E-3781/2006 - Abteilung V - Asyl und Wegweisung - Flüchtlingseigenschaft; Asyl; Wegweisung; Vollzug
Karar Dilini Çevir:
E-3781/2006 - Abteilung V - Asyl und Wegweisung - Flüchtlingseigenschaft; Asyl; Wegweisung; Vollzug
Abtei lung V
E-3781/2006/ame
{T 0/2}
U r t e i l v o m 2 8 . N o v e m b e r 2 0 0 8
Richterin Therese Kojic (Vorsitz),
Richter François Badoud, Richterin Gabriela Freihofer,
Gerichtsschreiberin Sandra Bodenmann.
A._______, geboren (...),
Türkei,
vertreten durch Gabriel Püntener, Fürsprecher,
Beschwerdeführerin,
gegen
Bundesamt für Migration (BFM; vormals: Bundesamt
für Flüchtlinge, BFF),
Quellenweg 6, 3003 Bern,
Vorinstanz.
Asyl und Wegweisung; Verfügung des BFM
vom 17. September 2004 / N (...).
B u n d e s v e r w a l t u n g s g e r i c h t
T r i b u n a l a d m i n i s t r a t i f f é d é r a l
T r i b u n a l e a m m i n i s t r a t i v o f e d e r a l e
T r i b u n a l a d m i n i s t r a t i v f e d e r a l
Besetzung
Parteien
Gegenstand
E-3781/2006
Sachverhalt:
A.
Die Beschwerdeführerin verliess ihren Heimatstaat gemäss eigenen
Angaben am 22. Januar 2004 und gelangte am 25. Januar 2004 in die
Schweiz, wo sie am folgenden Tag bei der Empfangsstelle (heute:
Empfangs- und Verfahrenszentrum) in Basel um Asyl ersuchte. Am
28. Januar 2004 wurde die Beschwerdeführerin vom Bundesamt sum-
marisch zu ihren Ausreise- und Asylgründen befragt. Am 15. März
2004 fand die einlässliche Anhörung der Beschwerdeführerin zu ihren
Asylgründen durch das Migrationsamt des Kantons Aargau statt.
Zur Begründung ihres Asylgesuches brachte die Beschwerdeführerin
im Wesentlichen vor, sie sei alevitische Kurdin und stamme von
B._______, Provinz C._______. Ihre Familie sei wegen ihres Cousins
D._______ ständig belästigt und unterdrückt worden. Sie habe persön-
lich keine Probleme mit den türkischen Behörden gehabt. Sie sei ein
einziges Mal - anfangs 2002 - auf den Gendarmerie- beziehungsweise
Militärposten in E._______ mitgenommen, acht bis zehn Stunden fest-
gehalten und über ihren Cousin ausgefragt worden. Diese Festhaltung
habe keine weiteren Konsequenzen für sie nach sich gezogen. Es sei
nie ein Gerichtsverfahren gegen sie eröffnet worden. Die Behörden
hätten sie und ihre Familie jedoch ständig beschattet, rund zehn Haus-
durchsuchungen vorgenommen und sie auf der Strasse kontrolliert.
Dabei habe man ihr auch Ohrfeigen verpasst und sie mit Füssen trak-
tiert. Ihr Cousin D._______ werde gesucht, weil er vor rund fünf Jahren
während der Absolvierung seines Militärdienstes bei einem bewaffne-
ten Einsatz gegen die PKK die Fronten gewechselt und sich den PKK-
Guerillas angeschlossen habe. Ihr sei nicht bekannt, ob die türkischen
Behörden in Erfahrung gebracht hätten, dass sich D._______ in der
Schweiz befinde. Im Weiteren hätten sich zwei weitere entferntere Ver-
wandte den Guerilla angeschlossen. Sie selbst habe sich in der Hei-
mat nie politisch betätigt. Wegen der ständigen Schikanen sei es ihr
physisch und psychisch immer schlechter gegangen, weshalb sie sich
auch im März 2003 von einem Psychologen in G._______ habe
behandeln lassen. Ihr Vater habe dann beschlossen, sie ins Ausland
zu schicken. Ihre sechs Geschwister hätten ebenfalls ihr Heimatland
verlassen und lebten in Deutschland oder in der Schweiz.
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Im Anschluss an die eigentliche Anhörung wurde die Beschwerdefüh-
rerin aufgefordert, eine Bestätigung oder ein Gutachten des sie in
G._______ behandelnden Psychologen nachzureichen.
B.
Mit Eingabe vom 15. Juni 2004 reichte die Beschwerdeführerin ein
fremdsprachiges Dokument (Arztzeugnis) vom 2. Juni 2003 im Original
mit Übersetzung ein.
C.
Mit Verfügung vom 17. September 2004 - eröffnet am 20. September
2004 - lehnte das Bundesamt das Asylgesuch ab und ordnete die
Wegweisung der Beschwerdeführerin aus der Schweiz sowie den Voll-
zug der Wegweisung an. Die Vorinstanz begründete ihren negativen
Entscheid im Wesentlichen damit, die Vorbringen der Beschwerdefüh-
rerin hielten den Anforderungen an die Glaubhaftmachung nicht
stand. So habe die Beschwerdeführerin einerseits zu Protokoll gege-
ben, ihr Cousin D._______ habe sich vor fünf Jahren, somit etwa
1999, der PKK angeschlossen und halte sich als anerkannter Flücht-
ling in der Schweiz auf. Dieser Cousin sei jedoch bereits 1998 in die
Schweiz eingereist, womit sich die diesbezüglichen Aussagen der Be-
schwerdeführerin als tatsachenwidrig erwiesen. Zudem habe sich die
Beschwerdeführerin wenig detailliert und differenziert über die be-
haupteten Übergriffe auf Grund des genannten Cousins geäussert. Die
Hausdurchsuchungen, Identitätskontrollen und sonstigen Belästigun-
gen habe sie nur wenig personenbezogen und realitätsgenau geschil-
dert. Schliesslich habe sie im Verlauf ihres Verfahrens angegeben, sich
Ende 2002/anfangs 2003 zu Besuch bei ihren Familienangehörigen in
der Schweiz aufgehalten zu haben, wobei sie damals die Türkei in Be-
sitz eines eigenen Reisepasses verlassen habe. Der Erhalt des Pas-
ses im Jahr 2002 sowie die legale Ausreise im Besitz desselben stell-
ten klare Indizien dafür dar, dass seitens der türkischen Behörden
nichts gegen sie vorliege. Auch die freiwillige Rückkehr der Be-
schwerdeführerin in die Türkei im Jahr 2003 lasse zwingend darauf
schliessen, dass sie nicht einer Verfolgungsgefahr unterliege. Aufgrund
dieser gesamten Ungereimtheiten sei die behauptete Reflexverfolgung
im Zusammenhang mit ihrem Cousin D._______ nicht glaubhaft.
Schliesslich befand das BFM den Wegweisungsvollzug der Beschwer-
deführerin in die Türkei als zulässig, zumutbar und möglich.
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D.
Mit Eingabe vom 5. Oktober 2004 an das Bundesamt hat der Rechts-
vertreter der Beschwerdeführerin die Übernahme des Vertretungsman-
dates inklusive den Widerruf früherer Vertretungsverhältnisse ange-
zeigt.
E.
Gegen die Verfügung des BFF vom 17. September 2004 liess die Be-
schwerdeführerin durch ihren Rechtsvertreter bei der damals zuständi-
gen Schweizerischen Asylrekurskommission (ARK) mit Eingabe vom
20. Oktober 2004 Beschwerde einreichen. Dabei wurde die Aufhebung
der angefochtenen Verfügung und Rückweisung der Sache an die
Vorinstanz, eventualiter die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft
und die Gewährung von Asyl sowie die Feststellung der Unzumutbar-
keit des Wegweisungsvollzuges beantragt. Zur Begründung führte die
Beschwerdeführin aus, der rechtserhebliche Sachverhalt sei nicht voll-
ständig und nicht richtig abgeklärt worden. Zudem habe das
Bundesamt Art. 3 und 7 des Asylgesetzes vom 26. Juni 1998 (AsylG,
SR 142.31) nicht richtig angewandt. Es sei offensichtlich, dass die Be-
schwerdeführerin keine Gründe vorbringen könne, welche ihre direkte
Gefährdung des Leibes, Lebens oder Freiheit betreffen würden. Nach-
dem sie jedoch anlässlich ihrer Anhörungen mehrfach auf Behelligun-
gen wegen ihres Cousins D._______ und ihren schlechten psychi-
schen Zustand verwiesen habe, hätte das Bundesamt die Frage prüfen
müssen, ob staatliche Massnahmen vorliegen würden, die einen uner-
träglichen psychischen Druck verursacht hätten. Die anlässlich der Be-
fragung vom 15. März 2004 anwesende Hilfswerksvertreterin habe
eine Anmerkung angebracht, wonach sie die Erstellung eines psy-
chologischen Gutachtens sowie eine entsprechende Betreuung bean-
trage. Im Rahmen der Abklärung des Sachverhaltes hätte untersucht
werden müssen, ob objektivierbare Gründe für die Annahme eines un-
erträglichen psychischen Druckes vorliegen würden und dabei ein aus-
führlicher psychiatrischer Bericht erstellt werden müssen. Zudem hätte
die Beschwerdeführerin im Rahmen einer ergänzenden Anhörung
spezifisch zu diesen Drucksituationen befragt werden müssen.
Im Weiteren gehe aus einer Vielzahl von Verfahren, welche die engere
Verwandtschaft der Beschwerdeführerin betreffen würden (D._______,
H._______, I._______) hervor, dass diese Personen wegen des
Überlaufens von D._______ aus dem türkischen Militärdienst zur PKK
wegen einer Reflexverfolgungssituation Asyl erhalten hätten. Selbst
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eine ungenaue Datierung oder Schilderung der Beschwerdeführerin
betreffend die Verfolgung ihres Cousins lasse die Tatsachen
beziehungsweise ihren familiären Hintergrund nicht aus der Welt
schaffen. Weder das Vorliegen eines unerträglichen psychischen
Druckes noch das Vorliegen einer Reflexverfolgung auf Grund der Zu-
gehörigkeit zur engeren Verwandtschaft von D._______ seien hinrei-
chend abgeklärt worden.
Die Beschwerdeführerin habe anlässlich ihrer Befragung vom 15. März
2004 Unterdrückung, Beschimpfungen und Misshandlungen vorgetra-
gen. Sowohl die Empfangsstellen-, als auch die kantonale Anhörung
seien durch ein reines Männerteam durchgeführt worden. Einzig die
Hilfswerksvertretung sei eine weibliche Person gewesen, welcher der
psychisch schlechte Zustand der Beschwerdeführerin aufgefallen sei.
Die frauenspezifischen Fluchtgründe hätten nicht erfragt und dement-
sprechend im Entscheid nicht berücksichtigt werden können.
Für den Fall, dass die angefochtene Verfügung nicht aufgehoben wer-
de, wurde die Durchführung einer Befragung zu den frauenspezifi-
schen Fluchtgründen durch ein weibliches Befragungsteam und die
Einholung eines psychiatrischen Berichtes beantragt. Das zuständige
Asylbewerberheim sei bereits darum ersucht worden, eine fachärzt-
liche Behandlung einzuleiten. Zudem wurde um die Herausgabe der
Verfahrensakten der Verwandten der Beschwerdeführerin ersucht. Die
Beschwerdeführerin habe mehrfach auf ihre psychische Verwirrtheit
hingewiesen, weshalb es nicht angehe, ihr entgegenzuhalten, dass sie
die Vorgeschichte ihres Cousins zeitlich nicht richtig situiert habe. We-
gen ihres Gesundheitszustandes sei jedenfalls von der Unzumutbar-
keit des Wegweisungsvollzuges auszugehen.
F.
Mit Zwischenverfügung der ARK vom 28. Oktober 2004 wurde die Be-
schwerdeführerin aufgefordert, einen ärztlichen Bericht nachzurei-
chen, welcher sich zur gestellten Diagnose, zum aktuellen und zu-
künftigen Krankheitsverlauf und zu den aktuell und zukünftig erforderli-
chen Therapien äussert. Gleichzeitig wurde ein Kostenvorschuss in der
Höhe von Fr. 600.-- erhoben und festgestellt, dass über den beantrag-
ten Beizug von Verfahrensakten anderer türkischer Asylbewerber zu
einem späteren Zeitpunkt entschieden werde.
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G.
Mit Eingabe vom 12. November 2004 ersuchte die Beschwerdeführerin
unter Beilage einer Fürsorgebestätigung um Verzicht auf die Erhebung
eines Kostenvorschusses und um Befreiung von der Bezahlung von
Verfahrenskosten.
Im Weiteren wurde ein kurzer ärztlicher Bericht von Dr. med.
J._______ FMH Innere Medizin, vom 8. November 2004 eingereicht.
H.
Mit Zwischenverfügung vom 17. November 2004 verwies die ARK das
am 12. November 2004 gestellte Gesuch um Gewährung der unent-
geltlichen Rechtspflege auf den Endentscheid, verzichtete auf die
Erhebung eines Kostenvorschusses und räumte der Beschwerdeführe-
rin Gelegenheit ein, innert Monatsfrist einen aussagekräftigen und ak-
tuellen Arztbericht einzureichen.
I.
Mit Eingabe vom 16. Dezember 2004 wurde ein am 14. Dezember
2004 verfasster Arztbericht von Dr. med. K._______, FMH Psychiatrie
und Psychotherapie, L._______, nachgereicht, in welchem bei der
Beschwerdeführerin eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS;
ICD 10 F43.1) diagnostiziert wird.
In diesem Arztbericht wird festgehalten, der ärztliche Befund basiere
auf der Untersuchung und Behandlung vom 25. November bis 9. De-
zember 2004. Im Rahmen der Anamnese wird ausgeführt, die Be-
schwerdeführerin sei im Zusammenhang mit der Zugehörigkeit eines
nahen Verwandten zur PKK von den Militärbehörden wiederholt sexuell
belästigt worden, ohne dass es zu einer Vergewaltigung gekommen
sei.
J.
Am 3. Mai 2005 überwies das Migrationsamt des Kantons Aargau den
Schriftenwechsel zwischen der Beschwerdeführerin und dem Durch-
gangszentrum in Oberentfelden (inkl. Schreiben der behandelnden
Psychiatrieärztin vom 7. April 2005) betreffend ihrer Unterbringung im
Durchgangsheim zur Kenntnisnahme.
K.
Mit Eingabe vom 25. Mai 2005 ersuchte der Rechtsvertreter um
Fristansetzung zur Einreichung eines aktuellen Therapieverlaufbe-
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richts, nachdem sich die Beschwerdeführerin nach wie vor in intensi-
ver psychiatrischer Behandlung befinde und sich ihr Gesundheitszu-
stand im Verlauf der letzten Monate verschlechtert habe.
Nachdem die ARK am 31. Mai 2005 antragsgemäss eine entsprechen-
de Frist angesetzt hatte, reichte die Beschwerdedführerin mit Eingabe
vom 15. Juni 2008 den in Aussicht gestellten Arztbericht ein. In Ergän-
zung zum Bericht vom 7. April 2005 wurde darin ausgeführt, der Ge-
sundheitszustand der Beschwerdeführerin habe sich massiv ver-
schlechtert, nachdem ihr untersagt worden sei, sich bei ihren Ge-
schwistern im Kanton Zürich aufzuhalten. Die Beschwerdeführerin wird
weiter von der behandelnden Psychiatrieärztin als nicht reisefähig und
im Falle einer Rückschaffung als akut suizidgefährdet betrachtet.
L.
In der Vernehmlassung vom 30. Juni 2005 beantragte das BFM die Ab-
weisung der Beschwerde. Dabei wurde nochmals auf die bereits er-
folgte Einschätzung der Kernvorbringen der Beschwerdeführerin als
unglaubhaft verwiesen. Im Weiteren wurde wiederholt, dass der Um-
stand, dass die Beschwerdeführerin nach dem Besuch ihrer Verwand-
ten in der Schweiz Ende 2002/anfangs 2003 freiwillig in die Türkei zu-
rückgekehrt sei, gegen die in den Arztberichten festgehaltenen be-
hördlichen Übergriffe spreche. Daher sei zwingend zu schliessen, dass
die in der Schweiz festgestellten psychischen Beschwerden ihre Ursa-
che nicht in der als unglaubhaft erachteten Verfolgung in der Türkei
hätten. Schliesslich sei die Beschwerdeführerin bereits in der Türkei
wegen psychischer Beschwerden in Behandlung gewesen und diese
seien dort weiterhin behandelbar. Zudem könne sie sich auf ein intak-
tes Beziehungsnetz in der Türkei stützen, da sich ihre Eltern noch dort
aufhielten.
M.
Mit Replikeingabe vom 20. Juli 2005 wurde ausgeführt, die Beschwer-
deführerin habe bereits anlässlich ihrer Anhörungen dargelegt, dass
sie nach ihrem Besuch in der Schweiz im Jahr 2003 - entgegen den
Ausführungen des BFM vom 30. Juni 2005 - nicht legal in die Türkei
zurückgekehrt sei. Es bestehe kein Anlass für Zweifel an der von der
Spezialärztin diagnostizierten PTBS respektive der damit einherge-
henden Reiseunfähigkeit. Eine objektiv und subjektiv begründete
Furcht der Beschwerdeführerin vor asylrelevanten Nachteilen sei zu
bejahen. Es sei jedenfalls von der Unzumutbarkeit des Wegweisungs-
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vollzuges auszugehen, zumal sich die Beschwerdeführerin angesichts
ihres Gesundheitszustandes nirgendwo in der Türkei niederlassen
könne.
N.
Mit Zwischenverfügung vom 4. August 2006 wurde die Beschwerdefüh-
rerin aufgefordert, einen aktuellen Arztbericht einzureichen, welcher
sich über den gegenwärtigen Gesundheitszustand und eine allfällige
Arbeitsfähigkeit ausspreche.
Dieser Aufforderung ist die Beschwerdeführerin mit Eingabe vom 16.
August 2006 nachgekommen. In ihrem Arztbericht vom 9. August 2006
führt Frau Dr. med. K._______ aus, im Februar 2006 sei eine massive
und beunruhigende Verschlechterung des Gesundheitszustandes der
Beschwerdeführerin eingetreten. Diagnostisch bestehe weiterhin ein
PTBS, seit Februar 2006 kompliziert durch eine schwere depressive
Episode (ICD 10 F 32.2). Bei einer allfälligen Rückschaffung in die Tür-
kei müsse mit einer akuten weiteren Verschlechterung des Zustandes,
namentlich einer unkontrollierbaren akuten Suizidalität gerechnet wer-
den, wobei die Beschwerdeführerin nach wie vor als nicht reisefähig
betrachtet werde.
O.
Mit Schreiben vom 28. März 2007 teilte das Bundesverwaltungsgericht
der Beschwerdeführerin mit, dass es das bei der ARK anhängig ge-
machte Beschwerdeverfahren per 1. Januar 2007 übernommen habe.
Gleichzeitig wurden die zuständige Instruktionsrichterin und die Ge-
richtschreiberin bekannt gegeben.
P.
Am 17. August 2007 reichte die Beschwerdeführerin einen aktuellen
Therapieverlaufsbericht vom 15. August 2007 nach, aus welchem her-
vorgeht, dass sie sich nach wie vor in Behandlung bei Dr. K._______
befindet. Die Diagnose, Behandlung und Prognose hätten sich gegen-
über dem letzten Arztbericht nicht verändert.
Q.
Auf entsprechende Aufforderung des Bundesverwaltungsgerichts vom
10. November 2008 reichte der Rechtsvertreter eine Kostennote vom
11. November 2008 zu den Akten.
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Das Bundesverwaltungsgericht zieht in Erwägung:
1.
1.1 Gemäss Art. 31 des Verwaltungsgerichtsgesetzes vom 17. Juni
2005 (VGG, SR 173.32) beurteilt das Bundesverwaltungsgericht Be-
schwerden gegen Verfügungen nach Art. 5 des Bundesgesetzes vom
20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren (VwVG, SR
172.021), sofern keine Ausnahme nach Art. 32 VGG vorliegt. Als
Vorinstanzen gelten die in Art. 33 und 34 VGG genannten Behörden.
Dazu gehören Verfügungen des BFM gestützt auf das Asylgesetz; das
Bundesverwaltungsgericht entscheidet in diesem Bereich endgültig
[Art. 105 AsylG]; Art. 83 Bst. d Ziff. 1 des Bundesgerichtsgesetzes vom
17. Juni 2005 [BGG, SR 173.110]).
1.2 Das Bundesverwaltungsgericht hat per 1. Januar 2007 die bei der
per 31. Dezember 2006 aufgelösten ARK hängigen Rechtsmittel über-
nommen. Das neue Verfahrensrecht ist anwendbar (vgl. Art. 53 Abs. 2
VGG). Für diese am 1. Januar 2007 hängigen Asylverfahren gelten zu-
dem die auf den 1. Januar 2007 in Kraft getretenen Änderungen des
Asylgesetzes (vgl. Abs. 1 der Übergangsbestimmungen zur Änderung
des Asylgesetzes vom 16. Dezember 2005).
1.3 Mit Beschwerde kann die Verletzung von Bundesrecht, die unrich-
tige oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachver-
halts und die Unangemessenheit gerügt werden (Art. 106 Abs. 1
AsylG).
2.
2.1 Die Beschwerde ist form- und fristgerecht eingereicht; die Be-
schwerdeführerin ist legitimiert (Art. 6 AsylG i.V.m. Art. 48, 50 und 52
VwVG). Auf die Beschwerde ist mithin einzutreten.
3.
3.1 Gemäss Art. 2 Abs. 1 AsylG gewährt die Schweiz grundsätzlich
Flüchtlingen Asyl. Als Flüchtling wird eine ausländische Person aner-
kannt, wenn sie in ihrem Heimatstaat oder im Land, wo sie zuletzt
wohnte, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu ei-
ner bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen An-
schauungen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt ist oder begründete
Furcht hat, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden. Als ernsthafte
Nachteile gelten namentlich die Gefährdung von Leib, Leben oder
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Freiheit sowie Massnahmen, die einen unerträglichen psychischen
Druck bewirken; den frauenspezifischen Fluchtgründen ist Rechnung
zu tragen (Art. 3 AsylG).
3.2 Wer um Asyl nachsucht, muss die Flüchtlingseigenschaft nachwei-
sen oder zumindest glaubhaft machen. Diese ist glaubhaft gemacht,
wenn die Behörde ihr Vorhandensein mit überwiegender Wahrschein-
lichkeit für gegeben hält. Unglaubhaft sind insbesondere Vorbringen, die
in wesentlichen Punkten zu wenig begründet oder in sich widersprüch-
lich sind, den Tatsachen nicht entsprechen oder massgeblich auf ge-
fälschte oder verfälschte Beweismittel abgestützt werden (Art. 7 AsylG).
4.
Im Folgenden ist zu prüfen, ob die Vorinstanz die Flüchtlingseigen-
schaft der Beschwerdeführerin zu Recht verneint hat.
4.1 Das Bundesamt argumentiert in erster Linie mit der fehlenden
Glaubhaftigkeit der Vorbringen der Beschwerdeführerin. Namentlich
führt es aus, sie habe unstimmige, undifferenzierte respektive tatsa-
chenwidrige Angaben dazu gemacht, wann sich ihr Cousin D._______,
auf den sie insgesamt ihre eigene Verfolgungssituation zurückführe,
den PKK-Guerilla angeschlossen habe. Zudem sei der Umstand, dass
sie sich im Jahr 2003 - nach einem Besuch ihrer Verwandten in der
Schweiz - in die Türkei zurückbegeben habe, als klares Indiz gegen
das Vorliegen der behaupteten Verfolgungssituation zu beurteilen. Zu
diesen Erwägungen des BFM ist vorweg das Folgende festzuhalten:
4.1.1 Ein Vergleich der protokollierten Angaben der Beschwerdeführe-
rin mit den Verfahrensakten ihres Cousins D._______ ergibt zwar, dass
die entsprechenden Angaben der Beschwerdeführerin, wann dieser
Cousin sich der PKK angeschlossen haben soll, tatsächlich in zeit-
licher Hinsicht nicht den Tatsachen entsprechen. Dem vom Bundesamt
aus dieser Ungereimtheit gezogenen Schluss, wonach die gesamten
Vorbringen der Beschwerdeführerin zur Reflexverfolgung mit Zweifel
behaftet seien, kann indessen nicht beigepflichtet werden.
Die Beschwerdeführerin gab bei ihrer zeitlichen Einordnung des PKK-
Anschlusses ihres Cousins stets nur ungefähre Zeitangaben zu Proto-
koll (vgl. dazu: A1, S. 5: „Es könnte vor 5 Jahren gewesen sein“; A7, S.
6: „Vor 5 Jahren war dieser Cousin im Militärdienst [...] und ging zur
PKK. Ich kann das genaue Datum nicht sagen, da ich psychisch am
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Ende bin“). Zudem ändert die vom Bundesamt aufgeführte zeitliche
Unstimmigkeit nichts an der von der Beschwerdeführerin für ihre
Verfolgungssituation primär verantwortlich gemachten, nicht
bestrittenen und als erstellt zu betrachtenden Verwandtschaft mit
D._______.
4.1.2 Auch das vom Bundesamt verwendete Argument, aus der
freiwilligen Rückkehr der Beschwerdeführerin im Jahr 2002 sei
„zwingend“ zu schliessen, dass in der Türkei nichts gegen sie vorliege
beziehungsweise diese Rückreise spreche gegen die in den Arztbe-
richten dargelegten behördlichen Übergriffe, geht fehl. Die Beschwer-
deführerin hat mehrmals betont, dass ihre Rückkehr zwar freiwillig,
aber illegal erfolgt ist. Bei dieser Sachlage ist nicht davon auszugehen,
dass die Beschwerdeführerin mit einer behördlichen Kontaktnahme
anlässlich der Einreisekontrolle gerechnet hat beziehungsweise hat
rechnen müssen.
4.1.3 Im Sinne eines Zwischenergebnisses ist festzuhalten, dass die-
se vom Bundesamt als primär verwendeten, angeblich gegen die
Glaubhaftigkeit der gesamten Asylvorbringen sprechenden Argumente
nicht zu überzeugen vermögen. Diese Begründungselemente sind
nicht geeignet, den Hauptasylgrund der Beschwerdeführerin - eine Re-
flexverfolgung im Zusammenhang mit ihrem Cousin D._______ - als
unglaubhaft darzustellen.
4.2 Die Flüchtlingseigenschaft ist glaubhaft gemacht, wenn die Be-
hörde ihr Vorhandensein mit überwiegender Wahrscheinlichkeit für ge-
geben hält. Vorbringen sind dann glaubhaft, wenn sie genügend subs-
tanziiert, in sich schlüssig und plausibel sind; sie dürfen sich nicht in
vagen Schilderungen erschöpfen, in wesentlichen Punkten nicht wider-
sprüchlich sein oder der inneren Logik entbehren und auch nicht den
Tatsachen oder der allgemeinen Erfahrung widersprechen. Darüber
hinaus muss der Gesuchsteller beziehungsweise die Gesuchstellerin
persönlich glaubwürdig erscheinen. Glaubhaftmachen bedeutet ferner
- im Gegensatz zum strikten Beweis - ein reduziertes Beweismass und
lässt durchaus Raum für gewisse Einwände und Zweifel an den Vor-
bringen der Gesuchstellerin. Es ist auf eine objektivierte Sichtweise
abzustellen (vgl. die diesbezüglich nach wie vor Gültigkeit beanspru-
chenden Entscheidungen und Mitteilungen der ARK [EMARK] 1993
Nrn. 11 und 21, 1994 Nr. 5 sowie 1996 Nrn. 27 und 28).
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4.2.1 Die Beschwerdeführerin hat anlässlich ihrer Befragungen über-
einstimmend ausgesagt, der Hauptgrund für ihre Ausreise seien die
Probleme ihrer gesamten Familie im Zusammenhang mit ihrem Cousin
D._______ gewesen (vgl. A1, S. 4; A7, S. 6). Diesbezüglich ist fest-
zuhalten, dass das Bundesverwaltungsgericht unter Berücksichtigung
sämtlicher Akten der Beschwerdeführerin und ihrer Angehörigen den
von der Beschwerdeführerin zu Protokoll gegebenen Sachverhalt
überwiegend als glaubhaft erachtet. Namentlich erscheint glaubhaft,
dass die gesamte Familie der Beschwerdeführerin aufgrund des Enga-
gements des politisch tätigen Cousins D._______, welcher sich
während seines Militärdienstes der PKK-Guerilla angeschlossen hat,
während Jahren seitens der Sicherheitskräfte immer wieder behelligt
und schikaniert wurde. Ebenfalls als glaubhaft erachtet das Gericht die
von der Beschwerdeführerin vorgebrachte, rund 10-stündige Festnah-
me durch die Sicherheitskräfte im Jahr 2002 sowie die Hausdurchsu-
chungen am Wohnort ihrer Familie, bei denen die türkischen Sicher-
heitskräfte jeweils bezweckt haben sollen, Näheres zum gesuchten
D._______ in Erfahrung zu bringen (vgl. A7, S. 8). Das Bundesver-
waltungsgericht hat auch keine Veranlassung an den von ihr geschil-
derten, erlittenen Malträtierungen (Ohrfeigen und Fusstritte; vgl. A7, S.
9 f.) zu zweifeln. Alleine betrachtet, würde es zwar dieser einmaligen
Festnahme - trotz der dabei erlittenen Misshandlungen – als kurzer
Eingriff in die physische Bewegungsfreiheit an der für eine Asylgewäh-
rung erforderlichen Intensität fehlen, zumal nicht davon auszugehen
ist, dass diese Verfolgungsmassnahme ein menschenwürdiges Leben
im Verfolgerstaat absolut verunmöglicht oder in unzumutbarer Weise
erschwert hat, so dass sich die Beschwerdeführerin dieser Zwangssi-
tuation nur durch Flucht ins Ausland hätte entziehen können.
Im Rahmen der Befragungen hat die Beschwerdeführerin keine weite-
ren, persönlich erlittenen Übergriffe seitens der heimatlichen Behörden
geltend gemacht. Sie bringt aber in diesem Zusammenhang in der
Rechtsmitteleingabe vor, sie hätte durch ein weiblich besetztes Befra-
gungsteam befragt werden müssen und führt dazu aus, dass sie dies-
falls auch über Ereignisse hätte berichten können, die sie nicht gegen-
über Männern erwähnen könne. In den darauf folgenden Berichten der
sie behandelnden Psychiatriefachärztin geht weiter hervor, dass die
Beschwerdeführerin mehrmals sexuell belästigt worden sei, „ohne
dass es zu einer Vergewaltigung kam“. Weitere Ausführungen zu erlit-
tenen Übergriffen lassen sich den ärztlichen Berichten nicht entneh-
men. Angesichts des Ausgangs dieses Beschwerdeverfahrens kann
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auf weitere Ausführungen zur beantragten Befragung durch ein
Frauenteam verzichtet werden, zumal der Beschwerdeführerin bereits
auf Grund des heute erstellen Sachverhaltes die Flüchtlingseigen-
schaft zuzuerkennen ist.
4.3 Die Beschwerdeführerin beruft sich mehrfach auf eine bereits
erlittene Reflexverfolgungssituation und einen damit verbundenen
unerträglichen psychischen Druck respektive auf das Vorliegen einer
objektiv und subjektiv begründeten Furcht vor künftigen asylbeachtli-
chen Verfolgungsmassnahmen.
Das Bundesverwaltungsgericht hat insbesondere die Verfahrensakten
des Cousins D._______ (N [...]) sowie ihrer Brüder H._______ (N [...])
und I._______ (N [...]) beigezogen. Die Schweizerischen Asylbehörden
– das BFM oder die ARK - haben bei diesen drei sowie noch weiteren
Verwandten der Beschwerdeführerin die Flüchtlingseigenschaft
anerkannt und ihnen Asyl gewährt.
4.3.1 Aus den Verfahrensakten von D._______ geht im Wesentlichen
hervor, dass dieser im Rahmen seiner Absolvierung des Militär-
dienstes von PKK-Kämpfern gefangen genommen worden war und
sich danach selbst dieser Organisation angeschlossen hat. In der Fol-
ge ist er seitens der türkischen Sicherheitskräfte als Deserteur und
PKK-Überläufer betrachtet und verfolgt worden. Zwei Brüder von
D._______ (M._______ und N._______ ) sind in Deutschland, und ein
weiter Bruder (O._______ ; N [...]) sowie eine Schwester (P._______ ;
N [...]) sind von den schweizerischen Asylbehörden als Flüchtlinge
anerkannt und es ist ihnen Asyl gewährt worden.
4.3.2 Der ältere Bruder der Beschwerdeführerin I._______ (N [...]) ist
mit Urteil der ARK vom 6. Januar 2000 ebenfalls als Flüchtling
anerkannt und es ist ihm Asyl in der Schweiz gewährt worden. Aus
den diesbezüglichen Erwägungen der ARK geht hervor, dass die ge-
samte Familie Q._______ als politisch aktiv geächtet wird und
erheblichen Repressionen seitens der türkischen Behörden ausgesetzt
ist. Die ARK erwog, dass im Falle einer Rückkehr in die Türkei die
Zugehörigkeit von I._______ zu einer politischen Familie mit grösster
Wahrscheinlichkeit bereits bei der mit der Wiedereinreise verbundenen
Personenkontrolle entdeckt würde und dieser berechtigterweise
befürchten müsste, Opfer gezielter staatlicher
Verfolgungsmassnahmen zu werden, welche als erhebliche Nachteile
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im Sinne von Art. 3 Abs. 2 AsylG zu qualifizieren seien. I._______
habe mit erheblicher Wahrscheinlichkeit gewisse
Verfolgungshandlungen durch die türkischen Behörden bereits erlitten;
diese würden jedoch alleine kaum zur Asylgewährung führen. Werde
jedoch der familiäre Hintergrund sowie der Umstand berücksichtigt,
dass I._______ bei der Ausreise erst 16-jährig gewesen sei und mit
zunehmendem Alter sowohl für die PKK als auch für die türkischen
Sicherheitskräfte von grösserem Interesse sein dürfte, habe I._______
bereits im Zeitpunkt seiner Ausreise eine begründete Furcht vor
künftigen Verfolgungshandlungen gehabt und werde diese noch in
gesteigertem Mass inskünftig haben.
4.3.3 Aus den Asylakten des Bruders H._______ (N [...]) geht eben-
falls hervor, dass die ganze Familie wegen des Cousins D._______
und eines weiteren Cousins R._______ von den türkischen Behörden
als Terroristen beschimpft und täglich unter Druck gesetzt werde. Die
Familie werde immer wieder nach dem Aufenthalt von F._______ ge-
fragt; der Familie werde auch vorgeworfen, die PKK aus Europa zu un-
terstützen. Die Schwestern und der Vater seien zusammengeschlagen
und die ganze Familie unter Waffengewalt bedroht und beschimpft
worden. I._______ selbst sei nie persönlich festgenommen oder von
den Behörden gesucht worden. Ob er asylrelevante Nachteile erlitten
hat, wurde offengelassen. Da die Familie insgesamt immer wieder
einer Reflexverfolgung unterworfen war, ist auch bei I._______ auf
eine begründete Furcht vor asylrelevanten Verfolgungsmassnahmen
geschlossen, seine Flüchtlingseigenschaft bejaht und ihm Asyl in der
Schweiz gewährt worden.
4.3.4 Nachdem das Bundesverwaltungsgericht respektive das BFM
von der Glaubhaftigkeit der Asylvorbringen der genannten Verwandten
der Beschwerdeführerin ausgeht, sind die von der Beschwerdeführerin
geltend gemachten Schwierigkeiten und Behelligungen demnach
ebenfalls als nachvollziehbar und somit als glaubhaft zu erachten. Das
BFM hat daher zu Unrecht auf Unglaubhaftigkeit der Vorbringen der
Beschwerdeführerin geschlossen.
4.4
4.4.1 Unter Reflexverfolgung versteht man behördliche Belästigungen
oder Behelligungen von Angehörigen auf Grund des Umstandes, dass
die Behörden einer gesuchten, politisch unbequemen Person nicht
habhaft werden oder schlechthin von deren politischer Exponiertheit
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auf eine solche auch bei Angehörigen schliessen. Der Zweck einer sol-
chen Reflexverfolgung kann insbesondere darin liegen, Informationen
über effektiv gesuchte Personen zu erlangen beziehungsweise Ge-
ständnisse von Inhaftierten zu erzwingen. Eine "Sippenhaft" in diesem
Sinn ist von den türkischen Behörden etwa in den Süd- und Ostprovin-
zen nicht selten angewandt worden, wenn es galt, den Aufenthaltsort
von flüchtigen Angehörigen der PKK oder anderer staatsfeindlicher Or-
ganisationen zu ergründen. Die Wahrscheinlichkeit, Opfer einer Reflex-
verfolgung zu werden, ist namentlich dann gegeben, wenn nach einem
flüchtigen Familienmitglied gefahndet wird und die Behörde Anlass zur
Vermutung hat, dass jemand mit dem Gesuchten in engem Kontakt
steht. Diese Wahrscheinlichkeit erhöht sich, wenn der Reflexverfolgte
aus einer den türkischen Sicherheitskräften als "staatsfeindlich"
bekannten Familie stammt respektive mehrere illegal politisch tätige
Verwandte aufweist. Auch ein eigenes, nicht unbedeutendes Enga-
gement seitens des Reflexverfolgten für illegale politische Organisatio-
nen erhöht das Risiko, Opfer einer Sippenhaft im weiteren Sinne zu
werden (vgl. dazu EMARK 1994 Nr. 5). An den Umfang der eigenen
Aktivitäten sind jedoch umso geringere Anforderungen zu stellen, je
grösser das politische Engagement des gesuchten Familienmitglieds
ist, zumal Ziel einer Reflexverfolgung häufig auch nur die Bestrafung
der gesamten Familie für Taten eines politisch aktiven Familienmit-
glieds sein kann (vgl. EMARK 2005 Nr. 21). Begründete Furcht vor
künftiger Verfolgung liegt sodann grundsätzlich vor, wenn aufgrund
objektiver Umstände in nachvollziehbarer Weise subjektiv befürchtet
wird, die Verfolgung werde sich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit
und in absehbarer Zukunft verwirklichen (vgl. WALTER KÄLIN, Grundriss
des Asylverfahrens, Basel/ Frankfurt a.M., 1990, S. 137 f., S. 144 ff.;
MARIO GATTIKER, Das Asyl- und Wegweisungsverfahren, Bern, 1999, S.
77 f.; EMARK 2000 Nr. 9, S. 78 mit Hinweisen). Gemäss EMARK 1993
Nr. 6 (vgl. E. 3b und 4, S. 36 ff., mit weiteren Hinweisen) kommen be-
weiserleichternde Grundsätze bei der Prüfung der begründeten Furcht
zur Anwendung, wenn die Vorbringen im Kontext einer Reflexverfol-
gung stehen. Neben dem bereits Erlebten werden insbesondere die
Aktivitäten von Verwandten mitberücksichtigt. Dies geschieht aus der
Überlegung, dass Nachteile, die im Zeitpunkt der Ausreise objektiv kei-
ne Furcht vor zukünftiger Verfolgung hätten begründen können, in ei-
ner Situation der Reflexverfolgung unvermittelt in längere Inhaftierun-
gen, Folter oder körperliche Misshandlung umschlagen können. In Be-
stätigung der Rechtsprechung der ARK (vgl. EMARK 2005 Nr. 21)
stellt das Bundesverwaltungsgericht fest, dass aufgrund der aktuellen
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Lageentwicklung in der Türkei die Gefahr allfälliger Repressalien ge-
gen Familienangehörige mutmasslicher Aktivisten der PKK (bezie-
hungsweise einer ihrer Nachfolgeorganisationen) oder anderer von
den Behörden als separatistisch eingestufter kurdischer Gruppierun-
gen weiterhin nicht auszuschliessen ist. Zwar scheint sich die Verfol-
gungspraxis der türkischen Behörden im Zuge des Reformprozesses
zur Annäherung an die Europäische Union insofern geändert zu ha-
ben, als Fälle, in denen Familienangehörige kurdischer Aktivisten ge-
foltert oder misshandelt worden sind, abgenommen haben. Dagegen
müssen Familienangehörige auch gegenwärtig noch mit Hausdurchsu-
chungen und Festnahmen rechnen, die oft mit Beschimpfungen und
Schikanen verbunden sein können.
4.4.2 Die Beschwerdeführerin war nie politisch aktiv und hat sich auch
anderweitig nicht exponiert. Aufgrund der Akten steht jedoch fest, dass
sie aus S._______, Bezirk B._______, Provinz C._______ stammt und
der Q._______-Grossfamilie angehört. Aus zahlreichen Asyldossiers
von Familienangehörigen geht hervor, dass viele Verwandte der
Beschwerdeführerin wegen politischer Aktivitäten behördlicher
Repression ausgesetzt waren und mittlerweile in der Schweiz
respektive in anderen Ländern als Flüchtlinge anerkannt sind.
Vorliegend stellt sich die Frage, ob der Beschwerdeführerin, welche
gemäss ihren Angaben anlässlich ihrer Anhörungen bis zu ihrer
Ausreise keine asylrelevanten Behelligungen erlitt, bei einer Rückkehr
in die Türkei begründete Furcht vor allfälligen künftigen
Benachteiligungen im Sinne von Art. 3 AsylG zu attestieren ist. Dabei
ist insbesondere zu prüfen, ob sie einem unerträglichen psychischen
Druck im Sinne von Art. 3 Abs. 2 AsylG ausgesetzt wäre.
4.4.3 Mit dem Begriff des unerträglichen psychischen Drucks sollen
staatliche Massnahmen erfasst werden, die sich nicht unmittelbar ge-
gen die Rechtsgüter Leib, Leben oder Freiheit richten, sondern auf an-
dere Weise ein menschenwürdiges Leben verunmöglichen. Ausgangs-
punkt, um einen unerträglichen psychischen Druck bejahen zu kön-
nen, stellen in der Regel konkrete staatliche Eingriffe dar, die effektiv
stattgefunden haben; die staatlichen Verfolgungsmassnahmen müssen
in einer objektivierten Betrachtung zudem als derart intensiv erschei-
nen, dass der betroffenen Person ein weiterer Verbleib in ihrem Hei-
matstaat objektiv nicht mehr zugemutet werden kann; ausschlagge-
bend ist mit anderen Worten nicht, wie die betroffene Person die Situa-
tion subjektiv erlebt hat, sondern ob aufgrund der tatsächlichen Situa-
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tion für Aussenstehende nachvollziehbar ist, dass der psychische
Druck unerträglich geworden ist (vgl. EMARK 1996 Nr. 30 E. 4d S. 291
f., mit weiteren Hinweisen).
4.4.4 Aufgrund der aktuellen politischen Situation in der Türkei kann
nicht ausgeschlossen werden, dass die Beschwerdeführerin bereits
bei der Einreise behelligt würde. Angesichts der Tatsache, dass ihren
Brüdern und Cousins in der Schweiz Asyl erteilt wurde, ist davon aus-
zugehen, dass sie bei der Rückkehr nach ihren im Ausland verbliebe-
nen Verwandten befragt würde. Dabei ist ihr aufgrund der einschnei-
denden Erfahrungen, welche sie selbst, aber auch ihre Verwandten mit
den türkischen Sicherheitskräften machen mussten, zu glauben, dass
sie bei einer Rückkehr unter massivem psychischem Druck stünde. Zu-
dem fällt ins Gewicht, dass die Beschwerdeführerin in der Vergangen-
heit bereits selbst Opfer von Reflexverfolgung - wenn auch nicht von
asylrelevanter Intensität - war. Vor diesem Hintergrund ist die Furcht,
bei einer Rückkehr in die Türkei zumindest mit Massnahmen rechnen
zu müssen, die einen unerträglichen psychischen Druck im Sinne von
Art. 3 Abs. 2 AsylG bewirken, als begründet im Sinne von Art. 3 Abs. 1
AsylG zu erachten. Nachfolgend ist deshalb noch zu prüfen, ob die Be-
schwerdeführerin diesen zu erwartenden Nachteilen landesweit aus-
gesetzt wäre oder ihr innerhalb der Türkei eine innerstaatliche
Fluchtalternative offen stünde.
4.4.5 Für die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft muss fest-
stehen, dass sich eine von flüchtlingsrechtlich erheblichen Nachteilen
bedrohte Person landesweit in einer ausweglosen Situation befindet.
Wirken sich die Benachteiligungen nur lokal aus, und ist der Heimat-
staat in der Lage und willens, der betroffenen Person in anderen Lan-
desteilen wirksamen Schutz vor Verfolgung zu gewähren, so kann ihr
das Vorliegen einer innerstaatlichen Fluchtalternative entgegengehal-
ten werden. Die Anforderungen an die Effektivität des am Zufluchtsort
gewährten Schutzes sind allerdings hoch anzusetzen. Wirksamer
Schutz vor Verfolgung bedingt, dass die betroffene Person am Zu-
fluchtsort nicht wiederum Opfer von Behelligungen im Sinne von Art. 3
AsylG wird. Im Weiteren erscheint eine wirksame Schutzgewährung
auch dann als nicht gegeben, wenn die betroffene Person bereits in ih-
rer Heimatregion von Organen der Zentralgewalt - das heisst unmittel-
bar staatlich - verfolgt worden ist, vermag doch diesfalls ein Wegzug in
einen anderen Landesteil diese Behelligungen nicht effektiv zu unter-
binden. Darüber hinaus muss am innerstaatlichen Zufluchtsort mit hin-
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reichender Bestimmtheit auch eine mittelbare Gefährdung der betroffe-
nen Person ausgeschlossen sein, das heisst die Gefahr, von staatli-
chen Behörden aus Motiven gemäss Art. 3 AsylG auf offizielle oder
faktische Art in das Gebiet der unmittelbaren Verfolgung zurückge-
schickt oder zurückgedrängt zu werden (vgl. EMARK 1996 Nr. 1 E. 5b
und c S. 5 – 7).
4.4.6 Aufgrund der Akten ist davon auszugehen, dass die Beschwer-
deführerin selbst nicht wegen eigener, als politisch missliebig einge-
stufter Handlungen, behördlich registriert oder aktiv gesucht wird. Hin-
gegen ergeben sich genügend Anhaltspunkte für die Annahme, dass
zahlreiche Angehörige der Familie Q._______, insbesondere auch
D._______, welcher seine Verfolgungssituation seitens der türkischen
Behörden mit einem als authentisch erachteten
Abwesenheitshaftbefehl der Militärstaatsanwaltschaft der
Gendarmeriekommmandatur in T._______ belegt hat, von den
türkischen Sicherheitsbehörden zentral erfasst sind und die gesamte
Familie Q._______ als politisch missliebige Familie mit Verbindungen
zur PKK betrachtet wird. Wenn im Weiteren berücksichtigt wird, dass
der türkischen Grenzpolizei bei der Wiedereinreise abgewiesener
Asylgesuchsteller die Tatsache der Asylgesuchseinreichung im
Ausland in der Regel nicht verborgen bleibt und dies wiederum eine
Routinekontrolle mit eingehender Befragung zur Folge hat, so ist mit
hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass die Beschwerdeführerin
bereits bei der Wiedereinreise als Angehörige einer politisch
exponierten Familie identifiziert würde. Dabei ist auch sehr nahelie-
gend, dass sie in einen konkreten Verdacht geraten könnte, mit diesen
Verwandten in der Schweiz respektive in Deutschland politische und
somit aus türkischer Sicht staatsfeindliche Kontakte gepflegt zu haben.
In einem solchen Fall müsste die Beschwerdeführerin aber gerade vor
dem Hintergrund der in letzter Zeit wieder zunehmenden Intensität des
Konflikts zwischen türkischer Armee und kurdischen Rebellen mit wei-
teren Verdächtigungen beziehungsweise Behelligungen rechnen. Da-
mit wird deutlich, dass der Beschwerdeführerin keine genügend siche-
re innerstaatliche Fluchtalternative offen steht.
4.4.7 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Beschwerdeführe-
rin entgegen der vorinstanzlichen Beurteilung ihre Asylvorbringen
überwiegend glaubhaft dargelegt hat und angesichts der besonderen
familiären Situation der glaubhaften Verfolgung der Angehörigen vor-
liegend von einer begründeten Furcht der Beschwerdeführerin vor
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künftiger asylrelevanter Reflexverfolgung auszugehen ist. Damit erfüllt
sie die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigen-
schaft. Nachdem auf eine Reflexverfolgung der Beschwerdeführerin
geschlossen werden muss, erweist sich der diesbezüglich in der
Rechtssmitteleingabe gestellte Antrag auf Edition der Verfahrensakten
der Verwandten der Beschwerdeführerin als gegenstandslos.
4.5 Vorliegend bestehen keine konkreten Hinweise auf ein Fehlverhal-
ten der Beschwerdeführerin, welches unter einen oder mehrere der
von Art. 1F FK umfassten Tatbestände zu subsumieren wäre. Mangels
Hinweisen für das Vorliegen eines Asylausschlussgrundes gemäss Art.
53 AsylG ist ihr Asyl zu gewähren (vgl. Art. 49 AsylG).
5.
In Gutheissung der Beschwerde ist die angefochtene Verfügung des
BFM vom 17. September 2004 betreffend Asyl und Wegweisung aufzu-
heben. Die Vorinstanz ist anzuweisen, der Beschwerdeführerin Asyl zu
gewähren.
6.
6.1 Bei diesem Ausgang des Beschwerdeverfahrens sind keine Ver-
fahrenskosten zu erheben (vgl. Art. 63 Abs. 1 VwVG) und das mit der
Rechtsmittelschrift gestellte Begehren um Gewährung der unentgeltli-
che Rechtspflege ist gegenstandslos geworden.
6.2 Der Beschwerdeführerin ist angesichts ihres Obsiegens im Be-
schwerdeverfahren in Anwendung von Art. 64 Abs. 1 VwVG eine Par-
teientschädigung für die ihr erwachsenen notwendigen und verhältnis-
mässig hohen Kosten zusprechen. (vgl. Art. 7 des Reglements vom
21. Februar 2008 über die Kosten und Entschädigungen vor dem Bun-
desverwaltungsgericht [VGKE, SR 173.320.2]).
Der Rechtsvertreter weist in seiner Kostennote einen Aufwand von
insgesamt 20,6 Stunden zu einem Stundenansatz von Fr. 230.-- sowie
Barauslagen von Fr. 95.-- aus. Dieser Aufwand erscheint im Vergleich
mit ähnlich gelagerten Verfahren als angemessen (Art. 10 Abs. 2 und
14 VGKE). Die Parteientschädigung wird daher auf Fr. 5'200.-- (inkl.
Mehrwertsteuer und Auslagen) festgesetzt.
(Dispositiv nächste Seite)
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Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:
1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen und die Verfügung des BFM vom
17. September 2004 wird aufgehoben. Das BFM wird angewiesen, der
Beschwerdeführerin Asyl zu gewähren.
2.
Es werden keine Verfahrenskosten auferlegt.
3.
Das BFM wird angewiesen, der Beschwerdeführerin eine Parteient-
schädigung von Fr. 5'200.-- (inkl. Mehrwertsteuer und Auslagen)
auszurichten.
4.
Dieses Urteil geht an:
- den Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin (Einschreiben)
- das BFM, Abteilung Aufenthalt und Rückkehrförderung, mit den Ak-
ten Ref.-Nr. N (...) (per Kurier; in Kopie)
- (kantonale Behörde)
Die vorsitzende Richterin: Die Gerichtsschreiberin:
Therese Kojic Sandra Bodenmann
Versand:
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