E-3993/2006 - Abteilung V - Aufhebung vorläufige Aufnahme (Asyl) - Aufhebung der vorläufigen Aufnahme; Verfügung des ...
Karar Dilini Çevir:
E-3993/2006 - Abteilung V - Aufhebung vorläufige Aufnahme (Asyl) - Aufhebung der vorläufigen Aufnahme; Verfügung des ...
Bundesverwaltungsgericht
Tribunal administratif fédéral
Tribunale amministrativo federale
Tribunal administrativ federal
Abteilung V
E-3993/2006
Urteil vom 25. Mai 2011
Besetzung Richterin Christa Luterbacher (Vorsitz),
Richter Walter Lang, Richterin Muriel Beck Kadima;
Gerichtsschreiberin Natasa Stankovic.
Parteien A._______, geboren am (…),
Afghanistan,
vertreten durch lic. iur. LL.M. Tarig Hassan,
(…),
Beschwerdeführer,
gegen
Bundesamt für Migration (BFM),
Quellenweg 6, 3003 Bern,
Vorinstanz.
Gegenstand Aufhebung der vorläufigen Aufnahme; Verfügung des BFM
vom 2. November 2005 / N (…).
E-3993/2006
Seite 2
Sachverhalt:
A.
Mit Verfügung vom 20. Juli 2001 stellte das damalige Bundesamt für
Flüchtlinge (BFF) fest, der Beschwerdeführer erfülle die
Flüchtlingseigenschaft nicht, lehnte sein am 12. April 1999 eingereichtes
Asylgesuch ab und verfügte die Wegweisung aus der Schweiz, welche
zugunsten einer vorläufigen Aufnahme allerdings nicht vollzogen wurde.
Diese Verfügung erwuchs unangefochten in Rechtskraft.
B.
In seinem Bericht vom 7. Juli 2005 negierte [kantonale Behörde] die
Frage, ob der Beschwerdeführer die Voraussetzungen für das Bestehen
einer schwerwiegenden persönlichen Notlage gemäss des damals noch
in Kraft gewesenen Art. 44 Abs. 3 des Asylgesetzes vom 26. Juni 1998
(AsylG, SR 142.31) und Art. 33 der Asylverordnung 1 vom 11. August
1999 über Verfahrensfragen (AsylV 1, SR 142.311) erfülle.
C.
Mit Schreiben vom 12. Juli 2005 teilte das BFM dem Beschwerdeführer
mit, es erwäge, die verfügte vorläufige Aufnahme in Anwendung von
Art. 14b Abs. 2 des damals noch in Kraft stehenden Bundesgesetzes vom
26. März 1931 über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAG,
BS 1 121) aufzuheben, nachdem in Afghanistan keine Situation
allgemeiner Gewalt mehr herrsche, nicht von einer konkreten Gefährdung
der Bevölkerung im Sinne von Art. 14a Abs. 4 ANAG ausgegangen und
die Rückkehr dorthin infolgedessen zwischenzeitlich grundsätzlich wieder
als zumutbar erachtet werde. Ferner bestehe vorliegend keine
schwerwiegende persönliche Notlage des Beschwerdeführers im Sinne
des damals noch in Kraft gewesenen Art. 44 Abs. 3 AsylG. Der
Beschwerdeführer lebe zwar seit Jahren in der Schweiz und sei teilweise
erwerbstätig, jedoch habe er keine Kinder, welche seit über vier Jahren
eingeschult seien. Zudem seien den Akten keine Hinweise zu
entnehmen, welche auf eine besonders enge Verbundenheit mit der
Schweiz schliessen lassen würden. Angesichts dessen gewährte das
Bundesamt dem Beschwerdeführer das rechtliche Gehör zur
beabsichtigten Aufhebung der vorläufigen Aufnahme und zum damit
verbundenen Wegweisungsvollzug.
D.
Mit Stellungnahme vom 3. August 2005 ersuchte der Rechtsvertreter des
Beschwerdeführers das BFM, von der Anordnung eines
E-3993/2006
Seite 3
Wegweisungsvollzuges abzusehen, denn in Afghanistan sei kein klarer
Machtwechsel zu verzeichnen. Die Regierung bestehe aus
verschiedenen Exponenten von Gruppen, welche sich teilweise erbittert
bekämpfen würden. Sodann seien die Taliban nicht gänzlich verbannt
und die Angst vor ihnen sei nach wie vor begründet, zumal keine
staatliche Macht bestehe, welche die Sicherheit gewährleisten könne. Die
neue Regierung in Afghanistan gebe sich auf internationalem Parkett
demokratisch und verfolge offiziell keine politischen Gegner. Faktisch
seien aber die alten Machthaber und Kriegsherren an der Macht. Ferner
könne der Beschwerdeführer in Afghanistan auf kein soziales Netz
zurückgreifen. Im Falle einer Rückkehr in sein Heimatland habe er
ausserdem mit politischer Verfolgung zu rechnen. Im Übrigen habe er
sich während seines langjährigen Aufenthaltes in der Schweiz mit den
hiesigen Verhältnissen vertraut gemacht und sich, namentlich indem er
eine Landessprache gelernt habe, hier integriert; seine zeitweilige
Arbeitslosigkeit sei lediglich auf die angespannte wirtschaftliche Lage
zurückzuführen.
Zur Stützung der Vorbringen wurde der Arbeitsvertrag des
Beschwerdeführers als Produktions-Mitarbeiter (…) vom (…) 2005 zu den
Akten gereicht.
E.
Das BFM forderte in seinem Schreiben vom 5. August 2005 den
Beschwerdeführer dazu auf, mitzuteilen, wo sich seine Mutter, [seine
Geschwister] aufhalten würden, zumal er im Rahmen seines
Asylverfahrens angegeben habe, dass seine Familienangehörigen in
Kabul wohnhaft seien.
F.
Mit Eingabe vom 22. August 2005 führte der Rechtsvertreter aus, das
Familienhaus des Beschwerdeführers habe sich in B._______ befunden.
Das Haus im Quartier C._______ in Kabul, wo sich die ganze Familie
eine bestimmte Zeit lang aufgehalten habe, gehöre [Geschwisterteil] des
Beschwerdeführers, [welcher], wie er durch einen Bekannten erfahren
habe, in der Zwischenzeit von dort weggezogen sei. Er kenne den
Aufenthaltsort seiner Familienangehörigen nicht, versuche sie aber
bereits seit Jahren – leider vergeblich, insbesondere weil seine
Kontaktperson mittlerweile ebenfalls nicht mehr in Afghanistan lebe –
ausfindig zu machen.
E-3993/2006
Seite 4
G.
Das BFM erachtete – nach Prüfung der Stellungnahmen vom 3. August
2005 sowie 22. August 2005 – im Schreiben vom 2. September 2005 an
den Beschwerdeführer die Aufhebung der vorläufigen Aufnahme zum
damaligen Zeitpunkt als nicht gerechtfertigt.
H.
[Kantonale Behörde] setzte daraufhin das BFM darüber in Kenntnis, dass
der Beschwerdeführer im Rahmen der Prüfung des allfälligen Bestehens
einer schwerwiegenden persönlichen Notlage am 17. Juni 2005 schriftlich
bestätigt habe, seine Familie sei in C._______ in Kabul wohnhaft.
I.
Das BFM ersuchte mit Schreiben vom 13. September 2005 die
Schweizerische Botschaft in Islamabad, Pakistan, um Abklärung
betreffend den Wohnort der Familienangehörigen des
Beschwerdeführers.
Mit Schreiben vom 27. September 2005 teilte die Schweizerische
Botschaft in Islamabad dem Bundesamt mit, dass die gewünschte
Abklärung mangels zusätzlicher, sachdienlicher Informationen –
insbesondere eine genauere Adressenangabe – in einer Millionenstadt
wie Kabul nicht durchgeführt werden könne.
J.
Das BFM setzte mit Schreiben vom 5. Oktober 2005 den
Beschwerdeführer darüber in Kenntnis, es erwäge – angesichts des
Umstandes, dass seine Angaben im Schreiben vom 17. Juni 2005 an
[kantonale Behörde] anlässlich der Prüfung des allfälligen Bestehens
einer schwerwiegenden persönlichen Notlage in Widerspruch stünden zu
seinen Aussagen im Schreiben vom 22. August 2005 an das BFM – in
Anwendung des damals noch in Kraft stehenden Art. 14b Abs. 2 ANAG
die vorläufige Aufnahme aufzuheben, da die Angabe, er verfüge in Kabul
über kein Beziehungsnetz, nicht mehr als glaubwürdig zu erachten sei,
und gewährte ihm diesbezüglich das rechtliche Gehör.
K.
In der Stellungnahme vom 26. Oktober 2005 führte der Rechtsvertreter
aus, es treffe zwar zu, dass die Aussagen des Beschwerdeführers vom
17. Juni 2005 als in Widerspruch stehend zur Stellungnahme vom
22. August 2005 betrachtet werden könnten; der Beschwerdeführer habe
E-3993/2006
Seite 5
aber damals die Frage nicht klar verstanden und habe sich deshalb
fälschlicherweise zum ihm zuletzt bekannten Wohnort seiner
Familienangehörigen geäussert.
L.
Mit Verfügung vom 2. November 2005 hob das BFM die vorläufige
Aufnahme des Beschwerdeführers auf, forderte ihn auf, die Schweiz –
unter Androhung von Zwangsmitteln im Unterlassungsfall – bis zum 6.
Januar 2006 zu verlassen, und beauftragte den Kanton (…) mit dem
Vollzug der Wegweisung. Zur Begründung führte das Bundesamt aus, es
erachten den Vollzug der Wegweisung nach Afghanistan grundsätzlich
wieder als zumutbar. So herrsche dort keine landesweite Situation
allgemeiner Gewalt mehr und die Lage in bestimmten Provinzen könne
nicht mehr als besonders unsicher definiert werden. Insgesamt habe die
Zentralregierung ihren Einflussbereich entscheidend ausdehnen können.
Eine Rückkehr nach Afghanistan gelte insbesondere für jene
ausländischen Personen als zumutbar, welche aus der Region Kabul
stammen würden, über eine gute Ausbildung beziehungsweise
Berufserfahrung verfügen würden sowie auf ein soziales Beziehungsnetz
zurückgreifen könnten. Der Beschwerdeführer, ein aus Kabul
stammender, gesunder Mann, welcher den Beruf (…) erlernt sowie in
Kabul [ein Geschäft] besessen habe, in der Schweiz zudem (…)
Erfahrung habe sammeln können und eigenen Angaben zufolge (vgl.
schriftliche Stellungnahme des Beschwerdeführers an [kantonale
Behörde] vom 17. Juni 2005) über ein soziales Beziehungsnetz in Kabul,
bestehend aus der Mutter und (…) Geschwistern, verfüge, erfülle diese
Voraussetzungen. Im Übrigen vermöchten die Erklärungsversuche,
wonach der Beschwerdeführer die Frage nach dem Aufenthaltsort seiner
Familienangehörigen nicht klar verstanden habe und lediglich die letzte
ihm bekannte Wohnadresse angegeben habe, nicht zu überzeugen;
einerseits handle es sich inhaltlich um eine einfache Fragestellung,
andererseits sei in der Stellungnahme vom 3. August 2005 ausgeführt
worden, der Beschwerdeführer könne sich in Alltagssituationen
differenziert und gut auf Deutsch verständigen. Ohne die durchaus nicht
einfache Situation in Afghanistan verharmlosen zu wollen, sei es
gleichwohl von Vornherein nicht auszuschliessen, dass es ihm gelingen
werde, sich im Heimatland eine Existenz aufzubauen; immerhin sei er
bereits vor seiner Ausreise aus seinem Heimatland einer selbstständigen
Erwerbstätigkeit nachgegangen. Schliesslich seien die Voraussetzungen
einer schwerwiegenden persönlichen Notlage im Sinne von Art. 44 Abs. 3
AsylG im vorliegenden Fall nicht erfüllt, zumal es dem Beschwerdeführer
E-3993/2006
Seite 6
nicht gelungen sei, sich eine dauerhafte wirtschaftliche Existenz zu
schaffen, den Akten keine Hinweise auf eine besonders enge Beziehung
zur Schweiz zu entnehmen seien und er zudem erst als (…)-Jähriger in
die Schweiz gekommen sei und somit sein Leben hauptsächlich im
Heimatland verbracht habe, so dass eine Rückkehr nach Afghanistan
auch keiner Entwurzelung gleichkomme.
M.
Der Rechtsvertreter erhob mit Eingabe vom 5. Dezember 2005 (Datum
Poststempel) namens und im Auftrag des Beschwerdeführers bei der
damals zuständigen Schweizerischen Asylrekurskommission (ARK)
Beschwerde und beantragte, es sei die vorinstanzliche Verfügung
vollumfänglich aufzuheben sowie die Unzumutbarkeit des Vollzugs der
Wegweisung festzustellen und die vorläufige Aufnahme zu bestätigen. In
verfahrensrechtlicher Hinsicht wurde um Gewährung der unentgeltlichen
Prozessführung und um Verzicht auf die Erhebung eines
Kostenvorschusses ersucht.
Der angefochtenen Verfügung der Vorinstanz wurde entgegnet, der
Beschwerdeführer verfüge in Kabul über kein soziales Beziehungsnetz.
Die Einschätzung der Vorinstanz stütze sich auf eine schriftliche
Stellungnahme des Beschwerdeführers an [kantonale Behörde], welche
das Resultat seiner mässigen Deutschkenntnisse sei. Er könne sich zwar
in Alltagssituationen gut auf Deutsch verständigen, seine schriftlichen
Sprachkenntnisse würden jedoch nicht den Anforderungen entsprechen,
um die Korrespondenz mit Behörden bewältigen zu können. So habe er
die Frage nach dem Aufenthalt seiner Familie falsch verstanden; er sei
davon ausgegangen, es werde nach dem ihm zuletzt bekannten
Wohnsitz seiner Familie gefragt. Er habe den Behörden bereits
ausführlich und explizit zu verstehen gegeben, dass er nicht wisse, wo
sich seine Familienangehörigen aufhalten würden, und als erneut
dieselbe Frage gestellt worden sei, habe er angenommen, es gehe um
den Wohnsitz, zumal die Frage aus seiner Sicht ansonsten keinen Sinn
ergeben habe. Das Missverständnis sei daher nachvollziehbar und
entschuldbar. Insbesondere ändere dies nichts an der Tatsache, dass er
über kein soziales Netz in Afghanistan verfüge und die Existenz eines
sozialen Beziehungsnetzes eine unabdingbare Voraussetzung für die
Zumutbarkeit des Vollzuges sei. Die Aufhebung der vorläufigen
Aufnahme sei daher nicht angezeigt.
E-3993/2006
Seite 7
N.
Mit Verfügung der ARK vom 13. Dezember 2005 wurde dem
Beschwerdeführer mitgeteilt, dass seiner Beschwerde aufschiebende
Wirkung gemäss Art. 55 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 20. Dezember
1968 über das Verwaltungsverfahren (VwVG, SR 172.021) zukomme und
er den Abschluss des Verfahrens in der Schweiz als vorläufig
aufgenommener Ausländer abwarten könne. Sodann wurde festgestellt,
dass der Saldo des Sicherheitskontos des Beschwerdeführers die allfällig
zu erhebenden Verfahrenskosten übersteige und praxisgemäss daher auf
die Erhebung eines Kostenvorschusses zu verzichten sei. Aus
demselben Grund sei der Beschwerdeführer nicht als bedürftig im Sinne
von Art. 65 Abs. 1 VwVG zu erachten, weshalb das Gesuch um
Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung – ungeachtet der
Prozessaussichten – abzulehnen sei.
O.
Die ARK lud die Vorinstanz mit Schreiben vom 14. Dezember 2005 zur
Einreichung einer Vernehmlassung ein.
P.
Mit Vernehmlassung vom 19. Dezember 2005 beantragte das BFM die
Abweisung der Beschwerde, zumal die Beschwerdeschrift keine neuen
erheblichen Tatsachen oder Beweismittel enthalte, die eine Änderung des
vorinstanzlichen Entscheides rechtfertigen könnten. Sodann würden
keine neuen Elemente vorgebracht, die nicht bereits Gegenstand des
Entscheids gewesen seien.
Q.
Mit Verfügung vom 26. Februar 2007 wies [kantonale Behörde] das
Gesuch des Beschwerdeführers um Erteilung einer
Aufenthaltsbewilligung ab.
R.
Der Rechtsvertreter reichte mit Telefaxeingabe vom 17. Mai 2011 eine
Kostennote zu den Akten ein.
Das Bundesverwaltungsgericht zieht in Erwägung:
1.
E-3993/2006
Seite 8
1.1. Gemäss Art. 31 des Verwaltungsgerichtsgesetzes vom 17. Juni 2005
(VGG, SR 173.32) beurteilt das Bundesverwaltungsgericht Beschwerden
gegen Verfügungen nach Art. 5 VwVG. Das BFM gehört zu den
Behörden nach Art. 33 VGG und ist daher eine Vorinstanz des
Bundesverwaltungsgerichts. Eine das Sachgebiet betreffende Ausnahme
im Sinne von Art. 32 VGG liegt nicht vor. Das Bundesverwaltungsgericht
ist daher zuständig für die Beurteilung der vorliegenden Beschwerde und
entscheidet im Gebiet des Ausländerrechts betreffend die Frage der
vorläufigen Aufnahme endgültig (Art. 83 Bst. c Ziff. 3 des
Bundesgerichtsgesetzes vom 17. Juni 2005 [BGG, SR 173.110]).
1.2. Das Bundesverwaltungsgericht hat am 1. Januar 2007 die
Beurteilung der bei der ARK am 31. Dezember 2006 hängigen
Rechtsmittelverfahren übernommen. Das neue Verfahrensrecht ist
anwendbar (Art. 53 Abs. 2 VGG).
1.3. Die Beschwerde ist frist- und formgerecht eingereicht. Der
Beschwerdeführer ist durch die angefochtene Verfügung besonders
berührt und hat ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung
beziehungsweise Änderung; er ist daher zur Einreichung der Beschwerde
legitimiert (Art. 112 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005
über die Ausländerinnen und Ausländer [AuG, SR 142.20] i.V.m. Art. 37
VGG, Art. 48 Abs. 1, Art. 50 Abs. 1 sowie Art. 52 Abs. 1 VwVG). Auf die
Beschwerde ist einzutreten.
2.
Mit Beschwerde kann die Verletzung von Bundesrecht, die unrichtige
oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts und
die Unangemessenheit gerügt werden (Art. 112 Abs. 1 AuG i.V.m. Art. 49
VwVG).
3.
3.1. Die am 1. Januar 2008 in Kraft getretene übergangsrechtliche
Bestimmung von Art. 126a Abs. 4 AuG sieht vor, dass für Personen, die
im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Änderung des AsylG vom 16.
Dezember 2005 sowie des AuG vorläufig aufgenommen sind, das neue
Recht gilt. Diese spezielle Regel geht der allgemeinen Regel von Art. 126
Abs. 1 AuG (vgl. dazu BVGE 2008/1) vor.
3.2. Der Beschwerdeführer wurde unter altem Recht vorläufig
aufgenommen. Aufgrund der übergangsrechtlichen Regelung gemäss
E-3993/2006
Seite 9
Art. 126a Abs. 4 AuG ist im vorliegenden Beschwerdeverfahren
betreffend Aufhebung der vorläufigen Aufnahme jedoch zu prüfen, ob die
Voraussetzungen für die Aufhebung der vorläufigen Aufnahme nach
neuem Recht – mithin nach Art. 84 Abs. 1 – 3 AuG – vorliegen.
4.
4.1. Gemäss Art. 84 Abs. 2 AuG wird die vorläufige Aufnahme
aufgehoben und der Vollzug angeordnet, wenn die Voraussetzungen der
vorläufigen Aufnahme nicht mehr gegeben sind, d.h. wenn der Vollzug
(wieder) zulässig, zumutbar und möglich ist. Zulässigkeit, Zumutbarkeit
und Möglichkeit sind alternativer Natur. Die nachfolgenden Erwägungen
konzentrieren sich auf die Frage der Zumutbarkeit. Im Folgenden ist zu
untersuchen, ob die verfügte vorläufige Aufnahme infolge weiterhin
bestehender Unzumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs zu bestätigen
oder aufzuheben ist.
4.2.
4.2.1. Der Vollzug für Ausländerinnen und Ausländer kann gemäss Art.
83 Abs. 4 AuG unzumutbar sein, wenn sie im Heimat- oder
Herkunftsstaat auf Grund von Situationen wie Krieg, Bürgerkrieg,
allgemeiner Gewalt und medizinischer Notlage konkret gefährdet sind.
Wird eine konkrete Gefährdung festgestellt, ist – unter Vorbehalt von Art.
83 Abs. 7 AuG – die vorläufige Aufnahme zu gewähren (vgl. Botschaft
zum Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer vom 8. März
2002, BBl 2002 3818).
4.2.2. In ihrer vorliegend zu berücksichtigenden Rechtsprechung hatte
sich die ARK in EMARK 2003 Nr. 10 und Nr. 30 eingehend zur Lage in
Afghanistan geäussert und die Unterschiede zwischen der Stadt Kabul
und anderen Regionen Afghanistans dargestellt. Die ARK erklärte dabei
im Jahre 2003 – aufgrund der vergleichsweise günstigeren Situation – in
einem ersten Schritt den Wegweisungsvollzug nach Kabul unter
bestimmten strengen Voraussetzungen, insbesondere einem tragfähigen
Beziehungsnetz, der Möglichkeit der Sicherung des Existenzminimums
und einer gesicherten Wohnsituation, als zumutbar. Im Jahre 2006
bestätigte sie ihre Rechtsprechung und erklärte zusätzlich zu Kabul den
Wegweisungsvollzug in weitere, abschliessend aufgeführte Provinzen
unter den in EMARK 2003 Nr. 10 definierten strengen Bedingungen als
zumutbar (vgl. EMARK 2006 Nr. 9). Das Bundesverwaltungsgericht hat
E-3993/2006
Seite 10
sich dieser Lageeinschätzung angeschlossen.
Seit dem Jahre 2006 hat sich die Lage in Afghanistan jedoch insgesamt
verschlechtert. Jene Gebiete, in die 2006 die Rückführung als
unzumutbar betrachtet wurde, sind heute fraglos immer noch so zu
qualifizieren. Das Bundesverwaltungsgericht sieht denn auch in
Berücksichtigung der jüngsten Entwicklung in Afghanistan (vgl. hierzu
etwa die Urteile des Bundesverwaltungsgerichts D-1689/2009 vom
7. September 2010, D-8645/2007 vom 7. Juni 2010 und E- 1745/2009
vom 9. Februar 2011) keine Veranlassung, von dieser Lageeinschätzung
abzuweichen. Im Übrigen hat sich die humanitäre und wirtschaftliche
Lage in Kabul seit 2006 jedenfalls nicht verbessert; inwiefern von einer
Verschlechterung der Situation ausgegangen werden müsste, kann
vorliegend angesichts der nachstehenden Erwägung (E. 4.2.3.) offen
bleiben.
Des Weiteren wurde in EMARK 2006 Nr. 9 ausgeführt, es dürften nur
junge, unverheiratete Personen oder kinderlose Paare ohne gravierende
gesundheitliche Probleme zurückgeschickt werden (vgl. EMARK 2006
Nr. 9 E. 7.8 S. 102).
4.2.3. Das BFM begründete die Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzuges
nach Kabul damit, dass dort gemäss den Angaben des
Beschwerdeführers seine Mutter und seine (…) Geschwister leben
würden. Somit verfüge er in einer nicht unsicheren Region über ein
verwandtschaftliches Beziehungsnetz und Wohnraum, so dass es ihm bei
einer Rückkehr gelingen könne, eine neue Lebensgrundlage aufzubauen.
Die berufliche Ausbildung sowie Erfahrung, die er sowohl in Afghanistan
als auch in der Schweiz habe sammeln können, seien zusätzliche
Faktoren, die nicht von Vornherein ausschliessen lassen würden, dem
Beschwerdeführer werde es gelingen, sich im Heimatland eine Existenz
aufzubauen. Folglich lägen keine Gründe vor, die gegen die Zumutbarkeit
des Wegweisungsvollzuges sprechen würden.
Das Bundesverwaltungsgericht schliesst sich nach einer eingehenden
Prüfung der Akten der Einschätzung der Vorinstanz nicht an. Die
Begründung des BFM hat nicht aufgezeigt, inwiefern der
Beschwerdeführer über ein nachweisbares tragfähiges Beziehungsnetz in
Kabul, welches die Sicherung des Existenzminimums und der
Wohnsituation gewährleistet, verfügt. Die Frage 9 auf dem Formular
[kantonale Behörde] vom 27. Mai 2005 lautet: "Haben Sie nahe
E-3993/2006
Seite 11
Familienangehörige (Ehepartner/in, Kinder, Eltern, Brüder, Schwestern,
Andere) in der Schweiz, in Ihrem Heimatland oder sonst in einem
Drittstaat? Falls ja, sind uns die Personalien (Name, Vorname,
Geburtsdatum, Staatsangehörigkeit, Wohnadresse) dieser Personen
schriftlich und vollständig mitzuteilen" (vgl. B3/3). Gemäss seiner in
deutscher Sprache und ohne Hilfe eines Rechtsvertreters verfassten
Stellungnahme vom 17. Juni 2005 an [kantonale Behörde] führte der
Beschwerdeführer aus, seine Mutter und die (…) Geschwister würden in
Kabul, C._______, leben (vgl. B5). Während des vorinstanzlichen
Verfahrens gab der Beschwerdeführer zwar stets Kabul als Wohnort
seiner Familienangehörigen an, jedoch unter Angabe unterschiedlicher
Quartiere (vgl. A10/15 S. 2, A1/8 S. 1, 2, B5). In der Stellungnahme vom
22. August 2005 wurde erläutert, das Familienhaus habe sich
ursprünglich in B._______ befunden. Das Haus im Quartier C._______
gehöre [einem Geschwisterteil] des Beschwerdeführers; die ganze
Familie habe sich eine bestimmte Zeit dort aufgehalten (vgl. B9/1). Dem
Anhörungsprotokoll vom 6. März 2001 ist ferner zu entnehmen, dass die
Familie des Beschwerdeführers vorübergehend in Pakistan gelebt habe
(vgl. A10/15 S.2). In Anbetracht der zahlreichen Angaben betreffend den
Wohnort der Familienangehörigen des Beschwerdeführers liegen keine
konkret verwertbaren Hinweise vor, die es ermöglichen würden, darauf
schliessen zu lassen, wo sich die Familienmitglieder aktuell befinden
würden. Angesichts der damaligen Verhältnisse und des Umstandes,
dass der Beschwerdeführer sich seit nunmehr über zwölf Jahren in der
Schweiz befindet, erscheint es allerdings auch nicht erstaunlich, dass er
über all die Jahre den Kontakt mit den verbliebenen Angehörigen nicht
habe aufrecht erhalten können und auch seine ehemalige Kontaktperson
– eigenen Angaben zufolge – das Land habe verlassen müssen. Selbst
die Schweizer Botschaft in Islamabad habe die Familienangehörigen des
Beschwerdeführers aufgrund der vorliegenden Informationen nicht
ausfindig machen können (vgl. Antwortschreiben vom 27. September
2005, B17/1). Im Übrigen erscheint die Erklärung, er habe die Frage 9 auf
dem Formular [kantonale Behörde] vom 27. Mai 2005 dahingehend
verstanden, dass die Fragestellung auf den ihm zuletzt bekannten
Wohnsitz seiner Familienangehörigen abziele, zumindest – auch
angesichts seiner moderaten Deutschkenntnisse – nicht unplausibel. In
Würdigung der gesamten Aspekte sprechen mithin überwiegende
Umstände nicht gegen die vom Beschwerdeführer vorgebrachte
Darstellung. Das Bestehen eines tragfähigen Beziehungsnetzes und
einer geregelten Wohnsituation können bei dieser Aktenlage somit nicht
als gesichert gelten.
E-3993/2006
Seite 12
In Bezug auf die Sicherung des Existenzminimums und die herrschende
wirtschaftliche Situation in Afghanistan führte die Vorinstanz aus, der
Beschwerdeführer habe eine Berufsausbildung (…) und in Kabul [ein
Geschäft] besessen. Sodann falle in diesem Zusammenhang auch die in
der Schweiz erworbene Erfahrung (…) ins Gewicht. [Ausführungen zu
Erwerbstätigkeit]. Ein berufliches Fortkommen (…) erscheint (..) mithin
fraglich. Der vorinstanzlichen Einschätzung, der Beschwerdeführer werde
sich voraussichtlich als Selbständigerwerbender [mit dem Geschäft]
erneut in Kabul zu etablieren wissen, ist – trotz allfälliger Rückkehrhilfe –
mit Vorbehalt zu begegnen, (…). Ferner ist die vom BFM genannte, in der
Schweiz ausgeführte Tätigkeit (…) nicht als Berufserfahrung zu werten,
die geeignet wäre, dem Beschwerdeführer im Heimatland die Sicherung
des Existenzminimums zu ermöglichen. Im Übrigen geht auch die
Vorinstanz in ihrer angefochtenen Verfügung nicht ohne Weiteres davon
aus, dass es ihm gelingen wird, sich eine Lebensgrundlage in Kabul
aufzubauen, sondern hält hierzu nur fest, dies sei zumindest nicht
auszuschliessen. Nach dem Gesagten kann nicht ausgeschlossen
werden, der Beschwerdeführer gerate im Falle der Rückkehr in eine
existenzbedrohende Situation.
Von einer zumutbaren Aufenthaltsalternative in einem anderen Landesteil
Afghanistans ist ebenfalls nicht auszugehen, nachdem den Akten
keinerlei Hinweise auf einen längeren Aufenthalt des Beschwerdeführers
oder auf ein tragfähiges familiäres Beziehungsnetz in einer der bisher als
sicher bezeichneten Provinzen Afghanistans zu entnehmen sind.
Die Ausführungen in der Beschwerdeeingabe vom 5. Dezember 2005 zur
allfälligen schwerwiegenden persönlichen Notlage des
Beschwerdeführers wären im Rahmen einer erneuten Prüfung der
Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung durch den Kanton zu
berücksichtigen und müssen mangels Zuständigkeit des
Bundesverwaltungsgerichts vorliegend unberücksichtigt bleiben (vgl. Art.
84 Abs. 5 AuG). Dem Beschwerdeführer ist es unbenommen, bei der
zuständigen kantonalen Behörde erneut ein entsprechendes Gesuch um
Erteilung der B-Bewilligung anhängig zu machen.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass nicht davon ausgegangen
werden kann, der Beschwerdeführer verfüge in Kabul über ein
tragfähiges Beziehungsnetz, welches ihm die Sicherung des
Existenzminimums und der Wohnsituation gewährleisten könnte. Unter
E-3993/2006
Seite 13
diesen Umständen hat die Vorinstanz somit zu Unrecht den Vollzug der
Wegweisung des Beschwerdeführers nach Kabul als zumutbar qualifiziert
und die mit Verfügung vom 20. Juli 2001 angeordnete vorläufige
Aufnahme des Beschwerdeführers zu Unrecht aufgehoben.
5.
Der Vollzug der Wegweisung ist im vorliegenden Fall wegen
Unzumutbarkeit weiterhin als undurchführbar zu betrachten. Die
Voraussetzungen für die Gewährung der vorläufigen Aufnahme sind
demnach weiterhin erfüllt und eine Aufhebung der vorläufigen Aufnahme
gestützt auf Art. 84 Abs. 2 AuG kommt nicht in Frage. Einer vorläufigen
Aufnahme stehen im Übrigen auch keine einschränkenden gesetzlichen
Tatbestände (Art. 83 Abs. 7 AuG) entgegen.
Die Beschwerde ist nach dem Gesagten gutzuheissen, und die
Vorinstanz ist anzuweisen, den Beschwerdeführer weiterhin vorläufig
aufzunehmen.
6.
6.1. Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Verfahrenskosten
aufzuerlegen (Art. 63 Abs. 1 und 2 VwVG).
Dem vertretenen Beschwerdeführer ist angesichts des Obsiegens in
Anwendung von Art. 64 Abs. 1 VwVG eine Parteientschädigung für die
ihm erwachsenen notwendigen Kosten zuzusprechen (vgl. Art. 7 ff. des
Reglements vom 21. Februar 2008 über die Kosten und Entschädigungen
vor dem Bundesverwaltungsgericht [VGKE, SR 173.320.2]).
6.2. Der Rechtsvertreter reichte mit Telefaxeingabe vom 17. Mai 2011
seine Kostennote ein, gemäss welcher er einen Aufwand von insgesamt
11 Stunden zum Stundenansatz von Fr. 190.– sowie Barauslagen in
Höhe von Fr. 39.– geltend machte. Der in Rechnung gestellte Aufwand ist
insofern zu kürzen, als darin auch Kosten ausgewiesen werden, welche
im vorinstanzlichen Verfahren, in der Zeit vor Ergehen der angefochtenen
Verfügung am 2. November 2005, angefallen sind und welche vorliegend
nicht zu vergüten sind; der zu vergütende zeitliche Aufwand ist daher um
5.25 Stunden, die ausgewiesenen Kosten sind um Fr. 14.- zu kürzen. Im
Übrigen erscheint der in Rechnung gestellt Aufwand angemessen. Die
E-3993/2006
Seite 14
vom Bundesamt auszurichtende Parteientschädigung ist demnach auf
Fr. 1'202.50 (inkl. Auslagen und Mehrwertsteuer) festzusetzen.
E-3993/2006
Seite 15
Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:
1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen.
2.
Die Verfügung vom 2. November 2002 wird aufgehoben und das BFM
angewiesen, den Beschwerdeführer vorläufig aufzunehmen.
3.
Es werden keine Verfahrenskosten auferlegt.
4.
Das BFM hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor der
Beschwerdeinstanz eine Parteientschädigung in der Höhe von Fr.
1'202.50 zu entrichten.
5.
Dieses Urteil geht an den Rechtsvertreter des Beschwerdeführers, das
BFM und die zuständige kantonale Behörde.
Die vorsitzende Richterin: Die Gerichtsschreiberin:
Christa Luterbacher Natasa Stankovic
Versand: