E-4800/2010 - Abteilung V - Asyl und Wegweisung - Asyl und Wegweisung; Verfügung des BFM vom 31. Mai...
Karar Dilini Çevir:
E-4800/2010 - Abteilung V - Asyl und Wegweisung - Asyl und Wegweisung; Verfügung des BFM vom 31. Mai...
B u n d e s v e rw a l t u ng s g e r i ch t
T r i b u n a l ad m i n i s t r a t i f f éd é r a l
T r i b u n a l e am m in i s t r a t i vo f e d e r a l e
T r i b u n a l ad m i n i s t r a t i v fe d e r a l




Abteilung V
E-4800/2010


U r t e i l v o m 1 0 . O k t o b e r 2 0 1 3
Besetzung

Richter Walter Stöckli (Vorsitz),
Richter Daniele Cattaneo, Richterin Muriel Beck Kadima,
Gerichtsschreiber Thomas Hardegger.
Parteien

A._______, geboren (…), Türkei,
vertreten durch Michael Steiner, Rechtsanwalt, (…),
Beschwerdeführer,


gegen

Bundesamt für Migration (BFM), Quellenweg 6, 3003 Bern,
Vorinstanz.

Gegenstand

Asyl und Wegweisung;
Verfügung des BFM vom 31. Mai 2010 / N (…).


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Sachverhalt:
A.
A.a Der Beschwerdeführer, ein Kurde aus der Provinz B._______ mit
letztem Wohnsitz in C._______, wurde am 13. Oktober 2005 beim Einrei-
seversuch von den Schweizer Grenzbehörden angehalten und stellte
nach der Personenkontrolle ein Asylgesuch.
A.b In den Befragungen vom 21. und 28. Oktober 2005 machte er gel-
tend, sich seit Oktober 2004 in Deutschland aufgehalten zu haben. Die
Türkei habe er aus Sicherheitsgründen verlassen. Seine ganze Familie
habe mit den Behörden Probleme. Nach der Rückreise in die Türkei wür-
de er eliminiert oder im Rahmen des Militärdienstes hingerichtet. Er habe
Todesangst. (...) M. habe sich 1993 der Partiya Karkerên Kurdistan (Ar-
beiterpartei Kurdistans, PKK) als Guerilla angeschlossen. Kämpfer dieser
Organisation hätten in der Folge seine Angehörigen besucht. 1994 habe
die Polizei in der Wohnung des Beschwerdeführers eine Razzia durchge-
führt. Später sei einer seiner Onkel zur PKK gegangen. Zu M. habe er
seit 1995 keinen Kontakt. Er sei später mehrmals für jeweils kurze Zeit
festgenommen worden. Zu dieser Zeit habe er sich in der demokratischen
Studentenbewegung engagiert. Nach den Wahlen vom 3. November
2002 habe er sich ins nordirakische Kandil-Gebirge begeben, wo er sich
der PKK angeschlossen und eine rund zweimonatige politische Ausbil-
dung absolviert habe. Anschliessend sei er in die Türkei zurückgekehrt.
Die Polizei müsse erfahren haben, dass er sich im Irak aufgehalten habe,
denn er sei unter dem Vorwand der "Ereignisse vom (…) 2003" verhaftet
worden. (…) Monate später hätten ihn die Behörden freigelassen. An-
schliessend sei er nach C._______ gereist, wo sich seine Familie seit (…)
aufhalte. Er habe sich an der Universität einschreiben wollen. Am (…)
2003 (…) sei er von der Polizei angehalten und der Abteilung für Terror-
bekämpfung zugeführt worden. Unter Vorhalten einer Waffe habe man
Namen von Beteiligten und ein Geständnis eines Aufenthalts im PKK-
Lager von ihm gefordert und habe ihn dann freigelassen unter der Andro-
hung schwerer Nachteile für den Fall, dass er den Menschenrechtsverein
informiere. Er sei von da an beschattet worden. Es sei gegen ihn ein
Strafverfahren hängig. Bei einem der gegen ihn bereits erfolgten Urteile
sei er zu einer bedingt zu vollziehenden Strafe von (…) Jahren Gefängnis
verurteilt worden, was er im Jahr 2004 erfahren habe. An der Universität
habe er im selben Jahr sein im (…) begonnenes Studium als (…) abge-
schlossen. Anschliessend sei er keiner geregelten Arbeit nachgegangen.
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In Deutschland habe er kein Asylgesuch gestellt, weil die Politik Deutsch-
lands gegenüber Kurden negativ belastet sei. So garantiere Deutschland
keine Meinungsfreiheit, verbiete Zeitungen und schiebe eingebürgerte
kurdische Flüchtlinge in die Türkei ab. Die Schweiz sei nicht viel besser.
Anlässlich seiner Anhaltung vom 13. Oktober 2005 durch das Schweizer
Grenzwachtkorps sei er einer Leibesvisitation unterzogen worden, die ihn
stark an einen der vielen Vorfälle in der Türkei erinnert habe. Er fürchte
sich vor polizeilichen Befragungen. Mit den abgegebenen Dokumenten
(vgl. Liste der 21 eingereichten gerichtsmedizinischen und gerichtlichen
Dokumente Vorakten A1 S. 8 und Beweismittelcouvert B33) und seinen
Angaben habe er kaum einen Drittel des in der Türkei persönlich Erlebten
aktenkundig machen können.
A.c Auf Anfrage des BFM erklärten die deutschen Behörden, der Be-
schwerdeführer sei am 29. Oktober 2004 mit einem in C._______ ausge-
stellten und bis (…) 2005 gültigen Visum nach Deutschland gelangt. Am
25. April 2005 habe er von der Ausländerbehörde (…) gestützt auf seinen
türkischen Pass (…) eine Aufenthaltserlaubnis für Deutschland erhalten.
A.d Mit Zwischenverfügung vom 4. November 2005 hat das BFM seine
vorsorgliche Wegweisung (nach damaligem Recht: Art. 42 Abs. 2 alt
AsylG) nach Deutschland angeordnet und einer allfälligen Beschwerde
die aufschiebende Wirkung entzogen. Er wurde am (…) 2005 an
Deutschland überstellt.
A.e Eine gegen diese Zwischenverfügung erhobene Beschwerde wurde
mit Beschluss der Schweizerischen Asylrekurskommission (ARK) vom 1.
Dezember 2005 als durch Rückzugserklärung vom 29. November 2005
erledigt abgeschrieben. Im Rahmen dieses Beschwerdeverfahrens wurde
erklärt, M. sei bei Kämpfen umgekommen.
B.
B.a Mit Schreiben des damaligen Rechtsvertreters vom 23. Mai 2006
wurde dem BFM mitgeteilt, der Beschwerdeführer habe kein Aufenthalts-
recht mehr in Deutschland. Er habe die Ausschaffung in die Türkei zu be-
fürchten, da er in Deutschland kein Asylgesuch gestellt habe. Er beantra-
ge, sein Asylgesuch rasch zu prüfen und einem Entscheid zuzuführen.
B.b Das BFM wies das Asylgesuch mit Verfügung vom 30. Juni 2006 ab
mit der Begründung, dem Beschwerdeführer sei zuzumuten, in Deutsch-
land, wo er sich legal aufgehalten habe, um Schutz nachzusuchen.
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Seite 4
C.
C.a Der Beschwerdeführer sprach am 30. Juni 2006 im Empfangs- und
Verfahrenszentrum (EVZ) Basel vor und erfuhr dort von der gleichentags
erfolgten Abweisung seines Asylgesuchs. Verzugslos stellte er vor Ort ein
zweites Asylgesuch.
C.b Das BFM brach eine erste Anhörung vom 11. Juli 2006 wegen unko-
operativen und aggressiven (verbalen) Verhaltens des Beschwerdefüh-
rers ab (vgl. Akten- und Gesprächsnotizen B5/1 und B7/2). Der Be-
schwerdeführer behauptete, im Mai 2006 von Deutschland unter Verwen-
dung eines so genannten grünen Passes in die Türkei gereist zu sein, da
er damals erfahren habe, dass (...) M. gefallen sei. Fünfzehn bis zwanzig
Tage später sei er unter Benutzung der gleichen Passes von C._______
auf dem Luftweg in die Schweiz gereist. Weitergehende Angaben verwei-
gerte er.
C.c In der Anhörung vom 18. Juli 2006 weigerte sich der Beschwerdefüh-
rer erneut, dem BFM Modalitäten seiner Reisen, beispielsweise die Daten
seiner Reisen von Deutschland in die Türkei und von dort in die Schweiz
– die Ausreise aus der Türkei soll im Monat Juni 2006 stattgefunden ha-
ben – bekannt zu geben. Er stellte sich auf den Standpunkt, die am 21.
und 28. Oktober 2005 zu Protokoll gegebenen Asylgründe würden unge-
achtet seines Aufenthalts in der Türkei genügen. Er werde von türkischen
Behörden als ein der PKK nahestehender Kurde verfolgt und stamme aus
einer Familie, die in den Fokus türkischer Behörden geraten sei. Er würde
bei der Rückreise angehalten, ins Gefängnis gesteckt und getötet. Vor
der Einreise in die Schweiz (im Mai 2006) habe er sich rund fünfzehn bis
zwanzig Tage lang im Stadtteil D._______der Stadt C._______ versteckt
gehalten. Die Reise in die Türkei habe er unternommen, weil er kurz zu-
vor erfahren habe, dass M. getötet worden sei, und er sich verpflichtet ge-
fühlt habe, sich bei den eigenen Angehörigen zu zeigen. Er habe bei den
Reisen einen ihm nicht zustehenden Reisepass verwendet.
C.d Mit Zuschrift vom 12. Juni 2007 reichte der damalige Rechtsvertreter
einen Datenträger (DVD) mit einem Fernsehbericht zu M. sowie eine No-
tiz über den Inhalt der DVD ein.
C.e Das BFM forderte ihn mit Schreiben vom 15. September 2008 auf,
bis zum 15. Oktober 2008 seinen Reisepass, den er seinen Angaben zu-
folge bei Verwandten in Deutschland deponiert habe, einzureichen.
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C.f Mit Schreiben vom 15. Oktober 2008 teilte der Beschwerdeführer dem
BFM mit, sein Pass sei nun verschollen.
C.g Die Anhörung des Beschwerdeführers zu den Asylgründen fand am
21. Januar 2009 statt. Er machte geltend, sich als Kurde im demokrati-
schen Rahmen für den Freiheitskampf eingesetzt zu haben, sowohl durch
zivilen Ungehorsam, als auch durch tatkräftige Mithilfe an Protestaktionen
oder das Organisieren spontaner Aktivitäten. Er habe sich für das Mitma-
chen in einer demokratischen Nachfolgebewegung des Jugendflügels der
Halkın Demokrasi Partisi (HADEP, Partei der Demokratie des Volkes) in-
teressiert und sich nach dem Beitritt zur PKK im iranischen Kandil-
Gebirge zwei Monate lang in politischer Hinsicht ausbilden lassen. Seine
Aufgabe habe darin bestanden, Jugendliche von Gymnasien und Univer-
sitäten für die Organisation anzuwerben. Mit weiteren Gesinnungsgenos-
sen sei er seit 1999 (…) auf der Strasse festgenommen worden; einmal
sei er inhaftiert und im Gefängnis malträtiert worden. Er sei einmal wegen
der Kampagne für die kurdische Sprache, ein anderes Mal wegen Unter-
stützung einer Organisation und ein drittes Mal wegen Widerstandes ge-
gen die Polizei angeklagt worden. Das erste Verfahren sei mutmasslich
eingestellt worden und die andern dürften noch hängig sein, wobei er
mittlerweile erstinstanzlich zu einer bedingten Strafe von (…) Jahren Ge-
fängnis und einer Busse verurteilt worden sein dürfte. Verwandte von ihm
seien als Märtyrer gefallen. Bei der Antiterroreinheit der Türkei existiere
über ihn mutmasslich ein Datenblatt. Die Polizei dürfte ihn weiterhin
überwachen und seine Tätigkeiten dokumentieren. Aus Furcht, getötet zu
werden, sei er am (…) 2004 mit einem Studentenvisum ausgereist. Im
Übrigen hätten sich vor einiger Zeit zu Hause Zivilpolizisten nach ihm er-
kundigt. In Deutschland habe er sich nicht politisch betätigt.
C.h Das BFM forderte den Beschwerdeführer am 10. März 2009 auf, dem
Amt Strafakten und Beweismittel einzureichen. Dieser reichte am 9. April
2009 zwölf Beweismittel ein, darunter türkische Polizeiakten, Anklage-
schriften, Gerichtsentscheide, Zeitungsberichte und Bestätigungsschreiben.
C.i Am 12. Juni 2009 ersuchte das BFM die Schweizerische Vertretung in
Ankara um vertiefte Abklärungen.
C.j Die Antwort der Botschaft datiert vom 4. August 2009. Darin wird be-
stätigt, dass zwei Strafverfahren durch Urteile (…) vom (…) 2003 abge-
schlossen worden seien; in beiden Verfahren sei er freigesprochen wor-
den. Er sei indessen im Verfahren vor der Strafkammer (…) am (…) 2004
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zu einer bedingten Gefängnisstrafe von (…) Monaten und einer Busse
verurteilt worden. Er habe kein Datenblatt, unterstehe keinem Passverbot
und werde in der Türkei nicht gesucht. Sein Pass sei im 2004 in
C._______ ausgestellt worden und sei bis (…) gültig gewesen.
C.k Dem Beschwerdeführer wurde dazu das rechtliche Gehör gewährt. Er
nahm mit Eingabe vom 10. Mai 2010 Stellung.
D.
Das BFM stellte mit Verfügung vom 31. Mai 2010 – eröffnet am 1. Juni
2010 – fest, der Beschwerdeführer erfülle die Flüchtlingseigenschaft
nicht, lehnte das Asylgesuch vom 30. Juni 2006 ab, verfügte seine Weg-
weisung aus der Schweiz und ordnete den Vollzug an.
E.
Der Beschwerdeführer zeigte dem BFM mit Schreiben vom 10. Juni 2010
das neue Vertretungsverhältnis an und ersuchte um Akteneinsicht, wel-
che das BFM ihm teilweise gewährte.
F.
Der Beschwerdeführer erhob am 1. Juli 2010 gegen die Verfügung des
BFM Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht und beantragte Akten-
einsicht (Akten des ersten Asylverfahrens A1 ff., Akten B4/1, B5/1, B11/1,
B23/1, B34/4, die DVD im Aktencouvert B33 und Vollzugsakten), in der
Folge die Gewährung des rechtlichen Gehörs und Ansetzung einer an-
gemessenen Frist zur Einreichung einer Beschwerdeergänzung, die Auf-
hebung der angefochtenen Verfügung und Rückweisung der Sache ans
BFM, eventualiter Asylgewährung, subeventualiter Feststellung der Unzu-
lässigkeit oder Unzumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs sowie vor Er-
lass des Endentscheides die Ansetzung einer angemessenen Frist zur
Einreichung einer Kostennote des Rechtsvertreters.
G.
G.a Mit Zwischenverfügung vom 10. September 2010 verzichtete der In-
struktionsrichter auf die Erhebung eines Kostenvorschusses, wies den
Antrag auf Einsicht in die Akten B11/1 und B23/1 ab, hiess die Anträge
auf Einsicht in die Vorakten und auf Visionierung der DVD und der einge-
reichten Beweismittel gut, räumte dem Beschwerdeführer das Recht auf
Akteneinsicht und Visionierung der DVD am Sitz des Bundesverwal-
tungsgerichts sowie nach erfolgter Akteneinsicht auf Nachreichung einer
allfälligen Stellungnahme ein und wies den Antrag auf Ansetzung einer
formellen Frist zur Einreichung einer Honorarnote ab.
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G.b Am 28. Oktober 2010 fand die stündige Akteneinsicht und Visionie-
rung der DVD am Sitz des Bundesverwaltungsgerichts in Anwesenheit
des Beschwerdeführers, einer von ihm bezeichneten Dolmetscherin und
einer Praktikantin des Rechtsvertreters statt. Die Rechtsvertretung erklär-
te den Verzicht auf Zustellung von kopierten Dokumenten.
G.c Mit Stellungnahme vom 12. November 2010 äusserte sich der Be-
schwerdeführer zur Visionierung der DVD und legte seinem Schreiben
folgende Akten bei: ein Rapport der Praktikantin zum Inhalt der DVD, In-
ternetauszüge zu Ereignissen vom 31. Oktober und 4. November 2010,
Bestätigungsschreiben der Schwester und zweier Freunde sowie eine
Honorarnote per 12. November 2010.
G.d Mit Schreiben vom 12. September 2012 teilte er mit, dass einen Mo-
nat zuvor zivile Polizisten bei den Eltern zu Hause erschienen seien und
nach ihm gesucht hätten. Die Polizisten hätten dem Vater schwere
Nachteile angedroht, falls dieser die Polizei bei der Einreise des Sohnes
oder über Kontaktnahmen mit ihm nicht informieren werde. Die Polizisten
hätten angegeben zu wissen, dass er sich im Ausland aufhalte, aber ver-
schwiegen, weshalb sie nach ihm suchten. Ein Polizist habe dem Vater
insofern bedroht, als er sagte, er solle aufpassen, denn er wisse schon
warum sie da seien. Die Familie fürchte sich, telefonisch detaillierter über
den Vorfall zu berichten.
G.e Mit Schreiben vom 17. Oktober 2012 reichte der Beschwerdeführer
eine vom (…) 2012 datierte Mitgliedsbestätigung der Föderation Kurdi-
scher Vereine in der Schweiz (FEKAR), Sektion (…), ein. Es gehe aus
dieser Bestätigung hervor, dass er im erwähnten Verein aktiv sei, sich an
politischen Aktivitäten – namentlich auch vor dem türkischen Konsulat –
beteiligt habe, aus einer politisch interessierten Familie stamme und (…).
Weiter würden darin die Hausdurchsuchungen, Unterdrückungen des Be-
schwerdeführers durch die türkische Polizei und sein (…)-monatiger Auf-
enthalt in einem Gefängnis bestätigt.
G.f Das Bundesverwaltungsgericht verzichtete auf die Einholung einer
Vernehmlassung.

Das Bundesverwaltungsgericht zieht in Erwägung:
1.
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1.1 Gemäss Art. 31 des Verwaltungsgerichtsgesetzes vom 17. Juni 2005
(VGG, SR 173.32) beurteilt das Bundesverwaltungsgericht Beschwerden
gegen Verfügungen nach Art. 5 des Bundesgesetzes vom 20. Dezember
1968 über das Verwaltungsverfahren (VwVG, SR 172.021). Das BFM ge-
hört zu den Behörden nach Art. 33 VGG und ist daher eine Vorinstanz
des Bundesverwaltungsgerichts. Eine das Sachgebiet betreffende Aus-
nahme im Sinne von Art. 32 VGG liegt nicht vor. Das Bundesverwaltungs-
gericht ist daher zuständig für die Beurteilung der vorliegenden Be-
schwerde und entscheidet auf dem Gebiet des Asyls in der Regel – so
auch vorliegend – endgültig (Art. 105 des Asylgesetzes vom 26. Juni 1998
[AsylG, SR 142.31]; Art. 83 Bst. d Ziff. 1 des Bundesgerichtsgesetzes
vom 17. Juni 2005 [BGG, SR 173.110]).
1.2 Das Verfahren richtet sich nach dem VwVG, soweit das VGG und das
AsylG nichts anderes bestimmen (Art. 37 VGG und Art. 6 AsylG).
1.3 Die Beschwerde ist frist- und formgerecht eingereicht. Der Beschwer-
deführer hat am Verfahren vor der Vorinstanz teilgenommen, ist durch die
angefochtene Verfügung besonders berührt und hat ein schutzwürdiges
Interesse an deren Aufhebung beziehungsweise Änderung. Er ist daher
zur Einreichung der Beschwerde legitimiert (Art. 105 und Art. 108 Abs. 1
AsylG, Art. 37 VGG, Art. 48 Abs. 1 und Art. 52 VwVG). Auf die Beschwer-
de ist einzutreten.
1.4 Mit Beschwerde kann die Verletzung von Bundesrecht, die unrichtige
oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts und
die Unangemessenheit gerügt werden (Art. 106 Abs. 1 AsylG).
2.
2.1 Vorab sind die formellen Rügen des Beschwerdeführers zu behan-
deln, da ihre berechtigte Erhebung allenfalls zur Aufhebung der vo-
rinstanzlichen Verfügung führen könnte.
2.2 Die Forderung, wonach der Beschwerdeführer wegen erlittener Miss-
handlungen im Geschlechtsbereich von einer reinen Männerrunde hätte
befragt werden sollen, ist zu spät erfolgt. Das Gesuch um eine neue An-
hörung hätte im Vorverfahren, wo er professionell vertreten war, erhoben
und begründet werden müssen. Zudem schweigt sich der Beschwerde-
führer auch in der Rechtsschrift darüber aus, was er sich von einer weite-
ren Befragung in neuer Zusammensetzung verspricht, zumal er die knap-
pe Schilderung der erlittenen Misshandlung (Zusammendrücken der Ho-
den) nicht ergänzt und keinen Arztbericht einreicht. Auch die Forderung
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nach einer neuen Anhörung zu eingereichten Beweismitteln oder die
Durchführung weiterer Abklärungen zur Registrierung und zum Tod (…)
M., zur Militärdienstpflicht, zum Studium und dessen Unterbrechung etc.
(vgl. u.a. Beschwerde S. 13) werden nicht nachvollziehbar begründet,
weshalb auch diese Anträge nicht sachgerecht erscheinen und abzuwei-
sen sind.
Im vorstehenden Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Be-
schwerdeführer die Protokolle stets nach Rückübersetzungen in eine ihm
geläufige Sprache vorbehaltlos unterzeichnet hat, weshalb er bei seinen
Aussagen zu behaften ist und sich falsche oder unterlassene Protokollie-
rungen selber anzurechnen hat (vgl. Art. 7 Abs. 3 und Art. 8 Abs. 1
AsylG). Wenn er im EVZ Basel aussagt, die abgegebenen Dokumente
würden nur 20–30% seiner Erlebnisse wiederspiegeln, und in der Anhö-
rung vom 21. Januar 2009 behauptet, die Dokumente, die er einreichen
könnte, bestünden aus Tausenden von Seiten (A2 S. 6, B20 S. 10), ist er
daran zu erinnern, dass er jahrelang genügende Möglichkeiten gehabt
hat, seine Behauptungen zu substanziieren und zu belegen. So bleibt un-
erklärlich, warum er die Anhörung vom 21. Januar 2009 nicht dazu be-
nützt hat, Wichtiges zu ergänzen, wenn er dem Inhalt der am 12. Juni
2007 eingereichten DVD eine zentrale Rolle im Verfahren zuschreibt.
Ferner entpuppte sich die übrige auf Beschwerdestufe erhobene Kritik an
der vorinstanzlichen Abklärungs- und Begründungspraxis als aufgesetzt.
Die behaupteten Sachverhaltslücken in der angefochtenen Verfügung, die
angeblich für ihn sprechen könnten, wurden von ihm bloss pauschal an-
gesprochen, nicht aber gefüllt. Die Rüge des ungenügend festgestellten
Sachverhaltes erweist sich demnach als nicht stichhaltig. Das BFM hat in
den Anhörungen seinem Persönlichkeitsprofil genügend Rechnung getra-
gen. Die im Vorverfahren erstellten Unterlagen und Beweismittel stellen
damit eine rechtsgenügende Basis für den Entscheid dar.
2.3 Der Beschwerdeführer behauptete, das BFM habe ihm die Aktenein-
sicht unrechtmässig verweigert und unvollständig Akteneinsicht gewährt.
Sein rechtlicher Gehörsanspruch sei verletzt, der rechtserhebliche Sach-
verhalt unvollständig und nicht richtig abgeklärt worden. So habe ihm das
BFM nicht sämtliche Aktenstücke, namentlich keine Aktenstücke der frü-
heren Verfahren, nicht alle Beweismittel sowie keine Vollzugsakten zur
Einsicht zugestellt. Zudem würde sich das BFM einer (bewusst) falschen
Qualifizierung von Aktenstücken bedienen. Es qualifiziere Aktenstücke als
interne Papiere (namentlich B4/1, B23/1, B34/4) oder verneine deren Re-
levanz für den Entscheid. Zudem habe es eingereichte Beweismittel ent-
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gegengenommen, ohne sie zu würdigen, was zur Aufhebung der ange-
fochtenen Verfügung führen sollte. Die Akten B5/1 und B11/1 seien zu
Unrecht als Aktenstücke mit Geheimhaltungsinteresse bezeichnet wor-
den. Gleichzeitig werde nicht begründet, weshalb eine Einsicht in diese
Aktenstücke nach einer erfolgten Anonymisierung nicht erfolgen dürfe.
Selbst eine Kontrolle des Inhalts der DVD und die Einsicht in die Voll-
zugsakten werde vom BFM verweigert, obschon diesen Beweismitteln ei-
ne wichtigere Bedeutung im Verfahren zukomme. Zudem habe es die
DVD und die Zusammenfassung vom 12. Juni 2007 in ihrer Bedeutung
für das Verfahren verkannt und sie nicht in der angefochtenen Verfügung
beachtet. Weiter gewähre es rund um die getätigten Botschaftsabklärun-
gen nicht die nötige Transparenz. Es würden beispielsweise die Antwor-
ten auf die nachfolgenden Fragen nicht offen gelegt und wer wann welche
Sachverhaltsfeststellung auf welche Art und Weise in welcher Güte abge-
klärt habe. Es sei auch nicht erkennbar, ob es sich um Auskünfte eines
Amtes oder um Zeugnisse von Drittpersonen handle. Damit sei es einem
Betroffenen unmöglich, zu den Ergebnissen der Botschaft eingehend
Stellung zu beziehen, weil die konkreten Umstände der Abklärungen nicht
zu erfahren seien. Zudem beschäftige sich das BFM bruchstückhaft mit
Vorbringen, die im Rahmen einer vollständigen Abklärung des rechtser-
heblichen Sachverhalts hätten berücksichtigt werden müssen.
2.4 Der Beschwerdeführer konnte die vom BFM in der angefochtenen
Verfügung unerwähnt gebliebenen Beweismittel auf Beschwerdestufe er-
neut ansprechen. Spätestens durch die Nachprüfung aller Beweismittel-
durch das Gericht steht fest, dass ihm kein erkennbarer erheblicher
Nachteil entstanden ist, zumal noch keine Verletzung der Begründungs-
pflicht erfolgt, wenn die Vorinstanz gewisse Beweismittel oder Details
nicht erwähnt, weil sie nach ihrer Auffassung keine wesentliche andere
Erkenntnis vermitteln. Diese Sichtweise kam bei der Vorinstanz offenbar
zum Tragen im Bereich der angegebenen psychischen Probleme des Be-
schwerdeführers und bei der (…)monatigen Haft mit angeblichen Behelli-
gungen. Die psychischen Probleme des Beschwerdeführers wurden trotz
professioneller Vertretung weder vom Beschwerdeführer als bedeutsam
hervorgehoben, noch mit einem Zeugnis eines anerkannten Psychiaters
und Psychologen belegt, weshalb das BFM nachvollziehbarerweise da-
von ausgegangen sein dürfte, die gesundheitliche Komponente habe im
Verfahren keine für den Ausgang erhebliche Tragweite, auch wenn eine
transparentere Darstellung dieser Einschätzung in der angefochtenen
Verfügung wünschbar gewesen wäre. Die (…)-monatige Haft wurde in
flüchtlingsrechtlicher Hinsicht als nicht relevant erachtet, da die Strafver-
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fahren abgeschlossen seien, und wurde damit – entgegen der Behaup-
tungen des Beschwerdeführers – vom BFM gewürdigt.
Was die geforderten Angaben über die von der Botschaft beauftragten
Vertrauenspersonen, den Zeitpunkt deren Abklärungen von Einträgen in
Registern, von Polizei-, Staatsanwaltschafts- und Gerichtsunterlagen etc.
und die Abklärungsmethoden betrifft, kann aus Gründen des öffentlichen
Interesses an der Geheimhaltung sowie aus Gründen des Quellen- und
Persönlichkeitsschutzes keine eingehende Auskunft gegeben werden.
2.5 Mit Zwischenverfügung 10. September 2010 wurden die Gesuche um
Einsicht in die Akten B11/1 und B23/1 vom Instruktionsrichter abgewie-
sen; gutgeheissen hat er indessen die Einsicht in die Vorakten und die
eingereichten Beweismittel sowie den Antrag auf Visionierung der DVD.
Weiter wurde dem Beschwerdeführer nach erfolgter Sitzung vom 28. Ok-
tober 2010, in der ihm allumfassende Akteneinsicht in alle andern von ihm
gewünschten Dokumente gewährt wurde, eine Frist zur Beschwerdeer-
gänzung angesetzt. Auch nach seiner Stellungnahme hätte die Gelegen-
heit bestanden, entscheidwesentliche Informationen nachzuliefern (vgl.
Art. 32 Abs. 2 VwVG).
2.6 Zusammenfassend sind im Urteilszeitpunkt keine erheblichen Hinwei-
se auf eine Verletzung des Gehörsanspruchs des Beschwerdeführers, ei-
ne ungenügende Sachverhaltsfeststellung oder eine ungenügende Be-
gründung erkennbar. Die Anträge auf Offenlegung weitergehender Infor-
mationen über die erfolgten Botschaftsabklärungen sowie auf Kassation
der angefochtenen Verfügung zwecks Neubefragung des Beschwerde-
führers und neuer Entscheidung sind demzufolge abzuweisen.
3.
3.1 Gemäss Art. 2 Abs. 1 AsylG gewährt die Schweiz Flüchtlingen grund-
sätzlich Asyl, sofern keine Asylausschlussgründe vorliegen (Art. 2 Abs. 1,
Art. 49–55 AsylG).
Flüchtlinge sind Personen, die in ihrem Heimatstaat oder im Land, in dem
sie zuletzt wohnten, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörig-
keit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen
Anschauungen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete
Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden; als ernsthafte
Nachteile gelten namentlich die Gefährdung des Leibes, des Lebens oder
der Freiheit sowie Massnahmen, die einen unerträglichen psychischen
Druck bewirken (Art. 3 AsylG). Als Flüchtlinge gelten auch Personen, die
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nach ihrer Ausreise aufgrund von Tatsachen, die nicht von ihnen zu ver-
antworten sind, Verfolgung befürchten müssen (sog. objektive Nach-
fluchtgründe), oder die erst durch ihre Ausreise aus dem Heimat- oder
Herkunftsstaat oder wegen ihres Verhaltens nach der Ausreise im Falle
einer Rückkehr ernsthaften Nachteilen ausgesetzt wären (sog. subjektive
Nachfluchtgründe).
Nach Lehre und Rechtsprechung erfüllt eine asylsuchende Person die
Flüchtlingseigenschaft i.S. von Art. 3 AsylG, wenn sie mit beachtlicher
Wahrscheinlichkeit und in absehbarer Zukunft mit gutem Grund Nachteile
von bestimmter Intensität befürchten muss, die ihr gezielt und aufgrund
bestimmter Verfolgungsmotive zugefügt zu werden drohen und vor denen
sie keinen ausreichenden staatlichen Schutz erwarten kann (vgl. BVGE
2008/4 E. 5.2 m.w.H.). Die in Art. 3 Abs. 1 AsylG erwähnten fünf Verfol-
gungsmotive sind über die sprachlich allenfalls engere Bedeutung ihrer
Begrifflichkeit hinaus so zu verstehen, dass die Verfolgung wegen äusse-
rer oder innerer Merkmale, die untrennbar mit der Person oder Persönlich-
keit des Opfers verbunden sind, erfolgt ist beziehungsweise droht (vgl.
BVGE 2013/11 E. 5.1 m.w.H.).
Nicht Flüchtling ist, wer bereits im Zeitpunkt des Entscheides über das
Bestehen der Flüchtlingseigenschaft einen Beendigungsgrund im Sinne
des Asylgesetzes und des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die
Rechtsstellung der Flüchtlinge (FK, SR 0.142.30), namentlich einen Aber-
kennungsgrund i.S. von Art. 63 Abs. 1 Bst, b AsylG i.V.m. Art. 1 Bst. C
Ziff. 1–6 FK, erfüllt.
3.2 Wer um Asyl nachsucht, muss die Flüchtlingseigenschaft nachweisen
oder zumindest glaubhaft machen.
Massgeblich für die Beurteilung der Flüchtlingseigenschaft ist nicht die Si-
tuation im Zeitpunkt der Ausreise, sondern die Situation im Zeitpunkt des
Asylentscheides, wobei allerdings erlittene Verfolgung oder begründete
Furcht vor Verfolgung im Zeitpunkt der Ausreise ein Hinweis auf weiter-
bestehende Gefährdung sein kann. Veränderungen der objektiven Situa-
tion im Heimatstaat zwischen Ausreise und Asylentscheid sind zugunsten
und zulasten der Asylgesuch stellenden Person zu berücksichtigen
(BVGE 2008/4 E.5.4 und BVGE 2007/31 E. 5.3, m.w.H.).
Die Flüchtlingseigenschaft ist nachzuweisen, soweit der Beweis möglich
ist; andernfalls genügt die Glaubhaftmachung. Sie ist glaubhaft gemacht,
wenn die Behörde ihr Vorhandensein mit überwiegender Wahrscheinlich-
E-4800/2010
Seite 13
keit für gegeben hält. Unglaubhaft sind insbesondere Vorbringen, die in
wesentlichen Punkten zu wenig begründet oder in sich widersprüchlich
sind, den Tatsachen nicht entsprechen oder massgeblich auf gefälschte
oder verfälschte Beweismittel abgestützt werden (Art. 7 AsylG). Die An-
forderungen an den Nachweis beziehungsweise die Glaubhaftmachung
einer begründeten Furcht i.S. von Art. 3 AsylG sind auch massgebend bei
der Ermittlung von Nachfluchtgründen, wobei der strikte Beweis bei den
in der Schweiz entstandenen in der Regel möglich ist.
Personen, die wegen subjektiver Nachfluchtgründe als Flüchtlinge im
Sinne des Gesetzes gelten, erhalten gemäss Art. 54 AsylG kein Asyl,
werden jedoch unter Anerkennung ihrer Flüchtlingseigenschaft vorläufig
aufgenommen, da der Vollzug der Wegweisung in den verfolgenden Hei-
matstaat unzulässig ist (Art. 5 und Art. 44 Abs. 2 AsylG i.V.m. Art. 83
Abs. 3 des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 über die Auslände-
rinnen und Ausländer [AuG, SR 142.20]). Der Asylausschlussgrund von
Art. 54 AsylG ist absolut zu verstehen und unabhängig davon anzuwen-
den, ob Nachfluchtgründe missbräuchlich gesetzt worden sind oder nicht.
Nicht von Interesse ist daher, was die asylsuchende Person durch ihre
exilpolitischen Tätigkeiten zu erreichen versucht hat.
3.3 Das BFM begründete seine ablehnende Haltung im Flüchtlings- und
Asylpunkt damit, dass die geltend gemachten Verfolgungsvorbringen wi-
dersprüchlich, unglaubhaft und flüchtlingsrechtlich nicht relevant seien.
Widersprüche erkannte das BFM bei den Angaben der Haftzeiten: Der
Beschwerdeführer habe in der Anhörung erklärt, nach der letzten Unter-
suchungshaft vom (…) 2003 nicht mehr festgenommen worden zu sein,
während er in einer früheren Befragung von einer Festnahme am (…) ge-
sprochen, bei der er von Spezialtruppen unter Druck gesetzt und nament-
lich eine Waffe gegen seinen Kopf gerichtet worden sei. Weiter sei davon
auszugehen, dass er seinem Gesuch durch Übertreibungen Gewicht zu
verleihen versuche. Seine Vorbringen würden den Anforderungen an die
Glaubhaftmachung nicht genügen.
Die in der Vergangenheit stattgefundenen verschiedenen Strafverfahren
gegen den Beschwerdeführer seien beendigt, wobei nicht ausgeschlos-
sen werden könne, dass er damals Opfer behördlicher Übergriffe gewor-
den sei. In zwei der Urteile sei er freigesprochen worden, in einem dritten
Urteil aus dem Jahr (…) sei er zu einer bedingten Freiheitsstrafe verurteilt
worden. Mittlerweile sei die Probezeit abgelaufen, über den Beschwerde-
führer bestünden keine Datenblätter und er unterliege keinem Passver-
E-4800/2010
Seite 14
bot. Aus der Einleitung von Strafverfahren in der Vergangenheit könne
nicht abgeleitet werden, dass er heute noch von asylrechtlich relevanter
Verfolgung bedroht sei.
Hinsichtlich der Befürchtungen des Beschwerdeführers, künftig staatli-
chen Verfolgungsmassnahmen ausgesetzt zu sein, wies das BFM darauf
hin, dass er im Herbst 2004 legal aus seinem Heimatland ausgereist und
nach seiner Asylgesuchstellung in der Schweiz im Juni 2006 wieder in die
Türkei zurückgekehrt sei, welches Verhalten mit seiner angeblichen
Furcht vor Verfolgung nicht in Einklang zu bringen sei. Zwar sei er damals
seinen Angaben zufolge illegal zurückgereist, habe aber den verwende-
ten und angeblich bei Verwandten in Deutschland deponierten Reisepass
nicht eingereicht. Der nachträgliche Einwand, der Ausweis sei mittlerweile
verschollen, lasse folgern, dass sich im Reisepass Einträge befunden ha-
ben, die sich für die Würdigung des Asylgesuchs nachteilig ausgewirkt
hätten. Ferner könne er mit einer blossen Mitgliedschaftsbestätigung bei
einem kurdischen Verein in der Schweiz nicht belegen, weshalb er bei ei-
ner Rückkehr in die Türkei einer asylrelevanten Gefährdung ausgesetzt
sein soll. Schliesslich seien die in der Stellungnahme vom 10. Mai 2010
angeführten Bedenken über die Auswirkungen von Fichierungen in der
Türkei nicht relevant, zumal die Botschaft festgestellt habe, dass er nicht
fichiert sei. Im Übrigen habe sich die Menschenrechtslage in der Türkei
und die Strafverfahrensgarantien für Betroffene verbessert, so dass er
sich bei Übergriffen rechtlich zur Wehr setzen könne. Polizeiliche Mass-
nahmen, die sich gegen mutmassliche Straftäter richten würden, seien
zwar nach wie vor möglich, indessen würden sie in der weitaus überwie-
genden Zahl der Fälle keine asylrechtliche Relevanz entfalten. Schliess-
lich könne im bevorstehenden Militärdienst keine asylrelevante Verfol-
gungsmassnahme erblickt werden.
Somit erfülle der Beschwerdeführer die Flüchtlingseigenschaft nicht.
3.4 In der Beschwerde wird beanstandet, das BFM habe wesentliche
Vorbringen falsch eingeschätzt. Der Beschwerdeführer stamme aus einer
politisch aktiven Familie und sei selber politisch aktiv gewesen. Er sei un-
gewöhnlich lange, nämlich während (…) Monaten – aus politischen und
ethnischen Gründen – festgehalten, gefoltert und misshandelt worden.
Nach der Freilassung vom (…) 2003 sei er (…) polizeilich festgehalten
worden. Das BFM habe mit keinem Wort erwähnt, dass er den Polizisten
auf der Strasse bekannt gewesen sei. So hätten ihn diese mit seinem
Namen angesprochen. Er sei beschattet, regelmässig kontrolliert und
schikaniert worden. Die Familie sei nach dem Tod (…) M. unter behördli-
E-4800/2010
Seite 15
chen Druck geraten. Die türkischen Behörden hätten davon Kenntnis,
dass er sich im Kandil-Gebirge bei den PKK-Kämpfern aufgehalten habe.
Zudem seien seine psychischen Probleme, die das BFM in der angefoch-
tenen Verfügung nicht angesprochen habe, aufschlussreich. Sein psychi-
scher Zusammenbruch anlässlich der Anhörung vom 21. Oktober 2005
(1. Asylverfahren) spreche für die Richtigkeit seiner Angaben. Die Be-
schattung durch die Sicherheitsbehörden habe ihn psychisch schwer be-
lastet. Er selber habe ausgesagt, in der Schweiz psychisch etwas zu lei-
den. Weiter sei klar, dass er aufgrund seiner vielen Mitnahmen, seiner
strafrechtlichen Vergangenheit und (…) M., eines Helden und Freiheits-
kämpfers für die Unabhängigkeit der Kurden, in den Datenbanken figurie-
re, auch wenn das BFM einen entsprechenden Eintrag in der ihm zu-
gänglichen Datenbank nicht habe finden können. Es sei nicht möglich,
aufgrund einer Nichtverzeichnung in einer einzigen Datenbank der Türkei
auf die effektive Verfolgungslage einer Person zu schliessen. Es sei da-
von auszugehen, dass er in anderen türkischen Datenbanken vermerkt
sei. Das BFM habe durch die erfolgte Botschaftsabklärung zusätzlich ob-
jektive Nachfluchtgründe geschaffen, weil die türkischen Behörden durch
die vom BFM veranlassten Abklärungen hellhörig auf ihn geworden seien
und ihre Rückschlüsse ziehen könnten. Schliesslich sei die DVD ein wich-
tiges Beweismittel. Das BFM gehe nicht auf sie ein. M. sei von den Fil-
memachern als Held der PKK dargestellt worden. Somit sei M. seit 2006
den türkischen Behörden bekannt. Durch diese vom Film verursachte
Aufmerksamkeit sei der Beschwerdeführer stark ins Visier der türkischen
Behörden geraten. Folglich seien seine Angaben mit den Beweismitteln
genügend untermauert. Darüber hinaus würde die Türkei seine Verfol-
gung nicht entlang eines strafrechtlich definierten Verfahrens führen. Als
Flüchtling sei ihm Asyl zu geben.
3.5 Mit Schreiben vom 12. November 2010 erläuterte der Beschwerde-
führer den Inhalt der eingereichten DVD. Diverse Personen würden darin
über die PKK-Mitglieder seiner Familie berichten: über (…) M., den On-
kel, den Cousin und unter anderem auch über ihn selber. Ihm sei ein En-
gagement bei der PKK verweigert worden, weil seine Familie schon (…)
Märtyrer verloren habe. Diese Aufzeichnung sei zentral bei der Beurtei-
lung des vorliegenden Asylgesuchs. Mittlerweile hätten seine (…) Asyl in
Deutschland und ein Freund, Y.F., mit dem er sich während des Studiums
an der Kampagne Kurdish Student Network beteiligt habe, Asyl in Eng-
land erhalten. Ausserdem habe sich für ihn die Situation in der Türkei seit
dem Attentat vom 31. Oktober 2010 verschlechtert.
E-4800/2010
Seite 16
3.6 Weitere Ergänzungen des Beschwerdeführers datieren vom 12. Sep-
tember 2012 und 17. Oktober 2012. In Bezug auf die Inhalte dieser
Schreiben wird auf die Sachverhalte in Bst. G.d und G.e verwiesen.
4.
4.1 Zunächst ist festzuhalten, dass die Menschenrechtslage in der Türkei
im letzten Jahrzehnt – insbesondere aufgrund der militärischen und poli-
tischen Erfolge bei der Verdrängung der PKK beziehungsweise ihrer
Nachfolgeorganisation Kongra-Gel sowie den politischen und rechtsstaat-
lichen Reformen in Recht und Praxis – trotz vorübergehender Rückschrit-
te tendenziell qualitativ besser geworden ist. So wird von der EU und an-
deren Beobachtern anerkannt, dass die Türkei im letzten Jahrzehnt
Massnahmen zur Verbesserung der Menschenrechtslage ergriffen und
umgesetzt hat. Allerdings wird kritisiert, dass die Bestrebungen zur Ver-
besserung der rechtsstaatlichen und menschenrechtlichen Lage nicht
konsequent genug verfolgt werden. Dabei wurde für die Jahre 2006 bis
2010 festgestellt, die Entwicklung in Bezug auf den Menschenrechts-
schutz sei stagnierend oder sogar tendenziell rückläufig. So sei in diesem
zeitlichen Umfeld eine Zunahme von Strafverfolgungen und Verurteilun-
gen zu verzeichnen gewesen, die sich gegen die Meinungsäusserungs-
freiheit richteten, und es habe Berichte über Willkür, Misshandlungen und
Folterungen seitens der Sicherheitskräfte gegeben, welche Eingriffe sich
insbesondere gegen Angehörige von Minderheiten gerichtet hätten. Nach
wie vor seien türkische Sicherheitsorgane bei der Bekämpfung gewaltbe-
reiter extremistischer Bewegungen und Personen kurdischer Provenienz
dem Vorwurf ausgesetzt, in unverhältnismässiger Art und Weise vorzuge-
hen. In Fällen mit politisch sensiblem Hintergrund setze die Gerichtsbar-
keit vielfach die Interessen des Staates über die Individualrechte (vgl. et-
wa Kurden und Kurdinnen in der Türkei, Hrsg. Österreichisches Rotes
Kreuz, Bericht vom Juni 2009; Human Rights Watch, World Report 2008,
Turkey; International Helsinki Federation, Human Rights in the OSCE
Region, März 2007, Ziff. 107; REGULA KIENHOLZ, Hrsg. Schweizerische
Flüchtlingshilfe [SFH], Türkei, Bern 18. Mai 2005, S. 4 ff.). Auch ist noto-
risch, dass die türkische Behörden auch schon das Mittel angewandt ha-
ben, gegen Mitglieder von als staatsfeindlich oder politisch missliebig be-
trachteten Gruppierungen durch fingierte Vorwürfe gemeinrechtlicher
Straftaten vorzugehen. In Bezug auf verbotene Organisationen und deren
Sympathisanten bleibt das Vorgehen der Sicherheitskräfte mehrheitlich
kompromisslos. Das Verhältnis der Türkei zur PKK/KADEK/Kongra-Gel ist
in Veränderung begriffen. Der seit über einem Jahrzehnt inhaftierte Chef
der PKK, Abdullah Öcalan, hat mit türkischen Regierungsvertretern jüngst
E-4800/2010
Seite 17
einen Friedensprozess verabredet. Im März 2013 hat er die PKK-Kämpfer
zur Einhaltung der Waffenruhe angehalten und zum Rückzug in den Irak
aufgefordert. Der damalige PKK-Kommandant Murat Karayılan – im Juli
2013 ersetzt durch die Doppelführung Cemil Bayık und Besê Hozat –
kündigte am 25. April 2013 im Rahmen einer Pressekonferenz den Rück-
zug der bewaffneten PKK-Kämpfer aus der Türkei in verschiedene Auf-
fanglanger im Nordirak an. Zur Zeit wird der PKK seitens der Regierung
vorgeworfen, sie habe ihr Wort zum Abzug ihrer Kämpfer aus der Türkei
nicht gehalten und nur etwa einen Fünftel der Personen – darunter vor al-
lem Frauen, Kinder und Alte – abgezogen. Der Vorwurf des Wortbruchs
beruht auf Gegenseitigkeit: Die PKK und die ihr nahestehende, im türki-
schen Parlament vertretene Partei für Frieden und Demokratie (BDP) be-
zichtigen Ankara, die versprochene Gegenleistung – nämlich weitere Re-
formen zur Gleichberechtigung der Kurden in der Türkei – nicht erbracht
zu haben. Insgesamt sind die Aussichten auf Frieden wieder eher trübe.
4.2
4.2.1 Für die Glaubhaftigkeit der Behauptung, der Beschwerdeführer sei
in der Türkei verfolgt worden, spricht, dass aus seiner Familie ein PKK-
Kämpfer stammt, der wohl einen gewissen Bekanntheitsgrad und bei den
Gesinnungsgenossen einen Heldenstatus erworben hat; M. dürfte den
türkischen Behörden nicht zuletzt aufgrund der ausgestrahlten Sendung
E._______ (vgl. DVD aus dem Jahr 2007) als Held des Widerstands-
kampfes bekannt sein. In jener Sendung sind die (…) des Beschwerde-
führers zu Wort gekommen. Es ist davon auszugehen, dass seine Familie
den türkischen Behörden als mutmasslich oppositionell bekannt ist.
Weiter wurden gegen den Beschwerdeführer in der Türkei drei Strafver-
fahren eröffnet, von denen eines zur Verurteilung zu einer bedingt ausge-
sprochenen Gefängnisstrafe von (…) Monaten und einer Busse geendet
hat, während er in den beiden anderen Verfahren freigesprochen worden
ist. Es erscheint durchaus als glaubhaft, dass er zu seinen Schul- und
Studienzeiten Probleme mit den Sicherheitskräften gehabt hat und auch
Opfer von Übergriffen geworden ist. Dass er in der Folge im Kandil-
Gebirge politisch ausgebildet geworden sei und darauf im Auftrag der
PKK Jugendliche an den Hochschulen angeworben habe, bleibt aller-
dings eine blosse Behauptung.
4.2.2 Gegen die Glaubhaftigkeit des Sachvortrags des Beschwerdefüh-
rers und namentlich gegen eine im Zeitpunkt seiner Ausreise aus der Tür-
E-4800/2010
Seite 18
kei bestandene begründete Furcht vor Verfolgung spricht namentlich fol-
gender Umstand:
Gemäss den Abklärungen der Schweizerischen Botschaft in Ankara hat
sich der Beschwerdeführer, über welchen in der Türkei kein Datenblatt
bestehe und der keinem Passverbot unterliege, im Jahr (…) einen Pass
ausstellen lassen, welcher bis (…) gültig sei und mit welchem er (…) die
Türkei verlassen und nach Deutschland gereist ist. Eine Passausstellung
und erst recht dessen Benutzung gilt als Inanspruchnahme des diploma-
tischen Schutzes des Heimatlandes, welcher in der Regel einer Anerken-
nung als Flüchtling entgegensteht, zumal der Betroffene mit einer solchen
Handlung zum Ausdruck bringt, dass er keine begründete Furcht vor Ver-
folgung durch eben diesen Staat hat. Wenn man der Darstellung des Be-
schwerdeführers folgt, wonach er im Mai 2006 von Deutschland unter
Verwendung eines so genannten grünen Passes in die Türkei gereist und
fünfzehn bis zwanzig Tage später unter Benutzung des gleichen Passes
von C._______ aus auf dem Luftweg in die Schweiz gelangt ist, kommt
man unweigerlich zur Feststellung, dass er mit diesem Vorgehen seiner
fehlenden Furcht vor Verfolgung im besagten Zeitpunkt Ausdruck gege-
ben und sich mit der Benutzung eines türkischen Passes unter den dip-
lomatischen und mit seiner Einreise in die Türkei unter den faktischen
Schutz seines Heimatlandes gestellt hat. Ob er dabei seinen eigenen, im
Jahr (…) ausgestellten Pass oder einen sog. grünen Pass – dabei han-
delt es sich um einen Spezialpass für höhere beziehungsweise langjähri-
ge türkische Staatsbeamte, die damit visumsfrei in die Schengen-Staaten
einreisen und sich dort 90 Tage aufhalten können – verwendet hat, ob
dieser grüne Pass auf seinen oder einen anderen Namen gelautet hat
und welche Ein- und Ausreisestempel sowie Visumseinträge der verwen-
dete Pass aufweist, ändert nichts an der Feststellung, dass der Be-
schwerdeführer im Zeitpunkt seiner Ausreise aus der Türkei im Juni 2006
angesichts des offensichtlichen Fehlens einer subjektiven Furcht vor Ver-
folgung nicht Flüchtling im Sinne des Asylgesetzes und der Flüchtlings-
konvention (vgl. Art. 3 AsylG und Art. 1 Bst. A Ziff. 1 FK sowie Art. 63 Abs. 1
Bst. a AsylG i.V.m. Art. 1 Bst. C Ziff. 1 FK) war. Bei dieser Feststellung
sind die Tatsachen, dass der Beschwerdeführer sich weigerte, die genau-
en Flugdaten bekanntzugeben, sein Flugticket und seine Bordkarte sowie
den von ihm verwendeten Pass den Behörden auszuhändigen im Sinne
einer Bestätigung dieser Erkenntnis ebenso gegen ihn zu verwenden wie
die unglaubhafte Angabe, sein in Deutschland zurückgelassener Pass sei
mittlerweile verschollen, oder die Vorstellung, er habe sich von diesem
Pass keine Fotokopie gemacht. Auch der angebliche Anlass für die Rück-
E-4800/2010
Seite 19
reise, nämlich der Umstand, dass der Beschwerdeführer erst kurz vorher
vom Tod (…M.s…) erfahren habe, ist offensichtlich so falsch – da im Wi-
derspruch zur Beschwerdeschrift vom 8. November 2005 (Beschwerde-
akten ARK im Voraktendossier N 481 935, act. 3 S. 2 Ziff. 4; vgl. auch
vorn sub A.e), wo sein Tod bereits als Tatsache hingestellt worden ist, und
zu den Aussagen seines Cousins, welcher an seiner Empfangsstellenbe-
fragung am 11. September 2001 bereits vorgebracht hatte, dass M. 1998
getötet und die Herausgabe seiner Leiche ihm und dem Vater von M. be-
hördlich verweigert worden sei (N 412 919, A8 S. 5) –, dass sich Erwä-
gungen betreffend eine allfällige Rechtfertigung der Heimreise erübrigen.
4.3 Zusammenfassend ist, vorerst nur bezogen auf den Zeitpunkt der
Ausreise aus der Türkei im Juni 2006, festzustellen, dass er keine be-
gründete Furcht vor flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungsmassnah-
men glaubhaft machen konnte.
4.4 Eine asylsuchende Person ist aber auch dann als Flüchtling anzuer-
kennen, wenn sie erst aufgrund von Ereignissen nach ihrer Ausreise im
Falle einer Rückkehr in ihren Heimat- oder Herkunftsstaat in flüchtlings-
rechtlich relevanter Weise verfolgt würde. Zu unterscheiden ist dabei zwi-
schen objektiven und subjektiven Nachfluchtgründen. Die vom Gesetzge-
ber bezweckte Bestimmung, wonach die subjektiven Nachfluchtgründe
einen Asylausschlussgrund darstellen, verbietet ein Addieren solcher
Gründe mit Fluchtgründen vor der Ausreise oder mit objektiven Nach-
fluchtgründen, die für sich allein nicht zur Anerkennung der Flüchtlingsei-
genschaft ausreichen (vgl. Entscheidungen und Mitteilungen der Schwei-
zerischen Asylrekurskommission [EMARK] 1995 Nr. 7 E. 7b und 8).
4.4.1 Nach Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts kommen in der
Türkei noch immer staatliche Repressalien gegen Familienangehörige
von politischen Aktivisten vor, die flüchtlingsrechtlich erheblich sein kön-
nen. Die Wahrscheinlichkeit, Opfer einer solchen Verfolgung zu werden,
ist vor allem dann gegeben, wenn nach einem flüchtigen Familienmitglied
gefahndet wird und die Behörde Anlass zur Vermutung hat, dass jemand
mit der gesuchten Person in engem Kontakt steht. Am Ehesten dürften
Personen von einer Verfolgung bedroht sein, die sich offen für politisch
aktive Verwandte einsetzen (vgl. EMARK 2005 Nr. 21 E. 10.2.1 ff.). Ist die
begründete Furcht vor Reflexverfolgung erst während des Auslandauf-
enthaltes entstanden, liegt ein objektiver Nachfluchtgrund vor. Auch die in
der Beschwerdeschrift behauptete Gefährdung des Beschwerdeführers
E-4800/2010
Seite 20
durch die Abklärungen der schweizerischen Botschaft würde, sollte sie
zutreffen, einen objektiven Nachfluchtgrund darstellen.
Der Cousin des Beschwerdeführers, der bereits im Jahr 2001 in die
Schweiz gekommen ist und dessen Familienangehörige aktiv in verschie-
denen kurdischen Organisationen tätig gewesen sind, ist in der Schweiz
mittlerweile eingebürgert worden. Obwohl sich auch der Cousin in seinem
Asylverfahren auf den (…) getöteten M. bezogen hat, hat gestützt darauf
in all den Jahren bis heute keine Reflexverfolgung gegen Familienange-
hörige in der Türkei eingesetzt, und es ist nicht anzunehmen, dass sich
mit der Rückkehr des Beschwerdeführers in die Türkei daran etwas än-
dern würde. Die neuerlichen Behauptungen einer Fahndung nach dem
Beschwerdeführer erscheinen angesichts seines unglaubhaften Sachvor-
trags als Schutzbehauptungen und sind somit nicht glaubhaft. Die Tatsa-
che, dass in all den Jahren seit seiner Wiederausreise aus der Türkei
über die in der Heimat verbliebenen Angehörigen keine erheblichen
Nachteile asylrechtlicher Natur aktenkundig geworden sind, zeigt, dass
die türkischen Behörden kein Interesse an der Verfolgung von Angehöri-
gen haben. Flüchtlingsrechtlich relevante Gründe werden ihn denn auch
bei der Rückkehr in die Türkei nicht erwarten. Offensichtlich haben die
Abklärungen der Schweizer Botschaft ihrerseits nicht zu Behelligungen
der Familie geführt, und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass gerade
dadurch eine Gefahr für ihn selber entstanden sein könnte. Das Vorhan-
densein von objektiven Nachfluchtgründen ist mithin zu verneinen.
4.4.2 Das Verhalten des Beschwerdeführers im Exil – die (…) Sektion der
Föderation Kurdischer Vereine in der Schweiz (FEKAR) bestätigt in ihrem
Schreiben vom 18. September 2012 seine Mitgliedschaft sowie seine
Teilnahme an kulturellen und politischen Aktivitäten, darunter auch De-
monstrationen sowie vor dem türkischen Konsulat durchgeführte Kund-
gebungen – ist keineswegs als derart gewichtig anzusehen, dass daraus
eine persönliche Gefährdung bei einer Rückkehr erwartet und das Beste-
hen eines subjektiven Nachfluchtgrundes angenommen werden müsste.
Ein begründeter Anlass zur Furcht vor künftiger Verfolgung ist auszu-
schliessen.
4.4.3 Nach dem Gesagten ist festzuhalten, dass der Beschwerdeführer
die Flüchtlingseigenschaft auch unter den Aspekten der objektiven und
subjektiven Nachfluchtgründe nicht erfüllt.
E-4800/2010
Seite 21
4.5 Damit erübrigt es sich, auf weitere, die Flüchtlingseigenschaft be-
schlagende Ausführungen in der Beschwerde und weitere Beweismittel
einzugehen, da sie am Ausgang dieses Verfahrens nichts ändern.
Der Beschwerdeführer hat bei einer Rückkehr in die Türkei nicht mit einer
ernsthaften Benachteiligung seitens der Behörden zu rechnen; seine
Furcht ist objektiv nicht nachvollziehbar. Das BFM hat das Asylgesuch
demnach zu Recht abgelehnt und die Beschwerde ist abzuweisen.
5.
5.1 Lehnt das Bundesamt das Asylgesuch ab oder tritt es darauf nicht ein,
so verfügt es in der Regel die Wegweisung aus der Schweiz und ordnet
den Vollzug an; es berücksichtigt dabei den Grundsatz der Einheit der
Familie (Art. 44 Abs. 1 AsylG).
5.2 Der Beschwerdeführer verfügt weder über eine ausländerrechtliche
Aufenthaltsbewilligung noch über einen Anspruch auf Erteilung einer sol-
chen (vgl. BVGE 2011/24 E. 10.1 m.w.H.). Die Wegweisung wurde dem-
nach zu Recht angeordnet.
6.
6.1 Ist der Vollzug der Wegweisung nicht durchführbar, das heisst unzu-
lässig, unzumutbar oder unmöglich, regelt das Bundesamt das Anwesen-
heitsverhältnis nach den gesetzlichen Bestimmungen über die vorläufige
Aufnahme von Ausländern (Art. 44 Abs. 2 AsylG; Art. 83 Abs. 1 AuG). Be-
züglich der Geltendmachung von Wegweisungshindernissen gilt der glei-
che Beweisstandard wie bei der Flüchtlingseigenschaft, das heisst, sie
sind zu beweisen, wenn der strikte Beweis möglich ist, und andernfalls
wenigstens glaubhaft zu machen (vgl. BVGE 2011/24 E. 10.2 m.w.H.).
6.2 Der Vollzug ist unzulässig, wenn völkerrechtliche Verpflichtungen der
Schweiz einer Weiterreise der Ausländerin oder des Ausländers in den
Heimat-, Herkunfts- oder einen Drittstaat entgegenstehen (Art. 83 Abs. 3
AuG). So darf keine Person in irgendeiner Form zur Ausreise in ein Land
gezwungen werden, in dem ihr Leib, ihr Leben oder ihre Freiheit aus ei-
nem Grund nach Art. 3 Abs. 1 AsylG gefährdet ist oder in dem sie Gefahr
läuft, zur Ausreise in ein solches Land gezwungen zu werden (Art. 5
Abs. 1 AsylG; Art. 33 Abs. 1 FK). Gemäss Art. 25 Abs. 3 der Bundesver-
fassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (BV,
SR 101), Art. 3 des Übereinkommens vom 10. Dezember 1984 gegen
Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behand-
lung oder Strafe (FoK, SR 0.105) und der Praxis zu Art. 3 der Konvention
E-4800/2010
Seite 22
vom 4. November 1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfrei-
heiten (EMRK, SR 0.101) darf niemand der Folter oder unmenschlicher
oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.
Da es dem Beschwerdeführer nicht gelungen ist, eine asylrechtlich erheb-
liche Gefährdung nachzuweisen oder glaubhaft zu machen, kann der in
Art. 5 AsylG verankerte Grundsatz der Nichtrückschiebung vorliegend
keine Anwendung finden; seine Rückkehr in die Türkei ist unter diesem
Aspekt rechtmässig. Sodann ergeben sich weder aus seinen Aussagen
noch aus den Akten Anhaltspunkte dafür, dass er für den Fall einer Rück-
kehr in der Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer nach Art. 3
EMRK oder Art. 1 FoK verbotenen Strafe oder Behandlung ausgesetzt
wäre. Gemäss Praxis des Europäischen Gerichtshofes für Menschen-
rechte (EGMR) und jener des UN-Anti-Folterausschusses müsste der Be-
schwerdeführer eine konkrete Gefahr ("real risk") nachweisen oder glaub-
haft machen, dass ihm bei einer Rückschiebung Folter oder unmensch-
liche Behandlung drohen würde (vgl. EGMR [Grosse Kammer], Saadi
gegen Italien, Urteil vom 28. Februar 2008, Beschwerde Nr. 37201/06,
§§ 124–127, m.w.H.). Nach dem Gesagten ist der Vollzug der Wegwei-
sung im Sinne der asyl- und der völkerrechtlichen Bestimmungen zuläs-
sig.
6.3 Gemäss Art. 83 Abs. 4 AuG kann der Vollzug für Ausländerinnen und
Ausländer unzumutbar sein, wenn sie im Heimat- oder Herkunftsstaat auf
Grund von Situationen wie Krieg, Bürgerkrieg, allgemeiner Gewalt und me-
dizinischer Notlage konkret gefährdet sind. Wird eine konkrete Gefähr-
dung festgestellt, ist – unter Vorbehalt von Art. 83 Abs. 7 AuG – die vor-
läufige Aufnahme zu gewähren (vgl. Botschaft zum Bundesgesetz über
die Ausländerinnen und Ausländer vom 8. März 2002, BBl 2002 3818).
Es besteht kein Grund anzunehmen, er gerate bei einer Rückkehr in eine
existenzbedrohende Lage, da dort weder eine allgemeine und landeswei-
te Gewaltsituation besteht, noch die allgemeine Menschenrechtssituation
den Wegweisungsvollzug als unzumutbar erscheinen lässt.
Einer Rückkehr des Beschwerdeführers stehen keine individuellen Grün-
de politischer, wirtschaftlicher, sozialer oder gesundheitlicher Natur ent-
gegen. Seine Familie stammt aus der Provinz B._______, von wo sie (…)
weggezogen seien. Seit (…) wohnte er bei seinen Eltern und Geschwis-
tern in C._______, wo er denn auch bis zur Ausreise mehrheitlich gelebt
hat. Er verfügt über ein grösseres Familien- und Beziehungsnetz in der
E-4800/2010
Seite 23
Türkei und kann daher zu seinen Verwandten zurückkehren, so dass
auch seine Wohnsituation als gesichert gelten kann, zumal er auf deren
Unterstützung zählen können wird. Seine universitäre Ausbildung und
seine Tätigkeiten als (…) werden ihm den Einstieg ins Erwerbsleben er-
leichtern. In Zusammenhang mit den von ihm geltend gemachten ge-
sundheitlichen Problemen (Beschwerde S. 5, 9, 13 f. und 17), die sich im
Wesentlichen auf die angeblich erlebte Verfolgungslage beziehen sollen
und nicht nachgewiesen sind, ist zu wiederholen, dass er in der Türkei
keine Verfolgung befürchten muss und dort bei Bedarf effiziente gesund-
heitliche Facheinrichtungen mit entsprechendem Fachpersonal vorfinden
würde. Angesichts seines Alters, seines weitestgehend intakten Gesund-
heitszustandes und seiner bisherigen beruflichen Erfahrungen ist davon
auszugehen, dass er sich in seiner Heimat in den Arbeitsmarkt wieder in-
tegrieren kann. Ausserdem könnte er sich, falls er lokalen Gegebenheiten
ausweichen möchte, anderswo in der Türkei niederlassen. Zudem könnte
er von Verwandten und Bekannten aus der Schweiz, Schweden und
Deutschland unterstützt werden. Blosse soziale oder wirtschaftliche
Schwierigkeiten, von denen die ansässige Bevölkerung im Allgemeinen
betroffen ist, oder eine allenfalls drohende Einziehung ins Militär stellen im
Übrigen keine Gefährdung i.S. von Art. 83 Abs. 4 AuG dar.
Damit erweist sich der Vollzug der Wegweisung als zumutbar.
6.4 Schliesslich obliegt es dem Beschwerdeführer, sich bei der zuständi-
gen Vertretung des Heimatstaates die für eine Rückkehr notwendigen
Reisedokumente zu beschaffen (vgl. Art. 8 Abs. 4 AsylG; BVGE 2008/34
E. 12), weshalb der Vollzug der Wegweisung als möglich zu bezeichnen
ist (Art. 83 Abs. 2 AuG).
6.5 Zusammenfassend hat die Vorinstanz den Vollzug der Wegweisung
des Beschwerdeführers zu Recht als durchführbar erachtet. Nach dem
Gesagten fällt eine Anordnung der vorläufigen Aufnahme ausser Betracht
(Art. 83 Abs. 1–4 AuG).
7.
Aus diesen Erwägungen ergibt sich, dass die angefochtene Verfügung
Bundesrecht nicht verletzt, den rechtserheblichen Sachverhalt richtig und
vollständig feststellt und angemessen ist (Art. 106 AsylG). Die Beschwer-
de ist nach dem Gesagten abzuweisen.
8.
E-4800/2010
Seite 24
Bei diesem Verfahrensausgang sind die Kosten dem Beschwerdeführer
aufzuerlegen (Art. 63 Abs. 1 VwVG) und unter Berücksichtigung des Auf-
wandes für die am 28. Oktober 2010 am Sitz der Bundesverwaltungsge-
richt erfolgte Visionierung, welcher als Zuschlag von Fr. 100.– angerech-
net wird, auf insgesamt Fr. 700.– festzusetzen (Art. 1–3 des Reglements
vom 21. Februar 2008 über die Kosten und Entschädigungen vor dem
Bundesverwaltungsgericht [VGKE, SR 173.320.2]).

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E-4800/2010
Seite 25
Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
2.
Die Verfahrenskosten von Fr. 700.– werden dem Beschwerdeführer auf-
erlegt. Dieser Betrag ist innert 30 Tagen ab Versand des Urteils zu Guns-
ten der Gerichtskasse zu überweisen.
3.
Dieses Urteil geht an den Beschwerdeführer, das BFM und die zuständi-
ge kantonale Behörde.

Der vorsitzende Richter: Der Gerichtsschreiber:

Walter Stöckli Thomas Hardegger



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