E-4099/2012 - Abteilung V - Nichteintreten auf Asylgesuch und Wegweisung (Dublin-Verfahren) - Nichteintreten auf Asylgesuch und Wegweisung (Dubl...
Karar Dilini Çevir:
E-4099/2012 - Abteilung V - Nichteintreten auf Asylgesuch und Wegweisung (Dublin-Verfahren) - Nichteintreten auf Asylgesuch und Wegweisung (Dubl...
B u n d e s v e rw a l t u ng s g e r i ch t
T r i b u n a l ad m i n i s t r a t i f f éd é r a l
T r i b u n a l e am m in i s t r a t i vo f e d e r a l e
T r i b u n a l ad m i n i s t r a t i v fe d e r a l








Abteilung V
E-4099/2012


U r t e i l v o m 1 6 . A u g u s t 2 0 1 2
Besetzung

Einzelrichter Bruno Huber,
mit Zustimmung von Richterin Regula Schenker Senn;
Gerichtsschreiber Peter Jaggi.
Parteien

A._______, geboren (…),
Afghanistan,
vertreten durch Donato Del Duca, Rechtsanwalt,
Rechtsberatungsstelle für Asylsuchende Aargau,
(…),
Beschwerdeführer,


gegen

Bundesamt für Migration (BFM),
Quellenweg 6, 3003 Bern,
Vorinstanz.

Gegenstand

Nichteintreten auf Asylgesuch und Wegweisung
(Dublin-Verfahren);
Verfügung des BFM vom 27. Juli 2012 / N (…).


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Das Bundesverwaltungsgericht stellt fest,
dass das BFM gestützt auf Art. 34 Abs. 2 Bst. d des Asylgesetzes vom
26. Juni 1998 (AsylG, SR 142.31) mit Verfügung vom 24. November 2011
auf das Asylgesuch des Beschwerdeführers vom 26. August 2011 nicht
eintrat und die Wegweisung nach Italien sowie den Vollzug anordnete,
dass das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 15. Dezember 2011
(E-6612/2011) die dagegen erhobene Beschwerde vom 7. Dezember
2011 guthiess, die Verfügung aufhob und die Sache zur Klärung der für
den Ausgang des Verfahrens relevanten Fragen sowie gegebenenfalls
zur Durchführung einer weiteren Befragung in Anwesenheit einer Ver-
trauensperson vor der anschliessenden Neubeurteilung an das Bundes-
amt zurückwies,
dass das BFM den Rechtsvertreter mit Schreiben vom 2. März 2012 da-
hingehend informierte, dem Beschwerdeführer sei bereits anlässlich der
Kurzbefragung vom 16. September 2011 das rechtliche Gehör zur mut-
masslichen Zuständigkeit Italiens für das vorliegende Asylverfahren und
zu seiner allfälligen Wegweisung dorthin gewährt worden,
dass es ihm die Gelegenheit einräumte, sich bis am 13. März 2012 zur
mutmasslichen Zuständigkeit Italiens für das Asylverfahren, zur allfälligen
Wegweisung seines Mandanten in diesen Staat und zur Absicht, auf das
Asylgesuch nicht einzutreten, zu äussern,
dass der Rechtsvertreter mit Eingaben vom 7. und vom 13. März 2012
Stellung nahm,
dass das BFM mit Verfügung vom 19. April 2012 in Anwendung von
Art. 34 Abs. 2 Bst. d AsylG auf das Asylgesuch des Beschwerdeführers
erneut nicht eintrat und die Wegweisung nach Italien sowie den Vollzug
anordnete,
dass das Gericht mit Urteil vom 3. Mai 2012 (E-2321/2012) die dagegen
eingereichte Beschwerde vom 27. April 2012 guthiess, die Verfügung vom
19. April 2012 aufhob und die Sache zur Durchführung einer weiteren Be-
fragung in Anwesenheit einer Vertrauensperson zu dem für dieses Ver-
fahren relevanten Sachverhalt vor der anschliessenden Neubeurteilung
an das Bundesamt zurückwies,
dass der Rechtsvertreter am 3. Juli 2012 (per E-Mail) auf entsprechende
Anfrage des Bundesamtes vom 28. Juni 2012 den Erhalt der Vorladung
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bestätigte und mitteilte, er werde voraussichtlich nicht an der Anhörung
teilnehmen können, er ersuche um die Zustellung einer Kopie des Anhö-
rungsprotokolls,
dass das BFM den Beschwerdeführer am 17. Juli 2012 im Beisein einer
Hilfswerkvertretung (insbesondere) zu seinem Reiseweg von Afghanistan
in die Schweiz anhörte und ihm das rechtliche Gehör zur mutmasslichen
Zuständigkeit Italiens für das Asylverfahren und zu seiner allfälligen Weg-
weisung dorthin gewährte,
dass es in Bezug auf die nicht anwesende Vertrauensperson anführte,
der Rechtsvertreter habe mitgeteilt, er verzichte auf seine Teilnahme an
der Anhörung,
dass das Bundesamt mit Verfügung vom 27. Juli 2012 – eröffnet am
31. Juli 2012 – in Anwendung von Art. 34 Abs. 2 Bst. d AsylG auf das
Asylgesuch des Beschwerdeführers erneut nicht eintrat und die Wegwei-
sung nach Italien anordnete,
dass es den Beschwerdeführer gleichzeitig aufforderte, die Schweiz spä-
testens am Tag nach Ablauf der Beschwerdefrist zu verlassen, den Kan-
ton (…) mit dem Vollzug der Wegweisungsverfügung beauftragte, die
Aushändigung der editionspflichtigen Akten gemäss Aktenverzeichnis ver-
fügte und feststellte, eine Beschwerde gegen diese Verfügung habe keine
aufschiebende Wirkung,
dass die Überstellung – vorbehältlich einer allfälligen Unterbrechung oder
Verlängerung der Frist – bis spätestens am (…) zu erfolgen habe,
dass der Beschwerdeführer durch seinen Rechtsvertreter mit Rechtsmit-
teleingabe vom 6. August 2012 in materieller Hinsicht die Aufhebung der
angefochtenen Verfügung mit der Anweisung an die Vorinstanz, ihr Recht
auf Selbsteintritt auszuüben und sich für das vorliegende Asylgesuch zu-
ständig zu erachten, beantragt,
dass er in prozessualer Hinsicht beantragt, der Beschwerde sei im Sinne
vorsorglicher Massnahmen die aufschiebende Wirkung zu erteilen und
die Vollzugsbehörden seien anzuweisen, von einer Überstellung nach Ita-
lien abzusehen, bis das Bundesverwaltungsgericht über den Suspensiv-
effekt der eingereichten Beschwerde entschieden habe,
dass er unter Verzicht auf die Erhebung eines Kostenvorschusses die
Gewährung der unentgeltliche Rechtspflege und der anwaltlichen Rechts-
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verbeiständung beantragt und im Falle eines Schriftenwechsels darum
ersucht, nach Abschluss des Instruktionsverfahrens eine Kostennote sei-
nes Rechtsvertreters einzufordern,
dass auf die Begründung der Rechtsbegehren in den nachfolgenden Er-
wägungen eingegangen wird,
dass die vorinstanzlichen Akten am 8. August 2012 beim Bundesverwal-
tungsgericht eingingen (Art. 109 Abs. 2 AsylG),
dass der Instruktionsrichter mit gleichentags per Telefax übermittelter Ver-
fügung den Vollzug der Wegweisung per sofort aussetzte,

und erwägt,
dass das Bundesverwaltungsgericht auf dem Gebiet des Asyls in der Re-
gel – so auch vorliegend – abschliessend über Beschwerden gegen Ver-
fügungen (Art. 5 des Bundesgesetzes über das Verwaltungsverfahren
vom 20. Dezember 1968 [VwVG, SR 172.021]) des BFM entscheidet
(Art. 105 AsylG i.V.m. Art. 31-33 des Verwaltungsgerichtsgesetzes vom
17. Juni 2005 [VGG, SR 173.32]; Art. 83 Bst. d Ziff. 1 des Bundesge-
richtsgesetzes vom 17. Juni 2005 [BGG, SR 173.110]),
dass sich das Verfahren nach dem VwVG, dem VGG und dem BGG rich-
tet, soweit das AsylG nichts anderes bestimmt (Art. 37 VGG und Art. 6
AsylG),
dass die Voraussetzungen für das Eintreten auf die Beschwerde vorlie-
gend erfüllt sind,
dass mit Beschwerde die Verletzung von Bundesrecht, die unrichtige oder
unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts und die
Unangemessenheit gerügt werden können (Art. 106 Abs. 1 AsylG),
dass über offensichtlich begründete Beschwerden in einzelrichterlicher
Zuständigkeit mit Zustimmung eines zweiten Richters beziehungsweise
einer zweiten Richterin entschieden wird (Art. 111 Bst. e AsylG), und es
sich vorliegend um eine solche handelt, weshalb der Beschwerdeent-
scheid nur summarisch zu begründen ist (Art. 111a Abs. 2 AsylG),
dass gestützt auf Art. 111a Abs. 1 AsylG vorliegend auf einen Schrif-
tenwechsel verzichtet wurde,
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dass das BFM seine Verfügung unter anderem damit begründete, das
Geburtsdatum des Beschwerdeführers sei auf (…) geändert worden,
weshalb dieser für das vorliegende Verfahren als unbegleiteter Minderjäh-
riger gelte,
dass sein Rechtsvertreter am 3. Juli 2012 mitgeteilt habe, er werde nicht
an der Anhörung vom 17. Juli 2012 teilnehmen, anlässlich derer dem Be-
schwerdeführer das rechtliche Gehör zur mutmasslichen Zuständigkeit
Italiens für das vorliegende Asylverfahren und zu seiner allfälligen Weg-
weisung dorthin gewährt worden sei,
dass die Minderjährigkeit des Beschwerdeführers weder etwas an der
Zuständigkeit Italiens ändere noch einer Überstellung dorthin entgegen-
stehe,
dass im Grundsatzurteil BVGE E-8648/2010 vom 21. September 2011 un-
ter anderem festgehalten wurde, das BFM müsse in Dublin-Verfahren vor
der Erhebung des rechtserheblichen Sachverhalts die zuständigen kan-
tonalen Behörden über die Anwesenheit einer unbegleiteten minderjähri-
gen asylsuchenden Person informieren, um die unverzügliche Bestim-
mung einer Vertrauensperson nach Art. 17 Abs. 3 Bst. b AsylG und die
Befragung zum rechtserheblichen Sachverhalt in deren Anwesenheit zu
gewährleisten,
dass die Befragung im Empfangs- und Verfahrenszentrum hinsichtlich
des Ausgangs des Verfahrens den relevanten Schritt für die Entscheidung
des Bundesamtes darstelle, ob Art. 34 Abs. 2 Bst. d AsylG Anwendung
finde, weil bejahendenfalls darüber hinaus keine weitere Anhörung durch-
geführt werde,
dass demnach bereits für diese summarische Befragung eine Vertrauens-
person für unbegleitete Minderjährige zu bestellen wäre, dabei jedoch zu
berücksichtigen sei, dass dies erst geschehen könne, wenn die entschei-
denden Fragen hierfür geklärt seien, namentlich ob die asylsuchende
Person unbegleitet sowie minderjährig sei und ob sie sich in einem Dub-
lin-Verfahren befinde,
dass es deshalb zweckdienlicher erscheine, bei unbegleiteten minderjäh-
rigen Asylsuchenden, für welche das Dublin-Verfahren in Frage kommen
könne, nachträglich eine weitere Befragung in Anwesenheit einer Vertrau-
ensperson zu dem für dieses Verfahren relevanten Sachverhalt durchzu-
führen,
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dass vorliegend festzustellen ist, dass das BFM von der Minderjährigkeit
des Beschwerdeführers ausgeht und folglich im Sinne der zitierten
Rechtsprechung und entsprechend den diesbezüglichen Ausführungen
im Urteil vom 3. Mai 2012 (E-2321/2012) verpflichtet gewesen wäre, eine
weitere Befragung und zwar in Anwesenheit einer Vertrauensperson vor
der anschliessenden Neubeurteilung durchzuführen,
dass diese Verfahrensvorschrift formeller Natur ist und entgegen der dies-
bezüglichen Ausführung in der angefochtenen Verfügung nicht mit der
Begründung derogiert werden kann, der Rechtsvertreter habe mitgeteilt,
er werde nicht an der Anhörung teilnehmen, was im Übrigen den Wortlaut
des E-Mails vom 3. Juli 2012 nicht genau wiedergibt ("… werde ich an der
Anhörung nicht teilnehmen können …" [vgl. Akten BFM A36/2]),
dass zwar eine Missachtung von Verfahrensvorschriften durch das BFM
aufgrund der umfassenden Kognition des Bundesverwaltungsgerichts
(Art. 106 Abs. 1 AsylG) in bestimmten Schranken geheilt werden kann,
dass indessen vorliegend die Vorinstanz den Anspruch des Beschwerde-
führers auf Beachtung der Verfahrensvorschrift von Art. 17 Abs. 3 Bst. b
AsylG in schwerwiegender Weise verletzt hat, weshalb eine Heilung nicht
in Betracht kommt und die angefochtene Verfügung zu kassieren ist,
dass die Beschwerde demnach im Sinne der Erwägungen gutzuheissen,
die angefochtene Verfügung vom 27. Juli 2012 aufzuheben und die Sa-
che zur Durchführung einer erneuten Befragung und zwar in Anwesenheit
einer Vertrauensperson zu dem für dieses Verfahren relevanten Sachver-
halt vor der anschliessenden Neubeurteilung an das Bundesamt zurück-
zuweisen ist,
dass bei dieser Sachlage auf die im Hinblick auf ein erstinstanzliches Ein-
treten auf das Asylgesuch respektive auf eine Ausübung des Selbstein-
trittsrechts durch das BFM gestellten Rechtsbegehren und deren Begrün-
dung nicht einzugehen ist, da es Sache des Bundesamtes sein wird, sich
damit zu befassen,
dass mit dem Entscheid in der Hauptsache ohne vorgängige Instruktion
die Anträge auf Erteilung der aufschiebenden Wirkung (der Beschwerde)
und auf Verzicht auf die Erhebung eines Kostenvorschusses hinfällig wer-
den,
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dass bei diesem Ausgang des Verfahrens keine Verfahrenskosten auf-
zuerlegen sind (Art. 63 Abs. 3 VwVG), womit der Antrag auf Gewährung
der unentgeltlichen Rechtspflege (Art. 65 Abs. 1 VwVG) gegenstandslos
wird,
dass dem vertretenen Beschwerdeführer zulasten der Vorinstanz eine
Parteientschädigung für die ihm erwachsenen notwendigen und verhält-
nismässig hohen Kosten zuzusprechen ist (Art. 64 Abs. 1 VwVG i.V.m.
Art. 7 des Reglements vom 21. Februar 2008 über die Kosten und
Entschädigungen vor dem Bundesverwaltungsgericht [VGKE,
SR 173.320.2]), womit auch der Antrag auf anwaltliche Rechtsverbeistän-
dung (Art. 65 Abs. 2 VwVG) hinfällig wird,
dass zwar keine Kostennote eingereicht wurde, aber sich der zeitliche
Vertretungsaufwand für das Rechtsmittelverfahren aufgrund der Akten zu-
verlässig abschätzen lässt,
dass dem Beschwerdeführer unter Berücksichtigung der massgebenden
Bemessungsfaktoren (Art. 9-13 VGKE) und der Entschädigungspraxis in
Vergleichsfällen eine insgesamt auf Fr. 600.- (inkl. Auslagen und allfällige
Mehrwertsteuer) festzusetzende, von der Vorinstanz zu entrichtende Par-
teientschädigung zuzusprechen ist (Art. 10 und Art. 14 Abs. 2 VGKE).
(Dispositiv nächste Seite)

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Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:
1.
Die Beschwerde wird im Sinne der Erwägungen gutgeheissen.
2.
Die Verfügung vom 27. Juli 2012 wird aufgehoben. Die Sache wird zur
Durchführung einer erneuten Befragung und zwar in Anwesenheit einer
Vertrauensperson zu dem für dieses Verfahren relevanten Sachverhalt
vor der anschliessenden Neubeurteilung an das BFM zurückgewiesen.
3.
Es werden keine Verfahrenskosten auferlegt.
4.
Das BFM hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem Bundes-
verwaltungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 600.- zu entrichten.
5.
Dieses Urteil geht an den Beschwerdeführer, das BFM und (…).

Der Einzelrichter: Der Gerichtsschreiber:

Bruno Huber Peter Jaggi


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