5220/2012


U r t e i l v o m 5 . D e z e m b e r 2 0 1 3
Besetzung

Richter Walter Stöckli (Vorsitz),
Richter Walter Lang, Richter Bruno Huber,
Gerichtsschreiberin Tu-Binh Tschan.
Parteien

A._______, geboren (…) oder (…), Afghanistan,
vertreten durch Patrizia Carù, Amt für Jugend und Berufs-
beratung, Zentralstelle MNA (Mineurs Non Accompagnés),
(…),
Beschwerdeführer,


gegen

Bundesamt für Migration, Quellenweg 6, 3003 Bern,
Vorinstanz.

Gegenstand

Nichteintreten auf Asylgesuch und Wegweisung (Dublin-
Verfahren);
Verfügung des BFM vom 20. September 2012 / N (…).


E-5220/2012
Seite 2
Sachverhalt:
A.
Der Beschwerdeführer, ein minderjähriger afghanischer Staatsangehöri-
ger, reichte am 7. August 2012 im Empfangs- und Verfahrenszentrum
(EVZ) Kreuzlingen ein Asylgesuch ein. Er wurde am 21. August 2012 be-
fragt und am 31. August 2012 wurde ihm, in Anwesenheit einer Vertrau-
ensperson, das rechtliche Gehör im Hinblick auf einen Nichteintretens-
entscheid und den allfälligen Wegweisungsvollzug nach Ungarn gewährt.
Er brachte dabei vor, er sei in Ungarn sechs Monate im Gefängnis gewe-
sen, nachdem er dort Asyl beantragt habe.
B.
Das BFM trat mit Verfügung vom 20. September 2012 – eröffnet am
27. September 2012 – auf das Asylgesuch nicht ein und ordnete die
Wegweisung des Beschwerdeführers aus der Schweiz nach Ungarn an.
C.
Mit Eingabe vom 4. Oktober 2012 (Poststempel) erhob der Beschwerde-
führer durch seine Rechtsvertreterin beim Bundesverwaltungsgericht Be-
schwerde mit den Anträgen, die vorinstanzliche Verfügung sei aufzuhe-
ben und die Vorinstanz sei anzuweisen, das Recht zum Selbsteintritt aus-
zuüben und sich für das vorliegende Asylverfahren zuständig zu erklären.
In verfahrensrechtlicher Hinsicht liess der Beschwerdeführer unter ande-
rem beantragen, es sei im Sinne vorsorglicher Massnahmen der Be-
schwerde die aufschiebende Wirkung zu erteilen und ihm sei die unent-
geltliche Prozessführung zu gewähren.
D.
Das Bundesverwaltungsgericht setzte mit Telefax vom 9. Oktober 2012
den Wegweisungsvollzug per sofort aus.
E.
Mit Zwischenverfügung vom 10. Oktober 2012 erkannte das Bundesver-
waltungsgericht der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zu, hiess
das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung gut und
verzichtete auf die Erhebung eines Kostenvorschusses.
F.
Das Bundesverwaltungsgericht lud die Vorinstanz am 3. Juli 2013 im Hin-
blick auf das am 6. Juni 2013 ergangene Urteil des Europäischen Ge-
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Seite 3
richtshofes (EuGH), in der Rechtssache C-648/11 (M.A., B.T. und D.A. vs.
Vereinigtes Königreich), wonach Art. 6 Abs. 2 Dublin-II-VO so auszulegen
sei, dass er in Fällen, in denen ein unbegleiteter Minderjähriger, der kei-
nen sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats rechtmässig aufhaltenden
Familienangehörigen hat und der in mehr als einem Mitgliedstaat einen
Asylantrag gestellt hat, denjenigen Mitgliedstaat als "zuständigen Mit-
gliedstaat" bestimmt, in dem sich dieser Minderjährige aufhält, nachdem
er dort einen Asylantrag gestellt hat (Rz. 66), zur Vernehmlassung ein.
Gleichzeitig wurde das BFM darum ersucht, sich insbesondere dazu zu
äussern, weshalb es Art. 6 Abs. 2 Dublin-II-VO im vorliegenden Fall nicht
angewendet habe beziehungsweise ob es in Anlehnung an das vom
EuGH vor einem Monat festgelegte Verständnis dieser Bestimmung auf
seinen Entscheid zurückkommen wolle beziehungsweise wieso es ein
anderes Verständnis der genannten Norm für richtig erachtete.
G.
Die Vernehmlassung des BFM datiert vom 25. Juli 2013. Der Beschwer-
deführer nahm durch einen Mitarbeiter der Zentralstelle MNA (Tobias
Heiniger) mit Eingabe vom 15. August 2013 dazu Stellung.

Das Bundesverwaltungsgericht zieht in Erwägung:
1.
1.1 Gemäss Art. 31 des Verwaltungsgerichtsgesetzes vom 17. Juni 2005
(VGG, SR 173.32) beurteilt das Bundesverwaltungsgericht Beschwerden
gegen Verfügungen nach Art. 5 des Verwaltungsverfahrensgesetzes vom
20. Dezember 1968 (VwVG, SR 172.021). Das BFM gehört zu den Be-
hörden nach Art. 33 VGG und ist daher eine Vorinstanz des Bundesver-
waltungsgerichts. Eine das Sachgebiet betreffende Ausnahme im Sinne
von Art. 32 VGG liegt nicht vor. Das Bundesverwaltungsgericht ist daher
zuständig für die Beurteilung der vorliegenden Beschwerde und entschei-
det auf dem Gebiet des Asyls in der Regel – so auch vorliegend – endgül-
tig (Art. 105 des Asylgesetzes vom 26. Juni 1998 [AsylG, SR 142.31];
Art. 83 Bst. d Ziff. 1 des Bundesgerichtsgesetzes vom 17. Juni 2005
[BGG, SR 173.110]).
1.2 Das Verfahren richtet sich nach dem VwVG, soweit das VGG und das
AsylG nichts anderes bestimmen (Art. 37 VGG und Art. 6 AsylG).
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Seite 4
1.3 Die Beschwerde ist frist- und formgerecht eingereicht. Der
Beschwerdeführer hat am Verfahren vor der Vorinstanz teilgenommen, ist
durch die angefochtene Verfügung besonders berührt, hat ein schutzwür-
diges Interesse an deren Aufhebung beziehungsweise Änderung und ist
daher zur Einreichung der Beschwerde legitimiert (Art. 105 und Art. 108
Abs. 2 AsylG, Art. 48 Abs. 1 und Art. 52 VwVG). Auf die Beschwerde ist ein-
zutreten.
2.
Mit Beschwerde kann die Verletzung von Bundesrecht, die unrichtige
oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts und
die Unangemessenheit gerügt werden (Art. 106 Abs. 1 AsylG).
3.
Bei Beschwerden gegen Nichteintretensentscheide, mit denen es das
BFM ablehnt, das Asylgesuch auf seine Begründetheit hin zu überprüfen
(Art. 33–35 AsylG), ist die Beurteilungskompetenz der Beschwerdein-
stanz grundsätzlich auf die Frage beschränkt, ob die Vorinstanz zu Recht
auf das Asylgesuch nicht eingetreten ist (vgl. BVGE 2011/9 E. 5, m.w.H.).
Die Beschwerdeinstanz – sofern sie den Nichteintretensentscheid als un-
rechtmässig erachtet – enthält sich somit einer selbstständigen materiel-
len Prüfung, sondern sie hebt die angefochtene Verfügung auf und weist
die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurück (vgl. BVGE
2007/8 E. 2.1, m.w.H.).
4.
4.1 Auf Asylgesuche wird in der Regel nicht eingetreten, wenn Asylsu-
chende in einen Drittstaat ausreisen können, der für die Durchführung
das Asyl- und Wegweisungsverfahrens staatsvertraglich zuständig ist
(Art. 34 Abs. 2 Bst. d AsylG). In Anwendung dieser Gesetzesbestimmung
betrachtete das BFM sich im vorliegenden Fall als zur Durchführung des
Asylverfahrens nicht zuständig, da der Beschwerdeführer gemäss einem
Abgleich der Fingerabdrücke mit der Eurodac-Datenbank am 28. März
2012 in Ungarn ein Asylgesuch gestellt habe und die ungarischen Behör-
den am 18. September 2012 dem Ersuchen um Übernahme des Be-
schwerdeführers gestützt auf Art. 16 Abs. 1 Bst. c der "Verordnung (EG)
Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Krite-
rien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prü-
fung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat ge-
stellten Asylantrags zuständig ist" (Dublin-II-VO) entsprochen hätten. Das
BFM stellte ferner fest, dass der Wegweisungsvollzug nach Ungarn we-
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der eine Verletzung des Non-Refoulement-Prinzips noch eine unmensch-
liche Behandlung im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Ge-
richtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 3 der Konvention vom
4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten
(EMRK, SR 0.101) darstelle. Bei dieser Sachlage erachtete das BFM eine
Rückkehr des minderjährigen Beschwerdeführers zum heutigen Zeitpunkt
als zulässig, zumutbar und möglich.
4.2 Dieser Argumentation wurde in der Beschwerde entgegengehalten,
dass entgegen der Annahme des BFM sehr viele Hinweise vorliegen
würden, wonach Ungarn wegen der Behandlung von Flüchtlingen zu-
nehmend in die Kritik gerate. So habe der EGMR am 11. Januar 2012 die
Überstellung eines sudanesischen Staatsangehörigen von Österreich
nach Ungarn vorläufig gestoppt, da anlässlich eines Beschwerdeverfah-
rens vor dem EGMR geltend gemacht worden sei, Ungarn verletze Art. 3
EMRK bzw. Art. 13 i.V. mit Art. 3 EMRK. Ferner sei nach Einschätzung
des UNHCR (United Nations High Commissioner for Refugees; zu
Deutsch: Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen) vom April
2012 die Situation von Asylsuchenden in Ungarn sehr beunruhigend.
Asylsuchende würden generell inhaftiert, Misshandlungen und Belästi-
gungen seien in den Hafteinrichtungen an der Tagesordnung, und es
würden Schutzsuchende ohne weitere Abklärungen nach Serbien und
Griechenland zurückgeschickt. Die Rechte von rücküberstellten Asylge-
suchstellern würden eingeschränkt, weil sie als Folgeantragsteller be-
trachtetet würden. Erschreckend sei, unter Hinweis auf den 20-seitigen
Bericht von Pro Asyl, "Ungarn: Flüchtlinge zwischen Haft und Obdachlo-
sigkeit", 25. April 2012", auch die Darstellung dieser Nichtregierungsor-
ganisation, wonach in Ungarn Menschenrechte im Asylverfahren syste-
matisch verletzt würden, was sich insbesondere auf unbegleitete Minder-
jährige verheerend auswirke. Die gegenwärtige Praxis des Bundesver-
waltungsgerichts zur Frage, ob Ungarn seinen völkerrechtlichen Verpflich-
tungen im Asylverfahren vollständig nachkomme, sei nicht bekannt. Bei
einem Minderjährigen müsse immer auch das Kindeswohl vorrangig be-
rücksichtigt werden (m.H.a. auf Art. 3 des Übereinkommens über die
Rechte des Kindes vom 20. November 1989 [KRK, SR 0.107] sowie das
Urteil des Bundesverwaltungsgerichts E-4858/2006 vom 30. Januar
2008) und das Verhältnismässigkeitsprinzip im Vordergrund stehen. Die
Rückführung nach Ungarn zum jetzigen Zeitpunkt sei somit als unzumut-
bar zu erachten, insbesondere wenn, wie im vorliegenden Fall, besonders
verletzliche Personen betroffen seien. Der Beschwerdeführer habe be-
reits eine inadäquat lange Haftstrafe in Ungarn hinter sich, welche für ihn
E-5220/2012
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äusserst belastend gewesen sei. Zudem müsse er die Trennung von sei-
ner Familie und die Flucht aus seinem Heimatland verarbeiten, dies vor
dem Hintergrund eines drohenden Wegweisungsvollzugs in grosse Per-
spektivlosigkeit und psychische Belastung. Der Beschwerdeführer benö-
tige aufgrund seines Alters dringend eine stabile und sichere Umgebung.
Die Schweiz müsse deshalb von ihrem Selbsteintrittsrecht gemäss Art. 3
Abs. 2 Dublin-II-VO Gebrauch machen, weil bei einer Rücküberführung
nach Ungarn die Verletzung von völkerrechtlichen Verpflichtungen drohe
und eine solche sowohl dem Kindeswohl- als auch dem Verhältnismäs-
sigkeitsprinzip widersprechen würde.
4.3 In seiner Vernehmlassung vom 18. Juli 2013 verwies das BFM betref-
fend die aktuelle Rechtsprechung des EuGH zur Durchführung der Asyl-
und Wegweisungsverfahren bei Minderjährigen darauf hin, dass eine sich
ändernde Rechtsprechung in der Regel keine Rückwirkung auf bereits
abgeschlossene Sachverhalte habe. Dem Wiederaufnahmeersuchen vom
13. September 2012 an Ungarn sei am 18. September 2012 zugestimmt
worden, womit die Zuständigkeit an Ungarn übergegangen sei. Diese
Auslegung stehe auch mit dem in der Dublin-II-VO herrschenden Verstei-
nerungsprinzip im Einklang. Des Weiteren habe sich der Beschwerdefüh-
rer gemäss Antwortschreiben der ungarischen Behörden vom 18. Sep-
tember 2012 in Ungarn als volljährig ausgegeben. Deshalb könne im vor-
liegenden Fall die aktuelle Rechtsprechung des EuGH keine Anwendung
finden. Den Einwänden in der Beschwerdeschrift hielt die Vorinstanz im
Wesentlichen entgegen, gemäss ihren Erkenntnissen und der Rechtspre-
chung des Bundesverwaltungsgerichts (m.H.a. dessen Urteile E-98/2012
vom 30. Januar 2012 und D-2745/2012 vom 25. Mai 2012) entspreche
das ungarische Asylwesen den auch von Ungarn ratifizierten internationa-
len Verträgen, namentlich der EMRK und dem Übereinkommen gegen
Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behand-
lung oder Strafe vom 10. Dezember 1984 (FoK, SR 0.105), sowie den
asylrechtlichen EU-Richtlinien, insbesondere der Richtlinie 2003/9/EG des
Rates vom 27. Januar 2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die
Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten (Aufnahmerichtlinie).
Es sei dem BFM nicht bekannt, dass die ungarischen Behörden die Be-
dürfnisse und Interessen unbegleiteter minderjähriger Asylsuchender nicht
ausreichend schützen würden, insbesondere nachdem Ungarn im Jahr
2013 den restriktiven Kurs gegenüber illegal sich in Ungarn aufhaltenden
Asylsuchenden und Dublin-Rückkehrern aufgegeben habe (mit Hinweis
auf einen Bericht des Jesuit Refugee Service [JRS] Europe vom Juni
2013, Protection Interrupted, The Dublin Regulation's Inpact on Asylum
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Seite 7
Seekers Protection, einsehbar unter ). Gemäss dem JRS-Be-
richt sei der besondere Status von minderjährigen Asylsuchenden in Un-
garn gesetzlich verankert und geregelt (Einsetzung eines Vormundes,
prioritäre Behandlung des Asylgesuchs, Verzicht auf die Haft etc.). Zudem
seien 2013 die Aufnahmebedingungen für Dublin-Rückkehrer (wie auch
für Minderjährige) verbessert worden. So würden Dublin-Rückkehrer nicht
mehr inhaftiert, sondern im Empfangszentrum in Debrecen bzw. Minder-
jährige in einem Kinderheim in Fót untergebracht. Im Weiteren habe der
Beschwerdeführer gemäss der Antwort der ungarischen Behörden vom
18. September 2012 in Ungarn gegen seinen negativen Asylentscheid ei-
ne Beschwerde eingereicht. Dies sei ein Hinweis dafür, dass die ungari-
schen Behörden das Asyl- und Wegweisungsverfahren korrekt durchfüh-
ren werden.
4.4 Der Beschwerdeführer liess durch seine Rechtsvertretung zur Inter-
pretation der Vorinstanz betreffend die aktuelle Rechtsprechung des
EuGH replizieren, dass das EuGH-Urteil in der Rechtssache C-648/11
nichts darüber aussage, in welchem Zeitpunkt ein Sachverhalt als "abge-
schlossen" gelten solle. Die Vorinstanz gehe hingegen davon aus, dass
mit der Zustimmung eines Dublin-Staates zum Wiederaufnahmeersuchen
eines anderen Staates die Frage der Zuständigkeit endgültig entschieden
worden sei. Eine Änderung dieses Entscheides durch die neue Recht-
sprechung sei aufgrund des Verbotes der Rückwirkung nicht möglich. Zur
Begründung dieser Ausführungen habe die Vorinstanz auch das in Art. 5
Abs. 2 Dublin-II-VO festgehaltene Versteinerungsprinzip herangezogen.
Indes sage das EuGH-Urteil nichts über die zeitliche Wirkung seines Ent-
scheides aus. Es liege somit in den Händen der zuständigen nationalen
Gerichte, diese Frage zu beantworten. Diese seien bei der Beantwortung
dieser Frage an den Entscheid des EuGH in der Sache gebunden. Die
Frage, ob auch – gemäss der Logik der Vorinstanz – "bereits entschiede-
ne" Sachverhalte nochmals geprüft werden müssten, müsse also mit
Blick auf die tatsächlichen Auswirkungen auf die Betroffenen beantwortet
werden. Inhaltlich sei der Entscheid unmissverständlich. Unter den Um-
ständen des Ausgangsverfahrens sei der Aufenthaltsstaat immer auch
der für die Durchführung des Asylverfahrens zuständige Staat. Wenn nun
die Frage nach dem Wirkungszeitpunkt dieses EuGH-Entscheids beant-
wortet werden solle, so sei dieser Grundsatz leitend zu berücksichtigen.
Es gebe keinen sachlichen Grund, Personen, bei denen bereits ein Zu-
stimmungsentscheid vorliege (sich aber, wie vorliegend, in einem laufen-
den Verfahren befinden würden) anders zu behandeln als jene, bei denen
ein solcher noch bevorstehe. Die Argumente der Vorinstanz seien dabei
E-5220/2012
Seite 8
unbehelflich: Das Verbot der Rückwirkung und damit indirekt eine Verlet-
zung der Rechtssicherheit anzurufen, wäre nur dann behelflich, wenn an-
deren Betroffenen dadurch ein Nachteil entstehen würde. Es müsste dar-
gelegt werden, dass diese Rückwirkung eine Ungleichheit unter den Be-
troffenen schaffe. Es scheine anmassend, einem Entscheid des EuGH
zugunsten einer besonders verletzlichen Gruppe, mit dem Argument des
Rückwirkungsverbotes seine sofortige Wirkung zu entziehen. Die Festle-
gung des Wirkungszeitpunktes des EuGH-Entscheides könne auch nach
anderen Kriterien vorgenommen werden. So könne beispielsweise darauf
abgestellt werden, ob im Zeitpunkt des EuGH-Entscheids noch ein Be-
schwerdeverfahren hängig gewesen sei. Das in Art. 5 Abs. 2 der Dublin-
II-VO festgehaltene Versteinerungsprinzip beziehe sich auf die nachfol-
genden Artikel des Kap. III. Die dort festgehaltenen Kriterien würden aus-
schliesslich auf die faktische Situation im Zeitpunkt des erstmaligen Asyl-
gesuchs verweisen. Es handle sich also um ein "Sachverhalts-
Versteinerungsprinzip" (vgl. auch Urteil des Bundesverwaltungsgerichts
E-374/2012 vom 1. Februar 2012). Im vorliegenden Fall handle es sich
aber um eine rechtliche Entwicklung zugunsten einer – auch im Kap. III
gesondert aufgeführten – besonders schützenswerten Gruppe. Wiederum
werde nicht überzeugend dargelegt, weshalb im vorliegenden Fall auf
dem oben genannten Zeitpunkt der Umsetzung des EuGH-Entscheides
beharrt werde. Schliesslich würde die Vorinstanz darauf verweisen, dass
der Beschwerdeführer sich in Ungarn als volljährig ausgegeben habe,
und sie würde daraus ableiten, dass das Urteil des EuGH deshalb keine
Anwendung finden solle. Auch dieses Argument überzeuge nicht. Die
Minderjährigkeit des Beschwerdeführers sei in der Schweiz zu keinem
Zeitpunkt angezweifelt worden. Es widerspreche dem Grundsatz von
Treu und Glauben, im derzeitigen Verfahrensstadium einen solchen Posi-
tionsbezug neu einzubringen. Zudem würde die Vorinstanz in ihren Aus-
führungen zur Zumutbarkeit der Überstellung nach Ungarn damit argu-
mentieren, dass unbegleitete Minderjährige dort einen speziellen Status
geniessen würden. Dies wäre im Fall des Beschwerdeführers, falls die
Angaben der ungarischen Behörden zutreffen würden, somit eben gerade
nicht gegeben. Den Ausführungen der Vorinstanz zur Zumutbarkeit der
Überstellung nach Ungarn im Allgemeinen wurde entgegengehalten, dass
Ungarn auf den 1. Juli 2013 eine sehr umstrittene Asylreform in Kraft ge-
setzt habe. Diese sehe unter anderem eine Ausdehnung der Kategorien
vor, welche eine Inhaftierung von Asylsuchenden erlaube. Diese Entwick-
lung würde zeigen, dass auch Mitte 2013 noch schwerwiegende Proble-
me bestehen würden, besonders für einen vermeintlich volljährigen jun-
gen Mann, welcher bereits früher inhaftiert gewesen sei.
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Seite 9
5.
5.1 Vorab ist zu klären, ob die Vorinstanz zu Recht in seiner Vernehmlas-
sung mit Hinweis auf ein grundsätzliches Rückwirkungsverbot einer sich
ändernden Rechtsprechung auf bereits abgeschlossene Sachverhalte
(vgl. ausführlich vorstehend E. 4.3) die Frage, ob das am 6. Juni 2013 er-
gangene Urteil des EuGH in der in der Rechtssache C-648/11 (M.A., B.T.
und D.A. vs. Vereinigtes Königreich) auf vorliegenden Fall Wirkungen zei-
tigen könnte, verneinte.
5.2 Die Vorinstanz vermischt in ihrer Argumentation verschiedene Rechts-
fragen: Auf der einen Seite spricht sie den Grundsatz des Verbotes der
echten Rückwirkung an, nämlich die Anwendung neuen Rechts auf abge-
schlossene Sachverhalte. Dabei unterlässt sie es, darauf hinzuweisen,
dass die bundesgerichtliche Rechtsprechung Ausnahmen zu diesem Ver-
bot definiert hat, und erwähnt auch die grundsätzlich zulässige unechte
Rückwirkung nicht, namentlich die Anwendung neuen Rechts auf zeitlich
offene Dauersachverhalte bzw. die Anwendung neuen Rechts für die Zeit
nach seinem Inkrafttreten bei gleichzeitigem Abstellen auf Sachverhalte,
die bereits vor Inkrafttreten vorlagen (vgl. zum Ganzen ULRICH HAEFELIN/
GEORG MÜLLER/FELIX UHLMANN, Allgemeines Verwaltungsrecht, 6. Aufla-
ge, Zürich 2010, Rz. 329 ff.). Ob es sich im vorliegenden Fall tatsächlich
– wie von der Vorinstanz wohl angenommen – um eine grundsätzlich un-
zulässige echte Rückwirkung handelt und ob keine Ausnahme vorliegt
oder ob es sich um eine grundsätzlich zulässige unechte Rückwirkung
handelt, kann allerdings offenbleiben, da das BFM auf der anderen Seite
fälschlicherweise die Grundsätze der Rückwirkung von neuem Recht auf
Praxisänderungen übertragen hat. Das Rückwirkungsverbot findet indes
im Bereich der Rechtsprechung in der Schweiz keine Anwendung (vgl.
SUSAN EMMENEGGER/AXEL TSCHENTSCHER, Art. 1, in: Berner Kommentar
zum ZGB, Hausheer/Walter [Hrsg.], Bern 2012, Rz. 495).
5.3 Gemäss der Rechtsprechung des Bundesgerichtes ist nach einem
allgemeinen Grundsatz die neue Praxis sofort und in allen hängigen Ver-
fahren anzuwenden, soweit nicht im Einzelfall der Schutz von Treu und
Glauben entgegensteht (vgl. BGE 90 II 295 E. 6, 111 V 161 E. 5b,
132 II 153 E. 5.1, 135 II 78 E. 3.2). Sie führt demnach immer dazu, dass
die neuen Fälle anders behandelt werden als die alten. Das Gebot der
Rechtsgleichheit verlangt lediglich, dass die der alten und der neuen Pra-
xis unterliegenden Fälle je gleich behandelt werden. Eine Verletzung von
Art. 8 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft
vom 18. April 1999 (BV, SR 101) könnte allenfalls vorliegen, wenn die
E-5220/2012
Seite 10
Behörde nach erfolgter Praxisänderung einzelne, noch nicht erledigte Fäl-
le nach der alten Praxis beurteilen würde, während andere bereits erle-
digte Fälle nach der neuen Praxis behandelt worden sind. Praxisände-
rungen haben auch für die Verwaltung Bindungswirkung (vgl. Urteil des
Bundesgerichts vom 2. Juni 2003, veröffentlicht in Archiv für Schweizeri-
sches Abgaberecht [ASA] 74 S. 674 E. 3.4.3.7, m.w.H.).
5.4 Ferner zeitigt die Rechtsprechung des EuGH insbesondere im Vorab-
entscheidungsverfahren grundsätzlich eine unbeschränkte zeitliche Wir-
kung, d.h. die Entscheidung wird an die zeitliche Geltungsdauer der zu-
grunde liegenden Norm des Gemeinschaftsrechts gekoppelt und entfaltet
ihre Wirkung stets ex tunc. Ausnahmsweise kann die Rückwirkung aus
Gründen der Rechtssicherheit oder des Vertrauensschutzes ausgeschlos-
sen werden. Die Beschränkung der Rückwirkung kann indes nur durch
den Gerichtshof selbst vorgenommen werden. Der Rechtsmittelführer im
Ausgangsverfahren sowie Personen, die ebenfalls Rechtsmittel eingelegt
haben, über welche noch nicht befunden worden ist, sind vom Ausschluss
der Rückwirkung ausgenommen (vgl. dazu CHRISTIAN WALDHOFF, Die
Rückwirkung von EuGH-Entscheidungen – Finanzielle Auswirkungen euro-
päischer Rechtsprechung als Kriterium einer Entscheidfolgenabschätzung,
in: Europarecht, 2006 Heft 5, September/Oktober, S. 628 ff.). Dazu gilt
festzustellen, dass der EuGH im hier interessierenden Urteil C-648/11
keine Beschränkung der Rückwirkung vorgenommen hat.
5.5 Auch die Anrufung des in Art. 5 Abs. 2 Dublin-II-VO verankerten "Ver-
steinerungsprinzips" im Zusammenhang mit dem vorgebrachten Rückwir-
kungsverbot der Rechtsprechung ist verfehlt. Es erhellt sich aus den Aus-
führungen der Vorinstanz nicht, inwiefern allein die Zustimmung Ungarns
zur Übernahme des Beschwerdeführers eine Nichtanwendung der Ausle-
gungsregeln des EuGH zu Art. 6 Abs. 2 Dublin-II-VO bewirken sollte. Die
Vorinstanz verkennt, dass die Zuständigkeit für die Durchführung des
Asyl- und Wegweisungsverfahrens gemäss Dublin-II-VO sich nach den
Kriterien gemäss dessen Kap. III begründet und nicht aufgrund der Zu-
stimmung eines Mitgliedsstaates zur Übernahme eines Asylgesuchstel-
lers. Nichts anderes ergibt sich aus der Rechtsprechung des Bundesver-
waltungsgerichts (vgl. BVGE 2012/4 und BVGE 2013/24). Gemäss des-
sen Praxis ergibt sich die Zuständigkeit des Dublin-Staates nach den ob-
jektiven Kriterien des Kap. III der Dublin-II-VO und mitnichten (allein) aus
der Zustimmungserklärung des die Überstellung des Asylgesuchstellers
akzeptierenden Staates. Die im Urteil BVGE 2012/4 E. 3.2 getroffene
Feststellung, dass es dem Mitgliedstaat, der mit einem neuen Asylgesuch
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Seite 11
befasst ist, verwehrt sein soll, nach erfolgreich begründeter Zuständigkeit
eines anderen Mitgliedstaates eine erneute Zuständigkeitsprüfung nach
Kap. III durchzuführen, ist auf die vorliegende Konstellation des unbeglei-
teten Minderjährigen nicht übertragbar, da die Zuständigkeit von Ungarn
(vgl. nachfolgende Erwägung) allenfalls eben gerade (noch) nicht be-
gründet wurde.
5.6 Nicht von Belang ist zudem der Hinweis der Vorinstanz, dass der Be-
schwerdeführer gemäss Angaben der ungarischen Behörden sich bei der
dortigen Antragstellung als Volljähriger ausgegeben habe. Aufgrund des
in Art. 5 Abs. 2 Dublin-II-VO verankerten Sachverhaltsversteinerungsprin-
zips, wonach bei der Prüfung der Zuständigkeitskriterien lediglich jener
Sachverhalt beachtlich ist, der im Zeitpunkt der Stellung des ersten Asyl-
antrages vorgelegen hat (vgl. CHRISTIAN FILZWIESER/ANDREA SPRUNG,
Dublin-II-Verordnung – Das Europäische Asylzuständigkeitssystem, 3.
Aufl., Wien 2010, zu Art. 5, K4), kann im Anwendungsbereich von Art. 6
Abs. 2 Dublin-II-VO nur bestimmend sein, ob der Beschwerdeführer bei
der Antragstellung minderjährig war, und nicht, ob er sich als ein solcher
zu erkennen gegeben hat. Den Akten ist diesbezüglich zu entnehmen,
dass dieser in Ungarn seine Taskara (afghanische Identitätskarte) abge-
geben hat, gemäss welcher er nach dem afghanischen Kalender am [Da-
tum] geboren sei, was gemäss unserer Zeitrechnung dem [Datum] ent-
spricht; im schweizerischen Asylverfahren nannte er den [Datum] als sein
Geburtsdatum, was umgerechnet den [Datum] ergibt (vgl. Akten BFM
A20/2 und A10 S. 3). Nach beiden Angaben ist er noch heute minderjäh-
rig. Das BFM ist denn auch im Zeitpunkt der Prüfung seiner Zuständigkeit
trotz aktenkundigen Hinweises der ungarischen Behörden unbestritte-
nermassen von der Minderjährigkeit des Beschwerdeführers ausgegan-
gen. Bemerkenswert an dieser Situation ist, dass dies allenfalls dazu ge-
führt hätte, die im Eurodac-System vermerkte Information über eine er-
folgte Asylantragstellung in Ungarn als "unrichtig" zu erkennen, wenn den
Behörden des die Minderjährigkeit anerkennenden Aufenthaltsstaates
(vorliegend: BFM) der Nachweis misslungen wäre, dass es im vermeint-
lich ersten Asylantragsstaat (vorliegend: Ungarn) eine "wirksame" Asylan-
tragstellung (namentlich unter Beigabe eines Vormundes) gegeben habe.
Folge davon wäre gewesen, dass der in der Schweiz gestellte Asylantrag
als der erste wirksame Asylantrag in Europa gegolten hätte, dem Dublin-
Verfahren somit gänzlich die Grundlage entzogen worden wäre (ausführ-
lich dargestellt in DOMINIK BENDER, Das Kindeswohl im Dublin-Verfahren
– Teil 2: Kindeswohlverletzungen, in: ASYLMAGAZIN 4/2011, S. 113,
E-5220/2012
Seite 12
m.H. in der Fn. 40 auf Beschlüsse des Verwaltungsgerichts Frankfurt vom
2. August und 15. Oktober 2010).
5.7 Zusammenfassend zeigen die vorstehenden Erwägungen, dass die
Rechtsprechung des EuGH im vorliegenden Verfahren sehr wohl Wirkun-
gen zu erzeugen vermag. Die Ausführungen der Vorinstanz zu einem
grundsätzlichen Rückwirkungsverbot von "Praxisänderungen" haben sich
als unvollständig und falsch erwiesen. Das EuGH-Urteil in der Rechtssa-
che C-648/11 (M.A., B.T. und D.A. vs. Vereinigtes Königreich) vom 6. Juni
2013 könnte also in Übereinstimmung mit der bundesgerichtlichen Recht-
sprechung sofort und in allen hängigen Verfahren berücksichtigt werden.
5.8 Die zu klärende zentrale Frage in diesem Zusammenhang wäre oh-
nehin eine andere gewesen, nämlich ob die Schweiz der Rechtsprechung
des EuGH überhaupt zu folgen hat oder folgen soll (vgl. BGE 136 II 65).
Von einer Beantwortung dieser Frage kann indes abgesehen werden, da
vorliegend – wie nachfolgend aufgezeigt – ein Selbsteintritt der Schweiz
gemäss Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-VO insbesondere aufgrund der vorrangi-
gen Berücksichtigung des Kindeswohls und der konkreten Umstände des
Einzelfalls angezeigt ist.
6.
6.1 Gemäss der Praxis des Bundesverwaltungsgerichtes gilt Art. 3 Abs. 2
erster Satz Dublin-II-VO (Souveränitätsklausel) nicht als unmittelbar an-
wendbare Bestimmung, d.h. Asylsuchende können aus ihr keine rechtlich
durchsetzbaren Ansprüche ableiten (vgl. BVGE 2010/45 E. 5). Sie kön-
nen sich aber in einem Beschwerdeverfahren auf die Verletzung einer di-
rekt anwendbaren Bestimmung des internationalen öffentlichen Rechts
oder einer Norm des Landesrechts – insbes. Art. 29a Abs. 3 AsylV 1 –,
welche einer Überstellung entgegensteht, berufen. Ist die Rüge begrün-
det, wird die Souveränitätsklausel angewendet und die Schweiz muss
sich zur Prüfung des Asylgesuchs zuständig erklären (vgl. BVGE 2010/45
E. 5).
6.2 Der Beschwerdeführer befürchtet, bei einer Rückführung nach Un-
garn erneut in Administrativhaft genommen und alsdann abgeschoben zu
werden. Asylsuchende in Ungarn sind gemäss übereinstimmenden Be-
richten aus dem Jahr 2012 nicht selten in Administrativhaft genommen
worden. Tatsächlich wurde in etlichen Berichten von Menschenrechtsor-
ganisationen und staatlichen Stellen auf weitere Defizite im ungarischen
Asylsystem aufmerksam gemacht, namentlich bezüglich Zugang zum
Asylverfahren, Beachtung des Nonrefoulement-Gebotes, Aufnahmebe-
E-5220/2012
Seite 13
dingungen und Rückschiebung in "sichere" Drittstaaten. Die ungarischen
Behörden haben in den vergangenen Monaten auf die von verschiedener
Seite geäusserte Kritik reagiert und Änderungen sowohl hinsichtlich der
rechtlichen Grundlagen als auch hinsichtlich der Praxis der Asylbehörden
in Aussicht gestellt. So werden beispielsweise nunmehr sämtliche Dublin-
Rückkehrer als Asylsuchende angesehen, ihre Asylgründe werden ge-
prüft und sie werden in der Regel nicht inhaftiert (ausser wenn ihr Asylge-
such bereits materiell abgewiesen wurde). Diese positive Entwicklung hat
in jüngere Berichte von Menschenrechtsorganisationen Eingang gefun-
den, und der EGMR stellte in einem kürzlich ergangenen Urteil gestützt
auf aktuelle Berichte des UNHCR Verbesserungen vor Ort fest
(vgl. EGMR, Mohammed gegen Österreich [Appl. No. 2283/12], Urteil
vom 6. Juni 2013). Am 1. Juli 2013 sind jedoch auch Gesetzesänderun-
gen in Kraft getreten, welche einen breiten Katalog von folgenden Haft-
gründen für Asylsuchende vorsehen (vgl. Hungarian Helsinki Committee,
Brief Information Note on the Main Asylum Related Legal Changes in
Hungary of 1 July 2013): 1Identitäts- und Nationalitätsermittlung, sofern
diese unklar ist, 2Untertauchen oder andere Behinderung des Asylverfah-
rens durch den Asylsuchenden, 3Vorliegen triftiger Gründe, dass der Asyl-
suchende die für das Asylverfahren notwendige Informationsbeschaffung
hintertreiben und untertauchen würde, 4zum Schutz der nationalen Si-
cherheit sowie der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, 5bei Asylgesuch-
stellung am Flughafen, und 6bei wiederholter Verletzung verfahrensrecht-
licher Verpflichtungen des Asylsuchenden im Hinblick auf die Behinde-
rung des Dublin-Verfahrens. Von verschiedenen Stellen (vgl. UNHCR
Comments and Recommendations on the Draft Modification of Certain
Migration-Related Legislative Acts for the Purpose of Legal Harmonisa-
tion vom 12. April 2013, S. 7 ff.; Ungarn: Flüchtlinge zwischen Haft und
Obdachlosigkeit, Aktualisierung und Ergänzung des Berichts vom März
2012, Hrsg. Pro Asyl, vom Oktober 2013, S. 8 ff. und 35) wird moniert,
dass diese sechs Bedingungen für die Anordnung von Haft teilweise sehr
weit und elastisch formuliert sind, und es wird befürchtet, diese Haft könn-
te systematisch und ohne effektiven Rechtsschutz angewendet werden.
6.3 In einem kürzlich ergangenen Urteil hat sich das Bundesverwaltungs-
gericht eingehend mit der aktuellen Lageentwicklung für Asylsuchende in
Ungarn auseinandergesetzt (vgl. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts
E-2093/2012 vom 9. Oktober 2013). Bezüglich der möglichen Haft und
der Haftbedingungen (in der Vergangenheit war von mangelnder Hygie-
ne, systematischer Verabreichung von Beruhigungsmitteln und von Ge-
waltübergriffen berichtet worden) wurde festgestellt, den Einwänden ge-
E-5220/2012
Seite 14
gen eine allfällige Überstellung nach Ungarn werde besondere Aufmerk-
samkeit zukommen müssen, falls sich die Haftbedingungen nach den er-
folgten Gesetzesänderungen immer noch als besorgniserregend erwei-
sen würden (vgl. Urteil, a.a.O., E. 8.2). Das UNHCR hat keine Empfeh-
lung an die betroffenen Staaten abgegeben, und der EGMR geht davon
aus, dass die festgestellten Mängel im ungarischen Asylverfahren nicht
als systematisch zu bezeichnen sind (vgl. EGMR, Mohammed gegen Ös-
terreich [Appl. No. 2283/12], Urteil vom 6. Juni 2013, § 105 S. 28). Den-
noch ist angesichts der neuen Gesetzesbestimmungen zur Haft von Asyl-
suchenden und der hohen Anzahl von Asylgesuchen in Ungarn in der ers-
ten Hälfte des laufenden Jahres, welche zu einer Verschlechterung der
dortigen Lebensbedingungen geführt hat, bei der Überstellung von Asyl-
suchenden nach Ungarn grosse Wachsamkeit geboten, insbesondere
wenn es sich um verletzliche Personen handelt. Die Vermutung, dass
Ungarn die Rechte der EMRK garantiere und seine staatsvertraglichen
Verpflichtungen einhalte, kann nicht vorbehaltlos aufrechterhalten werden
(vgl. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts E-2093/2012 vom 9. Oktober
2013 E. 9 ff.). Es ist eine sorgfältige Überprüfung einer allfällig bestehen-
den Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung re-
spektive einer Verletzung des Nonrefoulement-Gebots im Sinn der EMRK
und des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der
Flüchtlinge (FK, SR 0.142.30) angezeigt, welche der Zugehörigkeit der
Asylsuchenden zu einer besonders verwundbaren Gruppe Rechnung zu
tragen hat.
6.4 Vorliegend handelt es sich beim Beschwerdeführer um einen unbe-
gleiteten Minderjährigen. Er zählt somit zur Gruppe der besonders ver-
letzlichen Personen. Damit ist die oben erwähnte sorgfältige Überprüfung
einer allfällig bestehenden Gefahr der Verletzung völkerrechtlicher Ver-
pflichtungen durch die ungarischen Behörden angezeigt. In Ungarn war
im ersten Halbjahr 2013 ein massiver Anstieg von Asylgesuchen zu ver-
zeichnen, und dies hatte entsprechend negative Auswirkungen auf die
Unterbringung von Asylsuchenden. Es besteht demnach einerseits die
Gefahr, dass der Beschwerdeführer unter Berücksichtigung der festge-
stellten Mängel des ungarischen Asylverfahrens und der Aufnahmebedin-
gungen in Ungarn keine seiner Verletzlichkeit entsprechende Behandlung
und Unterbringung erhalten würde. Dies gilt umso mehr, als die ungari-
schen Behörden offenbar davon ausgehen, dass es sich beim Beschwer-
deführer um einen Volljährigen handelt, weshalb er dort als Dublin-
Rückkehrer noch im Asylverfahren in den Genuss der "gesetzlich veran-
kerten Statusrechte eines Minderjährigen" (vgl. Ausführungen des BFM in
E-5220/2012
Seite 15
E. 4.3) gelangen wird, obwohl seiner in Ungarn befindlichen Taskara zu
entnehmen ist, dass er noch minderjährig ist. Das BFM hat die Minderjäh-
rigkeit des Beschwerdeführers weder im erstinstanzlichen Verfahren noch
im Beschwerdeverfahren bestritten, sondern ist im Gegenteil stets von
dieser ausgegangen. Es hat indes die Tatsache, dass dem Beschwerde-
führer in Ungarn offenbar zu Unrecht die "Statusrechte" eines Minderjäh-
rigen nicht zuerkannt wurden – so wurde er gemäss eigenen Angaben
sechs Monate in Administrativhaft genommen, da er Asyl beantragt hatte
(vgl. Prozessgeschichte Bst. A) –, weder in seinen Abklärungen berück-
sichtig noch in die Erwägungen miteinbezogen. Die entsprechenden Aus-
führungen in der Replik treffen zu (vgl. vorstehend in E. 4.4 und die Aus-
führungen des Gerichts in E. 5.6). Des Weiteren hat der Beschwerdefüh-
rer gemäss der Antwort der ungarischen Behörden vom 18. September
2012 in Ungarn einen negativen Asylentscheid erhalten, gegen den er am
31. Juli 2012 eine Beschwerde eingereicht habe. Er sei danach am
6. August 2012 aus Ungarn verschwunden (vgl. A25/1). Entgegen der
Ausführungen des BFM in seiner Vernehmlassung, wonach diese Schrei-
ben der ungarischen Behörden ein Hinweis dafür sei, dass sie das Asyl-
und Wegweisungsverfahren korrekt durchführen werden (vgl. E. 4.3), ist
es vielmehr als Indiz zu werten, dass dem Beschwerdeführer die Gefahr
einer erneuten Inhaftierung droht, da sein Asylgesuch bereits materiell
abgewiesen ist, er als volljährig gilt und der oben beschriebene Haftgrund
des Untertauchens oder der anderen Behinderung des Asylverfahrens
durch den Asylsuchenden als erfüllt beurteilt werden dürfte. Die somit
konkret bestehende Gefahr einer erneuten (mehrmonatigen) Inhaftierung
des als unbegleiteter Minderjähriger besonders verletzlichen Beschwer-
deführers würde – wie in der Beschwerde zu Recht ausgeführt – auch der
geltenden Schweizer Praxis der vorrangigen Berücksichtigung des Kin-
deswohls bei der Prüfung von Wegweisungsvollzugshindernissen entge-
genstehen, welche eine aus Art. 3 KRK abgeleitete Pflicht ist (vgl. BVGE
2009/51 E. 5.6 und 2009/28 E. 9.3.2, jeweils m.w.H.).
6.5 Schliesslich ist zu beachten, dass eine vorrangige Berücksichtigung
des Kindeswohls sich auch aus der aktuellen Rechtsprechung des EuGH
im Urteil C-648/11 vom 6. Juni 2013 – der Gerichtshof deduziert diesen
Grundsatz aus dem Art. 24 Abs. 2 der Grundrechte-Charta – ergibt.
In diesem Urteil geht es um drei in Grossbritannien um Asyl nachsuchen-
de Gesuchsteller, die im massgeblichen Zeitpunkt der Behandlung ihrer
Asylgesuche unbegleitet und minderjährig waren (M.A., B.T. und D.A.).
Sie gaben an, in keinem anderen Dublin-Staat sich rechtmässig aufhal-
E-5220/2012
Seite 16
tende Familienangehörigen zu haben. Alle drei hatten zuvor bereits in ei-
nem anderen Mitgliedstaat der EU Asylgesuche gestellt. Das mit den
Rechtsstreitigkeiten oberinstanzlich befasste britische Gericht ersuchte
den EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens um Beant-
wortung der Frage, wie Art. 6 Abs. 2 Dublin-II-VO ("Ist kein Familienange-
höriger anwesend, so ist der Mitgliedstaat, in dem der Minderjährige sei-
nen Asylantrag gestellt hat, zuständig.") auszulegen sei. Gestützt auf das
für den EuGH massgebliche Recht (neben der Dublin-II-VO ist dies ins-
besondere die Grundrechte-Charta der EU) stellt dieser zunächst fest,
dass nach Art. 5 Abs. 1 Dublin-II-VO die Kriterien zur Bestimmung des
zuständigen Mitgliedstaats in der in Kap. III (Art. 5–14) genannten Rang-
folge Anwendung finden würden. Das erste Kriterium zur Bestimmung
des für die Prüfung des Asylgesuchs eines unbegleiteten Minderjährigen
i.S. von Art. 2 Bst. h zuständigen Mitgliedstaats ist das in Art. 6 Abs. 1
vorgesehene: Danach sei der für die Prüfung eines Antrags eines unbe-
gleiteten Minderjährigen zuständige Mitgliedstaat derjenige, in dem sich
ein Angehöriger seiner Familie rechtmässig aufhalte, sofern dies im Inte-
resse des Minderjährigen liege. Da sich aber im vorliegenden Fall kein
Familienangehöriger der Beschwerdeführenden in einem anderen Dublin-
Staat rechtmässig aufhalte, sei der zuständige Mitgliedstaat auf der
Grundlage von Art. 6 Abs. 2 zu bestimmen, wonach die Zuständigkeit bei
dem Mitgliedstaat liege, "in dem der Minderjährige seinen Asylantrag ge-
stellt hat" (Rz. 44 ff.). Aufgrund dieses Wortlauts allein lasse sich nicht
feststellen, ob der fragliche Asylantrag der erste Asylantrag sei, den der
betreffende Minderjährige in einem Mitgliedstaat gestellt habe, oder der-
jenige, den er zuletzt in einem anderen Mitgliedstaat gestellt habe. Bei
der Auslegung der Vorschrift seien somit auch ihr Zusammenhang und
die damit verfolgten Ziele zu berücksichtigen. Bei der Auslegung von
Art. 6 Abs. 2 sei dessen Ziel, unbegleiteten Minderjährigen eine besonde-
re Aufmerksamkeit zu widmen, wie auch das Hauptziel der Dublin-II-VO
an sich zu berücksichtigen, einen effektiven Zugang zur Beurteilung der
Flüchtlingseigenschaft des Antragstellers zu gewährleisten (Rz. 49 ff.). Un-
begleitete Minderjährige würden eine Kategorie besonders gefährdeter
Personen bilden. Daher sei es wichtig, dass sich das Verfahren zur Be-
stimmung des zuständigen Mitgliedstaats nicht länger als unbedingt nötig
hinziehe, was bedeute, dass unbegleitete Minderjährige grundsätzlich
nicht in einen anderen Mitgliedstaat zu überstellen seien. Zu berücksich-
tigen sei weiter, dass die Dublin-II-VO im Einklang mit den Grundrechten
und Grundsätzen stehe, die insbesondere mit der Grundrechte-Charta
der EU anerkannt worden seien. Dazu gehöre insbesondere das in
Art. 24 Abs. 2 der Charta verankerte Grundrecht, wonach bei alle Kinder
E-5220/2012
Seite 17
betreffenden Massnahmen öffentlicher Stellen oder privater Einrichtungen
das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein müsse. Folglich
könne Art. 6 Abs. 2 Dublin-II-VO nicht so ausgelegt werden, dass er dem
genannten Grundrecht zuwiderliefe. Somit müsse bei jeder Entscheidung,
die die Mitgliedstaaten auf der Grundlage von Art. 6 Abs. 2 Dublin-II-VO
erlassen würden, das Wohl des Kindes ebenfalls eine vorrangige Erwä-
gung sein (Rz. 55 ff.). Mithin sei Art. 6 Abs. 2 Dublin-II-VO dahingehend
auszulegen, dass er in Fällen, in denen ein unbegleiteter Minderjähriger,
der keinen sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats rechtmässig aufhal-
tenden Familienangehörigen habe, in mehr als einem Mitgliedstaat einen
Asylantrag gestellt habe, denjenigen Mitgliedstaat als "zuständigen Mit-
gliedstaat" bestimmt, in dem sich dieser Minderjährige aufhalte, nachdem
er dort einen Asylantrag gestellt habe (Rz. 66).
Da es sich vorliegend unbestrittenermassen um einen unbegleiteten Min-
derjährigen handelt, der zudem keinen sich im Hoheitsgebiet eines Mit-
gliedstaates rechtmässig aufhaltenden Familienangehörigen i.S. von
Art. 2 Bst. i.iii Dublin-II-VO hat (d.h. Vater, Mutter oder Vormund; der sich
in [Mitgliedstaat] aufhaltende [Verwandter] [vgl. A10/10 S. 5] fällt nicht un-
ter diese Kategorie), sind die vom EuGH aufgeworfenen Überlegungen
zur Auslegung von Art. 6 Abs. 2 Dublin-II-VO eingehender zu betrachten.
Beachtenswert ist dabei, dass der Entscheid des EuGH nicht an neues
Sekundärrecht oder an die Rechtsprechung des EuGH anknüpft, es sich
bei diesem Urteil mithin nicht um eine eigentliche "Praxisänderung" han-
delt, sondern zum ersten Mal höchstrichterlich über die rechtsgültige Aus-
legung von Art. 6 Abs. 2 Dublin-II-VO befunden worden ist. Das Urteil
führt also – unabhängig von der allenfalls divergierenden bisherigen Pra-
xis von Mitgliedstaaten – zu keiner Neuinterpretation des bestehenden
Textes, sondern es dient der Klarstellung des eigentlichen Sinnes dieser
Bestimmung. Zudem geht der Gerichtshof davon aus, dass die Annahme
der Zuständigkeit des aktuellen Aufenthaltsstaates des unbegleiteten
Minderjährigen der Zweckrichtung sowohl des Art. 6 Abs. 2 Dublin-II-VO
als auch dem Hauptziel der Dublin-II-VO dient, da unbegleitete Minder-
jährige eine Kategorie besonders gefährdeter Personen bilden würden,
weshalb es wichtig sei, dass sich das Verfahren zur Bestimmung des zu-
ständigen Mitgliedstaats nicht länger als unbedingt nötig hinziehe. Auch in
der für die Schweiz ab dem 1. Januar 2014 "vorläufig anwendbaren"
"Dublin-III-VO" (vgl. Rat der Europäischen Union 15605/12 vom
14. Dezember 2012, Verordnung [EU] Nr. 604/2013 des Europäischen
Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Krite-
rien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prü-
E-5220/2012
Seite 18
fung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat ge-
stellten Asylantrags zuständig ist) wird diesen Grundsätzen Rechnung ge-
tragen: So stellt Art. 6 Abs. 1 Dublin-III-VO fest, dass das Wohl des Kin-
des in allen in der Dublin-III-VO vorgesehenen Verfahren eine vorrangige
Erwägung der Mitgliedstaaten ist. In Art. 8 Abs. 4 wird präzisiert, dass –
bei Abwesenheit eines Familienangehörigen – der Mitgliedstaat zuständig
ist, in dem der unbegleitete Minderjährige seinen Antrag auf internationa-
len Schutz gestellt hat, "sofern es dem Wohl des Minderjährigen dient".
Neu wird zudem von einer maximal zehnmonatigen Verfahrensfrist aus-
zugehen sein (drei Monate für den Wiederaufnahmeantrag [Art. 23 Dub-
lin-III-Verordnung]; ein Monat für ein Wiederaufnahmegesuch [Art. 25
Dublin-III-Verordnung]; sechs Monate für die Überstellung [Art. 29 Dublin-
III-Verordnung]). Vorliegend hat der unbegleitete minderjährige Be-
schwerdeführer seinen Asylantrag in der Schweiz am 7. August 2012 ge-
stellt, er befindet sich nunmehr also seit mehr als 15 Monaten im Dublin-
Verfahren. Die vorgesehenen Maximaldauer von zehn Monaten ist dem-
nach bereits um fünf Monate überschritten worden und dem Beschwerde-
führer ist dieser Umstand klarerweise nicht anzulasten.
6.6 Zusammenfassend bestehen ernsthafte Gründe für die Annahme,
dass die ungarischen Behörden im vorliegenden Fall ihren völkerrechtli-
chen Verpflichtungen gegenüber dem unbegleiteten minderjährigen Be-
schwerdeführer und dessen besonderen Schutzbedürfnissen gemäss der
KRK nicht nachkommen würden. Insbesondere spricht bereits das Gebot
nach vorrangiger Berücksichtigung des Kindeswohls, eine für die Schweiz
aus Art. 3 KRK abgeleitete Pflicht, im vorliegenden Fall für den Selbstein-
tritt der Schweiz. Damit kann die Frage, ob die einschlägige Rechtspre-
chung des EuGH bezogen auf die unbegleiteten minderjährigen Asylsu-
chenden im vorliegenden Fall zu übernehmen ist, offenbleiben, da die in
dessen Urteil C-648/11 getroffenen Feststellungen zur vorrangingen Be-
rücksichtigung des Kindeswohls lediglich herbeigezogen wurden, um die
Frage des Selbsteintrittes im vorliegenden Fall zu klären.
6.7 Bei gesamthafter Betrachtung aller relevanten Faktoren, namentlich
des Kindeswohles, ist vorliegend ein Ausnahmefall anzunehmen, welcher
es – auch bei generell gebotener restriktiver Anwendung von Art. 29a
Abs. 3 AsylV 1 – aus humanitären Überlegungen als angemessen er-
scheinen lässt, vom Selbsteintritt Gebrauch zu machen.
6.8 Das BFM ist nach dem Gesagten in Anwendung von Art. 34 Abs. 2
Bst. d AsylG zu Unrecht auf das Asylgesuch des Beschwerdeführers nicht
E-5220/2012
Seite 19
eingetreten. Die Beschwerde ist somit gutzuheissen, die Verfügung des
BFM aufzuheben und das Bundesamt anzuweisen, vom Selbsteintritts-
recht i.S. von Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-VO i.V.m. Art. 29a Abs. 3 AsylV1
Gebrauch zu machen, auf das Asylgesuch einzutreten und danach das
Asylverfahren des Beschwerdeführers in der Schweiz durchzuführen.
7.
7.1 Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Verfahrenskosten
aufzuerlegen (Art. 63 Abs. 1 und 2 VwVG).
7.2 Dem obsiegenden und vertretenen Beschwerdeführer ist zulasten der
Vorinstanz eine Parteientschädigung für die ihm erwachsenen notwendi-
gen und verhältnismässig hohen Kosten zuzusprechen (vgl. Art. 64 Abs. 1
VwVG i.V. mit Art. 7 des Reglements vom 21. Februar 2008 über die Kos-
ten und Entschädigungen vor dem Bundesverwaltungsgericht [VGKE,
SR 173.320.2]). Es wurde keine Kostennote zu den Akten gereicht. Der
notwendige Vertretungsaufwand lässt sich indes aufgrund der Aktenlage
zuverlässig abschätzen, weshalb auf die Einholung einer solchen verzich-
tet werden kann (Art. 14 Abs. 2 in fine VGKE). Gestützt auf die in Betracht
zu ziehenden Bemessungsfaktoren (Art. 9–13 VGKE) ist dem
Beschwerdeführer zulasten der Vorinstanz eine Parteientschädigung von
pauschal Fr. 600.– (inkl. Ausgaben) zuzusprechen.

(Dispositiv nächste Seite)
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Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:
1.
Die Beschwerde wird im Sinne der Erwägungen gutgeheissen.
2.
Die Verfügung des BFM vom 20. September 2012 wird aufgehoben und
die Sache zur Durchführung des Asylverfahrens in der Schweiz an das
BFM zurückgewiesen.
3.
Es werden keine Verfahrenskosten auferlegt.
4.
Das BMF wird angewiesen, dem Beschwerdeführer eine Parteientschädi-
gung in der Höhe von Fr. 600.– zu entrichten.
5.
Dieses Urteil geht an den Beschwerdeführer, das BFM und die kantonale
Migrationsbehörde.

Der vorsitzende Richter: Die Gerichtsschreiberin:

Walter Stöckli Tu-Binh Tschan



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