E-5137/2006 - Abteilung V - Aufhebung vorläufige Aufnahme (Asyl) - Aufhebung der vorläufigen Aufnahme; Verfügung des ...
Karar Dilini Çevir:
E-5137/2006 - Abteilung V - Aufhebung vorläufige Aufnahme (Asyl) - Aufhebung der vorläufigen Aufnahme; Verfügung des ...
Abtei lung V
E-5137/2006
{T 0/2}
U r t e i l v o m 1 1 . A u g u s t 2 0 0 8
Richterin Regula Schenker Senn (Vorsitz),
Richter Thomas Wespi, Richter Bruno Huber,
Gerichtsschreiber Rudolf Raemy.
A._______,
B._______,
C._______,
D._______,
E._______,
F._______,
Kongo (Kinshasa),
alle vertreten durch Irène Rodriguez,
Zürcher Beratungsstelle für Asylsuchende,
Bertastrasse 8, Postfach, 8036 Zürich,
Beschwerdeführende,
gegen
Bundesamt für Migration (BFM),
Quellenweg 6, 3003 Bern,
Vorinstanz.
Aufhebung der vorläufigen Aufnahme; Verfügung des
BFM vom 24. März 2006 / N_______.
B u n d e s v e r w a l t u n g s g e r i c h t
T r i b u n a l a d m i n i s t r a t i f f é d é r a l
T r i b u n a l e a m m i n i s t r a t i v o f e d e r a l e
T r i b u n a l a d m i n i s t r a t i v f e d e r a l
Besetzung
Parteien
Gegenstand
E-5137/2006
Sachverhalt:
A.
Am 17. März 2003 stellte der Beschwerdeführer A._______ (nach-
folgend Beschwerdeführer 1 genannt) für sich und (...) in der Schweiz
ein Asylgesuch, zu welchem er am 19. März 2003 summarisch befragt
und am 15. April 2003 vom damaligen Bundesamt für Flüchtlinge
(BFF) angehört wurde. Zur weiteren Abklärung des Sachverhalts
gelangte das BFF mit Schreiben vom 17. Juli 2003 an die Schweizer
Botschaft in Kinshasa. Das Antwortschreiben der Botschaft vom 26.
August 2003 ging am 4. September 2003 beim BFF ein. Mit Verfügung
vom 11. September 2003 lehnte das BFF das Asylgesuch ab und
ordnete gleichzeitig die Wegweisung der Beschwerdeführenden sowie
den Vollzug der Wegweisung an.
B.
Mit Urteil vom 13. Juli 2004 hiess die damals zuständige Schweizeri-
sche Asylrekurskommission (ARK) die auf den Vollzug der Wegwei-
sung beschränkte Beschwerde vom 29. September 2003 gut und wies
das BFF an, die Beschwerdeführenden zufolge Unzumutbarkeit des
Vollzugs der Wegweisung in der Schweiz vorläufig aufzunehmen.
C.
Am 19. Juli 2004 verfügte das BFF ihre vorläufige Aufnahme.
D.
Mit Schreiben vom 20. Oktober 2005 forderte das BFM die Beschwer-
deführenden im Hinblick auf die periodische Überprüfung der vorläufi-
gen Aufnahme zur Einreichung eines ausführlichen aktuellen Berichts
des behandelnden Spezialarztes von F._______ auf.
E.
Am 23. Dezember 2005 ging beim BFM ein Bericht von Dr. med.
G._______, vom 22. Dezember 2005, unter Beilage einer Kopie des
Berichts von Dr. med. H._______, vom 14. Juni 2005 ein.
F.
Mit Schreiben vom 24. Januar 2006 teilte das BFM den Beschwerde-
führenden mit, gestützt auf das Alter der Kinder, eine Auskunft der
schweizerischen Botschaft in Kinshasa vom 17. Juli 2003 (recte:
26. August 2003) sowie das eingereichte Arztzeugnis vom
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22. Dezember 2005 bestünden keine Gründe mehr für die vorläufige
Aufnahme, und gewährte den Beschwerdeführenden die Möglichkeit
zur schriftlichen Stellungnahme.
G.
Mit Eingabe vom 3. Februar 2006 bestritten die Beschwerdeführenden
die Zumutbarkeit des Vollzugs der Wegweisung und beantragten unter
anderem die Offenlegung der Botschaftsauskunft. Weiter wiesen sie
darauf hin, dass sie keine Kopie des Arztzeugnisses erhalten hätten.
H.
Mit E-Mail vom 13. Februar 2006 gelangte das BFM zur weiteren Ab-
klärung des Sachverhalts erneut an die Schweizer Vertretung in Kin-
shasa.
I.
Mit E-Mail vom 2. März 2006 schickte die Schweizer Botschaft in Kin-
shasa dem BFM die Niederschrift des Berichts einer Vertrauensperson
zu den ihr vom BFM unterbreiteten Fragen.
J.
Mit Schreiben vom 3. März 2006 stellte das BFM den Beschwerdefüh-
renden die Botschaftsanfrage vom 13. Februar 2006, den entspre-
chenden Bericht der Botschaft sowie eine Kopie des ärztlichen Be-
richts vom 22. Dezember 2005 zu und gewährte ihnen die Möglichkeit
zur Stellungnahme.
K.
Mit Eingabe vom 10. März 2006 reichten die Beschwerdeführenden
eine schriftliche Stellungnahme zu den Akten.
L.
[...]*
M.
[...]
N.
Mit Verfügung vom 24. März 2006 hob das BFM die mit Verfügung vom
19. Juli 2004 angeordnete vorläufige Aufnahme auf und forderte die
* Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes anonymisiert.
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Beschwerdeführenden zum Verlassen der Schweiz bis zum 24. Mai
2006 auf.
O.
Mit Eingabe vom 19. April 2006 beantragten die Beschwerdeführenden
bei der ARK die Aufhebung der Verfügung vom 24. März 2006. Es sei
festzustellen, dass der Vollzug der Wegweisung unzulässig, allenfalls
unzumutbar sei und es sei die vorläufig Aufnahme anzuordnen. In ver-
fahrensrechtlicher Hinsicht wurde Verzicht auf die Erhebung eines
Kostenvorschusses sowie Gewährung der unentgeltlichen Rechtspfle-
ge beantragt.
P.
Mit Eingabe vom 21. April 2006 reichten die Beschwerdeführenden ein
Schreiben der Physiotherapeutin von F._______ vom 10. April 2006 zu
den Akten.
Q.
Mit Zwischenverfügung vom 26. April 2006 hiess die ARK das Gesuch
um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege gut und verzichtete
auf die Erhebung eines Kostenvorschusses.
R.
Mit Vernehmlassung vom 1. Mai 2006 beantragte das BFM die Abwei-
sung der Beschwerde.
S.
Mit standardisiertem Schreiben der ARK vom November 2006 (und be-
stätigend mit Anzeige des Bundesverwaltungsgerichts vom 13. April
2007) wurden die Beschwerdeführenden auf den Umstand aufmerk-
sam gemacht, dass das Gericht die ARK per 1. Januar 2007 ersetze
und für die Weiterführung des Verfahrens zuständig sei.
Das Bundesverwaltungsgericht zieht in Erwägung:
1.
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1.1 Gemäss Art. 31 des Verwaltungsgerichtsgesetzes vom 17. Juni
2005 (VGG, SR 173.32) beurteilt das Bundesverwaltungsgericht Be-
schwerden gegen Verfügungen nach Art. 5 des Bundesgesetzes vom
20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren (VwVG,
SR 172.021). Das BFM gehört zu den Behörden nach Art. 33 VGG und
ist daher eine Vorinstanz des Bundesverwaltungsgerichts. Eine das
Sachgebiet betreffende Ausnahme im Sinne von Art. 32 VGG liegt
nicht vor. Das Bundesverwaltungsgericht ist daher zuständig für die
Beurteilung der vorliegenden Beschwerde und entscheidet in diesem
Bereich endgültig (Art. 105 des Asylgesetzes vom 26. Juni 1998
[AsylG, SR 142.31]; Art. 83 Bst. d Ziff. 1 des Bundesgerichtsgesetzes
vom 17. Juni 2005 [BGG, SR 173.110]).
1.2 Das Bundesverwaltungsgericht übernahm am 1. Januar 2007 die
Beurteilung der am 31. Dezember 2006 bei der ARK hängigen Rechts-
mittel. Das neue Verfahrensrecht ist anwendbar (vgl. Art. 53 Abs. 2
VGG).
1.3 Die Beschwerde ist form- und fristgerecht eingereicht. Die Be-
schwerdeführenden sind durch die angefochtene Verfügung berührt
und haben ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung bezie-
hungsweise Änderung. Sie sind daher zur Einreichung der Beschwer-
de legitimiert (Art. 6 AsylG i.V.m. Art. 48, 50 und 52 VwVG). Auf die
Beschwerde ist einzutreten.
1.4 Mit Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht können die
Verletzung von Bundesrecht, einschliesslich Missbrauch und Über-
schreitung des Ermessens, die unrichtige oder unvollständige Feststel-
lung des rechtserheblichen Sachverhalts und die Unangemessenheit
gerügt werden (Art. 106 Abs. 1 AsylG).
2.
Die Vernehmlassung vom 1. Mai 2006 wurde den Beschwerdeführen-
den noch nicht zur Kenntnis gebracht. Auf ihre vorgängige Stellung-
nahme kann angesichts des Ausgangs des vorliegenden Verfahrens
verzichtet werden (vgl. Art. 30 Abs. 2 Bst. c VwVG); die Vernehmlas-
sung wird ihnen zusammen mit diesem Urteil zugestellt.
3.
Die vorliegend zu beurteilende Beschwerde richtet sich gegen die Auf-
hebung der am 19. Juli 2004 verfügten vorläufigen Aufnahme. Zu prü-
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fen ist demnach die Frage, ob die vorläufige Aufnahme vom BFM zu
Recht aufgehoben wurde oder nicht.
3.1 Gemäss Art. 44 Abs. 2 AsylG regelt das BFM das Anwesenheits-
verhältnis nach den gesetzlichen Bestimmungen über die vorläufige
Aufnahme gemäss dem Bundesgesetz vom 16. Dezember 2005 über
die Ausländerinnen und Ausländer (AuG, SR 142.20), wenn der Voll-
zug nicht möglich, nicht zulässig oder nicht zumutbar ist. Das vorlie-
gende Beschwerdeverfahren ist nach dem am 1. Januar 2008 erfolgten
Inkrafttreten des AuG (und der gleichzeitigen Aufhebung des Bundes-
gesetzes vom 26. März 1931 über Aufenthalt und Niederlassung der
Ausländer [ANAG], s. Art. 125 AuG i.V.m. Ziff. I Anhang zum AuG)
nach den entsprechenden Bestimmungen des AuG zu beurteilen.
3.2 Die vorläufige Aufnahme ist im Kern eine Ersatzmassnahme für
den nicht durchführbaren Vollzug der Wegweisung (vgl. in Bezug auf
die Rechtslage unter dem ANAG den Grundsatzentscheid in Entschei-
dungen und Mitteilungen der Schweizerischen Asylrekurskommission
[EMARK] 2006 Nr. 23 E. 6.1.; vgl. zur Rechtsnatur der vorläufigen Auf-
nahme EMARK 2005 Nr. 3 E. 3.2. S. 32 f. und E. 3.4. S. 34, EMARK
2001 Nr. 20 E. 3c/cc/bbb S. 155, EMARK 2000 Nr. 24 E. 2b S. 216; die
entsprechenden Ausführungen gelten grundsätzlich auch für die heuti-
ge Rechtslage gemäss AuG, nachdem dessen Bestimmungen betref-
fend die Anordnung und die Beendigung der vorläufigen Aufnahme in-
haltlich der Regelung gemäss ANAG entsprechen; s. die Botschaft
vom 8. März 2002 zum Bundesgesetz über die Ausländerinnen und
Ausländer, BBl 2002 3818). Gemäss Art. 83 Abs. 1 AuG (entsprechend
dem ehemaligen Art. 14a Abs. 1 ANAG) ist die vorläufige Aufnahme zu
verfügen, wenn der Vollzug der Weg- oder Ausweisung nicht möglich,
nicht zulässig oder nicht zumutbar ist. Nicht möglich ist der Vollzug,
wenn die Ausländerin oder der Ausländer weder in den Herkunfts-
oder in den Heimatstaat noch in einen Drittstaat ausreisen oder dort-
hin gebracht werden kann (Art. 83 Abs. 2 AuG; ehemals Art. 14a
Abs. 2 ANAG). Nicht zulässig ist er, wenn völkerrechtliche Verpflichtun-
gen der Schweiz einer Weiterreise der Ausländerin oder des Auslän-
ders in den Heimat-, Herkunfts- oder in einen Drittstaat entgegenste-
hen (Art. 83 Abs. 3 AuG; ehemals Art. 14a Abs. 3 ANAG). Sodann
kann der Vollzug für Ausländerinnen oder Ausländer unzumutbar sein,
wenn sie in Situationen wie Krieg, Bürgerkrieg, allgemeiner Gewalt
und medizinischer Notlage im Heimat- oder Herkunftsstaat konkret
gefährdet sind (Art. 83 Abs. 4 AuG; ehemals Art. 14a Abs. 4 ANAG).
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3.3 Die Bedingungen für einen Verzicht auf den Vollzug der Wegwei-
sung (Unzulässigkeit, Unzumutbarkeit, Unmöglichkeit) sind alternativer
Natur. Sobald eine von ihnen erfüllt ist, ist der Vollzug der Wegweisung
als undurchführbar zu betrachten und die weitere Anwesenheit in der
Schweiz gemäss den Bestimmungen über die vorläufige Aufnahme zu
regeln (vgl. EMARK 2006 Nr. 6 E. 4.2. S. 54 f.).
3.4 Gemäss Art. 84 Abs. 1 AuG überprüft das Bundesamt nach erfolg-
ter Anordnung einer vorläufigen Aufnahme periodisch, ob die Voraus-
setzungen für die vorläufige Aufnahme noch gegeben sind. Es hebt die
vorläufige Aufnahme auf und ordnet den Vollzug der Weg- oder Aus-
weisung an, wenn die Voraussetzungen nicht mehr gegeben sind
(Art. 84 Abs. 2 AuG). Die Voraussetzungen für die vorläufige Aufnah-
me sind nicht mehr gegeben, wenn der Vollzug der rechtskräftig ange-
ordneten Wegweisung zulässig (Art. 83 Abs. 3 AuG) und es der aus-
ländischen Person zumutbar (Art. 83 Abs. 4 AuG) und möglich (Art. 83
Abs. 2 AuG) ist, sich rechtmässig in ihren Heimat-, in den Herkunfts-
oder in einen Drittstaat zu begeben.
4.
4.1 Gemäss Art. 83 Abs. 4 AuG kann der Vollzug für Ausländerinnen
und Ausländer unzumutbar sein, wenn sie im Heimat- oder Herkunfts-
staat auf Grund von Situationen wie Krieg, Bürgerkrieg, allgemeiner
Gewalt und medizinischer Notlage konkret gefährdet sind. Wird eine
konkrete Gefährdung festgestellt, ist - unter Vorbehalt von Art. 83
Abs. 7 AuG - die vorläufige Aufnahme zu gewähren. Gesundheitliche
Probleme, welche für sich allein betrachtet den Wegweisungsvollzug
nicht bereits als unzumutbar erscheinen lassen, bilden ein Beurtei-
lungselement, welches in die vorzunehmende Interessenabwägung
einbezogen werden muss und zusammen mit weiteren humanitären
Aspekten zur Feststellung der Unzumutbarkeit des Wegweisungsvoll-
zugs führen kann (vgl. EMARK 2003 Nr. 24 E. 5a am Ende und 5b
S. 157 f.). Sind von einem allfälligen Wegweisungsvollzug Kinder be-
troffen, so bildet bei der Zumutbarkeitsprüfung das Kindeswohl einen
Gesichtspunkt von gewichtiger Bedeutung (vgl. EMARK 2005 Nr. 6
E. 6. S. 57 f.).
4.2 Die Vorinstanz stellte sich in der angefochtenen Verfügung auf den
Standpunkt, dass "der Vollzug der Wegweisung heute insgesamt zu-
lässig, möglich und zumutbar" sei, "so dass die vorläufige Aufnahme
gestützt auf Art. 14b Abs. 2 ANAG aufzuheben ist." Die ARK habe in
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ihrem Urteil vom 13. Juli 2004 den Vollzug der Wegweisung aus zwei
Gründen als unzumutbar erachtet. [...]
4.3 Die Beschwerdeführenden stellen sich in ihrer Rechtsmitteleinga-
be auf den Standpunkt, dass eine Rückkehr für sie aufgrund der Ge-
samtheit der Umstände nicht zumutbar sei. [...]
4.4 In seiner Vernehmlassung führte das BFM aus, gemäss
Grundsatzurteil der ARK (EMARK 2004 Nr. 33) sei "der Vollzug der
Wegweisung von Personen, die (kleine) Kinder haben oder für mehre-
re Kinder verantwortlich seien, in aller Regel unzumutbar". Es liege so-
mit eine Regelvermutung vor, welche im Einzelfall umgestossen wer-
den könne. [...]
4.5 In den Erwägungen des Urteils vom 13. Juli 2004 führte die ARK
unter anderem Folgendes aus (vgl. dort E. 6.b)aa)): "Mit Blick auf die
aktuelle politische Lage in der Demokratischen Republik Kongo ist
festzuhalten, dass trotz anhaltender bewaffneter Auseinandersetzun-
gen in dem von Rebellenorganisationen kontrollierten Gebiet im Osten
des Landes nicht auf dem gesamten kongolesischen Staatsgebiet von
einer Situation von Bürgerkrieg oder allgemeiner Gewalt gesprochen
werden kann, die in jedem Fall dem Vollzug der Wegweisung entge-
genstünde. Vielmehr erachtet die ARK den Vollzug der Wegweisung
grundsätzlich als zumutbar, wenn abgewiesene Asylsuchende ihren
letzten Wohnsitz vor der Ausreise in Kinshasa beziehungsweise in ei-
ner Flughafenstadt im Westen des Landes hatten oder aber dort zu-
mindest über intakte soziale Beziehungen verfügen. Auch in solchen
Fällen ist aber bei Personen mit Kindern in jungem Alter dem akuten
Problem der Unterernährung, der weiten Verbreitung schwerer Krank-
heiten sowie der desaströsen medizinischen Versorgungssituation in
der Demokratischen Republik Kongo (vgl. dazu World Health Organi-
zation [WHO], Democratic Republic of the Congo, Selected Indicators,
2001; sowie WHO, Recent disease outbreaks, 2000 - present) ganz
besonders Rechnung zu tragen. Entsprechend geht die ARK in kons-
tanter Praxis weiterhin davon aus, dass bei Personen mit Kindern im
Alter von unter sechs Jahren der Wegweisungsvollzug nur in Ausnah-
mefällen zumutbar ist. Der Beschwerdeführer hat zwar nach eigenen
Aussagen immer in Kinshasa gelebt, wo überdies [...]. Dies ändert
jedoch - entgegen der in der Vernehmlassung vertretenen Ansicht der
Vorinstanz - nichts daran, dass der Vollzug der Wegweisung
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angesichts des jungen Alters der Kinder [...] gestützt auf Art. 14a
Abs. 4 ANAG als nicht zumutbar zu erachten ist."
4.6 Nach der weiterhin gültigen Praxis der ARK ist die Rückkehr von
Personen aus Kongo (Kinshasa) unter bestimmten Umständen zumut-
bar, nämlich dann, wenn der letzte Wohnsitz der betroffenen Person
die Hauptstadt Kinshasa oder eine andere, über einen Flughafen ver-
fügende Stadt im Westen des Landes war, oder wenn die Person in ei-
ner dieser Städte über ein gefestigtes Beziehungsnetz verfügt; trotz
Vorliegens der vorstehend genannten Kriterien erscheint der Vollzug
der Wegweisung jedoch - nach sorgfältiger Prüfung und Abwägung der
individuellen Umstände - in aller Regel nicht zumutbar, wenn die zu-
rückzuführende Person (kleine) Kinder in ihrer Begleitung hat, für meh-
rere Kinder verantwortlich ist, sich bereits in einem vorangeschrittenen
Alter oder in einem schlechten gesundheitlichen Zustand befindet oder
wenn es sich bei ihr um eine allein stehende, nicht über ein soziales
oder familiäres Netz verfügende Frau handelt (vgl. EMARK 2004 Nr.
33).
4.7 Die Beschwerdeführenden stammen aus der Hauptstadt Kinshasa,
wo sie gemäss eigenen Angaben bis zu ihrer Ausreise im Jahre 2002
gelebt haben. Die Lage in der heute rund acht Millionen Einwohner
zählenden Grossstadt kann im Vergleich zu anderen Regionen des
Landes als ruhig und verhältnismässig sicher bezeichnet werden.
Nicht von der Hand zu weisen ist, dass sich die kongolesische Wirt-
schaft wie auch die Verwaltung und allgemeine Infrastruktur nach wie
vor in einem desolaten Zustand befinden, dass die Korruption auch
unter der derzeitigen Regierung ein weit verbreitetes Problem darstellt
und das Gesundheitswesen - welches sich neben vielen anderen
Schwierigkeiten mit dem Problem konfrontiert sieht, dass Kongo (Kin-
shasa) zu den am stärksten von AIDS betroffenen afrikanischen Län-
dern gehört - auch in Kinshasa westlichen Ansprüchen nur dann eini-
germassen zu genügen vermag, wenn der Betroffene ausreichende fi-
nanzielle Mittel besitzt. Die Kosten für Medikamente und Physiothera-
pie gehen vollständig zu Lasten der Patienten, da keine staatlichen
Institutionen bestehen, welche Gesundheitskosten übernehmen. Auch
existieren keine staatlichen Kinderheime. Angesichts der desolaten
ökonomischen Situation der meisten Einwohner Kinshasas überstei-
gen die Kosten für medizinische Behandlungen meist deren finanzielle
Möglichkeiten. Gemäss öffentlich zugänglichen Quellen ist die sozio-
ökonomische Lage in Kinshasa desolat und lediglich 5 Prozent der
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Einwohner erhalten ein regelmässiges Einkommen. Auch Kinshasa ist
zudem von den in den vergangenen Monaten stark gestiegenen Prei-
sen für Lebensmittel betroffen. Zwei Drittel der Bevölkerung leiden an
Unterernährung. Mit der fast hoffnungslosen Armut vieler Familien in
Kinshasa hat sich auch die Lage der Kinder verschlechtert. So gibt es
in den letzten Jahren vermehrt Hinweise, dass Kinder, besonders
wenn sie geistig oder körperlich behindert sind, von ihren Familien ver-
stossen werden und als Strassenkinder enden oder als "enfants sor-
ciers" teils schwersten Misshandlungen ausgesetzt sind. Die Zahl der
Strassenkinder ist in Kinshasa explosionsartig angestiegen. Drei Vier-
tel der Bevölkerung sind sodann zu arm, um sich Zugang zu einer ad-
äquaten medizinischen Versorgung zu verschaffen ("pour avoir accès
aux soins et doivent s’en remettre à des guérisseurs pentecôtistes ou
à des marabouts (zum Ganzen vgl. etwa Le Monde Diplomatique, Les pe-
tits sorciers de Kinshasa, September 2006,
2006/09/DAVIS/13930 ), Messager de Saint'Antoine, Le triste sort des
enfants "sorciers", 2008, -
gina_stampa.asp? , US Department of State, Report on Human Rights
Practices 2007, Democratic Republic of the Congo, 11.03.2008,
, Le Monde Diplomatique,
Les petits sorciers de Kinshasa, September 2006,
/2006/09/DAVIS/13930 , La Prospérité Kinshasa, Hausse des
prix au marché central, la population s'inquiète, 31.05.2008,
, Fonds Houtman, La situati-
on dans les deux Congo,
n/ch05s02.html , taz, Tausend Tricks der Mama sai-sai, 08.03.2008,
http:/1/archiv/dossiers/dossier-frauen/artikel/1/tausend-tricks-der-
mama-sai-sai/ ).
4.8
4.8.1 [...]
4.8.2 [...]
4.8.3 [...]
4.8.4 [...]
4.8.5 [...]
Seite 10
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4.9 Ergänzend ist festzuhalten, dass es die Vorinstanz in der ange-
fochtenen Verfügung unterlassen hat, die Frage zu prüfen, ob ein Voll-
zug der Wegweisung mit dem Schutzanliegen des Kindeswohls zu ver-
einbaren wäre (vgl. dazu EMARK 2005 Nr. 6 E. 6 S. 57 f. mit weiteren
Hinweisen). Aufgrund des Ausgangs des Verfahrens kann jedoch eine
Prüfung, ob ein Wegweisungsvollzug mit Art. 3 Abs. 1 des
Übereinkommens über die Rechte des Kindes vom 20. November
1989 (KRK, SR 0.107) vereinbar wäre, offen gelassen werden.
4.10 [...]
4.11 Im Rahmen einer Gesamtwürdigung sämtlicher Sachverhaltsele-
mente kommt das Bundesverwaltungsgericht zum Schluss, dass der
Wegweisungsvollzug der Beschwerdeführenden nach wie vor als
unzumutbar im Sinne von Art. 83 Abs. 4 AuG zu erachten ist.
4.12 Nachdem keine rechtsgenüglichen Hinweise auf das Vorliegen
von Ausschlussgründen nach Art. 83 Abs. 7 AuG aus den Akten her-
vorgehen, sind die Voraussetzungen für die Beibehaltung der vorläufi-
gen Aufnahme erfüllt.
5.
Nach dem Gesagten ist die Beschwerde gutzuheissen und die Verfü-
gung des BFM vom 24. März 2006 aufzuheben. Somit bleiben die Be-
schwerdeführer vorläufig aufgenommen.
6.
Bei diesem Ausgang des Beschwerdeverfahrens sind keine Kosten zu
erheben (Art. 63 Abs. 1 und 2 VwVG).
7.
7.1 Gemäss Art. 7 Abs. 1 des Reglements vom 21. Februar 2008 über
die Kosten und Entschädigungen vor dem Bundesverwaltungsgericht
(VGKE, SR 173.320.2) haben obsiegende Parteien Anspruch auf eine
Parteientschädigung für die ihnen erwachsenen notwendigen Kosten.
Laut Art. 9 VGKE umfassen die Kosten der Vertretung das Anwaltsho-
norar oder die Entschädigung für eine nichtanwaltliche berufsmässige
Vertretung (Bst. a), den Ersatz von Auslagen (Bst. b) und den Ersatz
der Mehrwertsteuer für die Entschädigungen nach den Buchstaben a
und b, soweit eine Steuerpflicht besteht und die Mehrwertsteuer nicht
bereits berücksichtigt wurde (Bst. c). Das Anwaltshonorar und die Ent-
Seite 11
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schädigung für eine nichtanwaltliche berufsmässige Vertretung werden
nach dem notwendigen Zeitaufwand des Vertreters oder der Vertrete-
rin bemessen (Art. 10 VGKE).
7.2 Die Beschwerdeführenden haben keine Kostennote zu den Akten
reichen lassen. Auf die Nachreichung einer solchen kann jedoch ver-
zichtet werden, nachdem sich der notwendige Vertretungsaufwand zu-
verlässig abschätzen lässt. Die Parteientschädigung ist von Amtes we-
gen und in Berücksichtigung der massgeblichen Bemessungsfaktoren
(vgl. Art. 8 ff. VGKE) auf Fr. 750.-- (inkl. Auslagen) festzusetzen und
den Beschwerdeführenden von der Vorinstanz zu entrichten.
Seite 12
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Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:
1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen und die Verfügung des BFM vom
24. März 2006 wird aufgehoben.
2.
Es werden keine Verfahrenskosten auferlegt.
3.
Das BFM hat den Beschwerdeführenden für das Verfahren vor dem
Bundesverwaltungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 750.-- zu
entrichten.
4.
Dieses Urteil geht an:
- die Rechtsvertreterin der Beschwerdeführenden (Einschreiben; Bei-
lage: Vernehmlassung vom 1. Mai 2006 in Kopie)
- das BFM, Abteilung Aufenthalt und Rückkehrförderung, mit den Ak-
ten Ref.-Nr. N_______ (per Kurier; in Kopie)
- das I._______ (in Kopie)
Die vorsitzende Richterin: Der Gerichtsschreiber:
Regula Schenker Senn Rudolf Raemy
Versand:
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