E-2999/2009 - Abteilung V - Asyl und Wegweisung - Asyl
Karar Dilini Çevir:
E-2999/2009 - Abteilung V - Asyl und Wegweisung - Asyl
Bundesverwaltungsgericht
Tribunal administratif fédéral
Tribunale amministrativo federale
Tribunal administrativ federal
Abteilung V
E-2999/2009
Urteil vom 8. März 2011
Besetzung Richter Markus König (Vorsitz),
Richterin Nina Spälti Giannakitsas,
Richter Jean-Pierre Monnet,
Gerichtsschreiberin Karin Maeder-Steiner.
Parteien A._______
Kosovo / Serbien,
alle vertreten durch Milosav Milovanovic,
Beratungsstelle für Ausländer, (…),
Beschwerdeführende,
gegen
Bundesamt für Migration (BFM),
Quellenweg 6, 3003 Bern,
Vorinstanz.
Gegenstand Asyl und Wegweisung;
Verfügung des BFM vom 9. April 2009 / N (…) .

E-2999/2009
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Sachverhalt:
A.
Die Beschwerdeführenden, Staatsangehörige Kosovos serbischer Ethnie
mit letztem Wohnsitz in Gorni Livoc, Gemeinde Gnjilane, verliessen ihren
Heimatstaat eigenen Angaben zufolge am 14. März 2009 und gelangten
am 15. März 2009 in die Schweiz, wo sie gleichentags im Empfangs- und
Verfahrenszentrum in B._______ um Asyl nachsuchten. Dort wurden sie
am 19. März summarisch zu ihrem Asylgesuch befragt und für die Dauer
des Asylverfahrens dem Kanton C._______ zugeweisen. Am 24. März
2009 fand die Anhörung zu den Asylgründen statt.
Zur Begründung ihres Asylgesuchs machten die Beschwerdeführenden im Wesentlichen geltend, sie
hätten in einem ethnisch gemischten Dorf gelebt, dessen Bevölkerung aus etwa 30 Prozent Serben und 70
Prozent Kosovoalbanern bestanden habe. Als serbische Minderheit seien sie verschiedenen Schikanen
und Übergriffen ausgesetzt gewesen. In der Nacht vom 10. oder 15. März 2002 hätten Unbekannte auf ihr
Haus geschossen. Seit der Unabhängigkeit Kosovos habe sich die Situation für sie weiter verschlechtert.
Am 19. Dezember 2008 hätten albanische Schulkinder eine Fensterscheibe ihres Hauses mit Steinen
eingeworfen. Ausserdem seien sie von unbekannten Albanern wiederholt beschimpft und provoziert
worden. Unbekannte aus dem Dorf hätten sie ausserdem bedroht und sie aufgefordert, ihr
Landwirtschaftsgut nicht mehr zu bewirtschaften. Am 1. März 2009 habe ein sechzehnjähriger
Kosovoalbaner ein achtjähriges serbisches Mädchen vergewaltigen wollen. Aus Angst, ihrer Tochter
könnte dasselbe passieren, hätten sie sich zur Ausreise aus dem Kosovo entschieden und seien in die
Schweiz geflüchtet.
Zur Untermauerung ihrer Vorbringen reichten die Beschwerdeführenden zwei Fotos zu den Akten, auf
denen die eingeschlagene Fensterscheibe und vier Einschüsse in der Hausfassade zu sehen seien.
Der Beschwerdeführer reichte seine UNMIK-Karte und die Beschwerdeführerin ihre serbische
Identitätskarte zu den Akten.
B.
Mit Verfügung vom 9. April 2009 – gleichentags eröffnet – bezeichnete
das BFM die Asylvorbringen der Beschwerdeführenden als asylrechtlich
nicht erheblich, lehnte ihr Asylgesuch ab, verfügte die Wegweisung aus
der Schweiz und ordnete den Wegweisungsvollzug an.
C.
Gegen diese Verfügung reichten die Beschwerdeführenden durch ihren
Rechtsvertreter mit Eingabe vom 8. Mai 2009 Beschwerde beim
Bundesverwaltungsgericht ein und beantragten die Aufhebung der
angefochtenen Verfügung, die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft
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und die Gewährung von Asyl. In prozessualer Hinsicht ersuchten die
Beschwerdeführenden um Verzicht auf die Erhebung eines
Kostenvorschusses und um Gewährung der unentgeltlichen
Rechtspflege.
D.
Das Bundesverwaltungsgericht verzichtete mit Zwischenverfügung vom
19. Mai 2009 auf die Erhebung eines Kostenvorschusses und verwies für
den Entscheid über das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen
Rechtspflege auf einen späteren Zeitpunkt.
E.
In ihrer Vernehmlassung vom 25. Mai 2009 hielt die Vorinstanz
vollumgänglich an ihren Erwägungen fest und beantragte die Abweisung
der Beschwerde.
F.
Mit Eingabe vom 28. Mai 2009 (Poststempel) machte der
Beschwerdeführer psychische Probleme geltend und reichte einen
ärztlichen Bericht vom 26. Mai 2009 des TZZ Therapiezentrums AG zu
den Akten.
G.
Mit Zwischenverfügung vom 12. November 2010 forderte das
Bundesverwaltungsgericht den Beschwerdeführer auf, einen aktuellen
Arztbericht einzureichen, der mit Eingabe vom 29. November 2010 ins
Recht gelegt wurde.
Das Bundesverwaltungsgericht zieht in Erwägung:
1.
1.1. Gemäss Art. 31 des Verwaltungsgerichtsgesetzes vom 17. Juni 2005
(VGG, SR 173.32) beurteilt das Bundesverwaltungsgericht Beschwerden
gegen Verfügungen nach Art. 5 des Bundesgesetzes vom 20. Dezember
1968 über das Verwaltungsverfahren (VwVG, SR 172.021). Das BFM
gehört zu den Behörden nach Art. 33 VGG und ist daher eine Vorinstanz
des Bundesverwaltungsgerichts. Eine das Sachgebiet betreffende
Ausnahme im Sinne von Art. 32 VGG liegt nicht vor. Das
Bundesverwaltungsgericht ist daher zuständig für die Beurteilung der
vorliegenden Beschwerde und entscheidet auf dem Gebiet des Asyls
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endgültig (Art. 105 des Asylgesetzes vom 26. Juni 1998 [AsylG,
SR 142.31]; Art. 83 Bst. d Ziff. 1 des Bundesgerichtsgesetzes vom
17. Juni 2005 [BGG, SR 173.110]).
1.2. Das Verfahren richtet sich nach dem VwVG, dem VGG und dem
BGG, soweit das AsylG nichts anderes bestimmt (Art. 37 VGG und Art. 6
AsylG).
1.3. Die Beschwerde ist frist- und formgerecht eingereicht. Die
Beschwerdeführenden haben am Verfahren vor der Vorinstanz
teilgenommen, sind durch die angefochtene Verfügung besonders berührt
und haben ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung
beziehungsweise Änderung. Sie sind daher zur Einreichung der
Beschwerde legitimiert (Art. 105 und Art. 108 Abs. 1 AsylG, Art. 48 Abs. 1
sowie Art. 52 VwVG). Auf die Beschwerde ist einzutreten.
2.
Mit Beschwerde kann die Verletzung von Bundesrecht, die unrichtige
oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts und
die Unangemessenheit gerügt werden (Art. 106 Abs. 1 AsylG).
3.
3.1. Gemäss Art. 2 Abs. 1 AsylG gewährt die Schweiz Flüchtlingen
grundsätzlich Asyl. Flüchtlinge sind Personen, die in ihrem Heimatstaat
oder im Land, in dem sie zuletzt wohnten, wegen ihrer Rasse, Religion,
Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder
wegen ihrer politischen Anschauungen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt
sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu
werden. Als ernsthafte Nachteile gelten namentlich die Gefährdung des
Leibes, des Lebens oder der Freiheit sowie Massnahmen, die einen
unerträglichen psychischen Druck bewirken. Den frauenspezifischen
Fluchtgründen ist Rechnung zu tragen (Art. 3 AsylG).
3.2. Wer um Asyl nachsucht, muss die Flüchtlingseigenschaft
nachweisen oder zumindest glaubhaft machen. Diese ist glaubhaft
gemacht, wenn die Behörde ihr Vorhandensein mit überwiegender
Wahrscheinlichkeit für gegeben hält. Unglaubhaft sind insbesondere
Vorbringen, die in wesentlichen Punkten zu wenig begründet oder in sich
widersprüchlich sind, den Tatsachen nicht entsprechen oder massgeblich
auf gefälschte oder verfälschte Beweismittel abgestützt werden (Art. 7
AsylG).
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4.
4.1.
4.1.1. Zur Begründung ihres ablehnenden Entscheids macht die
Vorinstanz im Wesentlichen geltend, Übergriffe durch Dritte oder
Befürchtungen, künftig solchen ausgesetzt zu sein, seien nur dann
asylrechtlich relevant, wenn der Staat seiner Schutzpflicht nicht
nachkomme oder nicht in der Lage sei, Schutz zu gewähren. In Kosovo
sei es in den vergangenen Jahren vereinzelt zu schwerwiegenden
Übergriffen auf Angehörige der ethnischen Minderheiten, namentlich der
Serben gekommen. Es könne jedoch nicht von einer allgemeinen
Vertreibung ausgegangen werden. Nach der Unabhängigkeitserklärung
vom 17. Februar 2008 sei in Kosovo weiterhin eine internationale zivile
und militärische Präsenz vorgesehen. Die UNO-Verwaltung (UNMIK)
solle sukzessive von der EU-Mission (EULEX) abgelöst werden.
Internationale Sicherheitskräfte sowie der Kosovo Police Service (KPS)
garantierten die Sicherheit. Am 15. Juni 2008 sei die neue kosovarische
Verfassung in Kraft getreten. Sie gestehe den Minderheiten umfassende
Rechte zu. Die internationalen Sicherheitskräfte und der KPS seien in der
Lage die ethnischen Minderheiten in Kosovo zu schützen. Die polizeiliche
Präsenz sei gut sichtbar sowie flächendeckend. Strafgerichtsbarkeit und
Strafvollzug würden grösstenteils funktionieren. Bei Übergriffen würden
die Sicherheitskräfte regelmässig intervenieren und Straftaten gegen
Angehörige von Minderheiten würden geahndet. Weil demnach vom
Vorhandensein eines adäquaten Schutzes durch den Heimatstaat
auszugehen sei, seien die geltend gemachten Übergriffe im vorliegenden
Fall asylrechtlich nicht relevant. Daran vermöchten auch die beiden zu
den Akten gelegten Fotos nichts zu ändern.
Für Serben aus den südlichen Bezirken bestehe zudem eine innerstaatliche Fluchtalternative im Norden
Kosovos.
Die Vorbringen der Beschwerdeführenden würden den Anforderungen an die Flüchtlingseigenschaft nicht
standhalten, weshalb sie die Flüchtlingseigenschaft nicht erfüllen würden und das Asylgesuch abzulehnen
sei.
4.1.2. Bezüglich des Wegweisungsvollzugs hielt das BFM fest, dieser sei
zulässig, zumal die Beschwerdeführenden die Flüchtlingseigenschaft
nicht erfüllen würden.
Weder die im Heimatstaat herrschende politische Situation noch andere Gründe würden gegen die
Zumutbarkeit der Rückführung in den Heimatstaat sprechen. In Kosovo habe sich die Sicherheitslage in
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den vergangenen Jahren verbessert oder zumindest stabilisiert. Die Wahrscheinlichkeit einer konkreten
Gefährdung könne jedoch für ethnische Serben ausserhalb ihrer Enklaven weiterhin nicht ausgeschlossen
werden. Eine Rückkehr in den Kosovo werde demnach in der Regel als unzumutbar erachtet. Eine
Ausnahme bilde der Norden Kosovos. Für Serben mit letztem Wohnsitz im Norden Kosovos sei die
Rückkehr dorthin zumutbar. Die Beschwerdeführenden würden aus D._______, stammen, wo eine
konkrete Gefährdung aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit noch nicht ausgeschlossen werden könne. Es
bestehe jedoch eine innerstaatliche Aufenthaltsalternative im Norden Kosovos. Der Vollzug der
Wegweisung in den Norden Kosovos sei demnach in der Regel als zumutbar zu erachten.
Eine Prüfung der Akten habe ergeben, dass im vorliegenden Fall die Inanspruchnahme der
innerstaatlichen Aufenthaltsalternative im Norden Kosovos nicht zumutbar sei. Für Serben bestehe aber
grundsätzlich auch eine Aufenthaltsalternative in Serbien. Gemäss serbischer Verfassung von 2006 sei
Kosovo nämlich integraler Bestandteil Serbiens, weshalb Serben aus Kosovo auch nach der
Unabhängigkeit als serbische Staatsangehörige betrachtet würden, auf den diplomatischen Vertretungen
Serbiens in der Schweiz serbische Reisepapiere erhielten und nach Serbien einreisen könnten. Vorliegend
sei aufgrund der Vorbringen der Beschwerdeführenden die Inanspruchnahme der Aufenthaltsalternative in
Serbien zumutbar.
Ausserdem sei der Vollzug der Wegweisung technisch möglich und praktisch durchführbar.
4.2. In ihrer Beschwerde wiederholen die Beschwerdeführenden vorab
die bereits anlässlich der Anhörungen geltend gemachten Behelligungen,
welche ihnen in Kosovo widerfahren seien. Den Ausführungen in der
angefochtenen Verfügung wird entgegengehalten, die
Beschwerdeführenden hätten die Vorfälle im Jahr 2002, bei welchen von
Unbekannten auf ihr Haus geschossen worden sei, der KFOR und den
Polizeibehörden gemeldet. Es sei jedoch nichts geschehen, was zeige,
dass die Schutzorgane in Kosovo passiv seien. Es bestehe nicht der
Wille des Staates, die Minderheiten zu schützen.
In der angefochtenen Verfügung werde vorgebracht, die Beschwerdeführenden hätten eine
Aufenthaltsalternative in Serbien. Dies sei jedoch nicht der Fall, da Serbien für die Beschwerdeführenden
ein fremdes Land sei.
Ausserdem habe der Beschwerdeführer aufgrund der in Kosovo erlittenen Traumata psychische Probleme
und habe in der Schweiz einen Psychiater aufgesucht.
5.
5.1. Vorab ist festzustellen, dass die Beschwerdeführenden, welche
aufgrund der Aktenlage als Staatsangehörige der Republik Kosovo zu
betrachten sind, infolge serbischer Abstammung und Geburt auf
(ehemaligem) Staatsgebiet der Republik Serbien gemäss serbischem
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Gesetz (Nr. 135/04, 21 Dezember 2004) auch über die serbische
Staatsangehörigkeit verfügen (vgl. das zur Publikation in Entscheide des
Schweizerischen Bundesverwaltungsgerichts [BVGE] 2010/41 bestimmte
Urteil D-7561/2008 vom 15. April 2010 E. 6.4.2). Asylsuchende, die
mehrere Staatsangehörigkeiten besitzen, sind nicht auf den Schutz eines
Drittstaates angewiesen, sofern sie in einem der Staaten, dessen
Staatsangehörigkeit sie besitzen, Schutz vor Verfolgung finden können
(vgl. D-7561/2008 a.a.O. E. 6.5.1).
5.2. Das BFM legt in der angefochtenen Verfügung dar, weshalb die
geltend gemachten Verfolgungsvorbringen der Beschwerdeführenden
den Anforderungen an die asylrechtliche Relevanz nicht genügen.
5.2.1. Das Bundesverwaltungsgericht stellt einerseits fest, dass die
Beschwerdeführenden nach der geltend gemachten Beschiessung ihres
Hauses im Jahr 2002 noch sieben Jahre lang in ihrer Heimat verblieben
sind; dieses Ereignis war – jedenfalls in zeitlicher Hinsicht – offensichtlich
nicht kausal für ihre Ausreise im Frühling 2009.
5.2.2. Den übrigen Nachteilen, welche die Beschwerdeführenden zu
Protokoll gegeben haben (Einwerfen einer Fensterscheibe durch Schüler,
Beschimpfungen und Bedrohungen), ist mangels Intensität die
flüchtlingsrechtliche Relevanz abzusprechen. Ausserdem ist mit der
Vorinstanz auf die Möglichkeit hinzuweisen, sich bei den
Sicherheitsbehörden des Heimatstaates um Schutz vor Übergriffen zu
bemühen.
5.2.3. Schliesslich ist festzustellen, dass den Akten keine Anhaltspunkte
für die Annahme zu entnehmen sind, den Beschwerdeführenden drohe in
ihrem zweiten Heimatland, Serbien, Verfolgung.
5.3. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Verfolgungsvorbringen
der Beschwerdeführenden flüchtlingsrechtlich nicht erheblich sind und die
Vorinstanz das Asylgesuch demnach zu Recht abgelehnt hat.
6.
6.1. Lehnt das Bundesamt das Asylgesuch ab oder tritt es darauf nicht
ein, so verfügt es in der Regel die Wegweisung aus der Schweiz und
ordnet den Vollzug an; es berücksichtigt dabei den Grundsatz der Einheit
der Familie (Art. 44 Abs. 1 AsylG).
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6.2. Die Beschwerdeführenden verfügen weder über eine
ausländerrechtliche Aufenthaltsbewilligung noch über einen Anspruch auf
Erteilung einer solchen. Die Wegweisung wurde demnach zu Recht
angeordnet (Art. 44 Abs. 1 AsylG; Entscheidungen und Mitteilungen der
Schweizerischen Asylrekurskommission [EMARK] 2001 Nr. 21).
7.
7.1. Ist der Vollzug der Wegweisung nicht zulässig, nicht zumutbar oder
nicht möglich, so regelt das Bundesamt das Anwesenheitsverhältnis nach
den gesetzlichen Bestimmungen über die vorläufige Aufnahme von
Ausländern (Art. 44 Abs. 2 AsylG; Art. 83 Abs. 1 des Bundesgesetzes
vom 16. Dezember 2005 über die Ausländerinnen und Ausländer [AuG,
SR 142.20]).
Bezüglich der Geltendmachung von Wegweisungshindernissen gilt gemäss ständiger Praxis des
Bundesverwaltungsgerichts und seiner Vorgängerorganisation ARK der gleiche Beweisstandard wie bei
der Flüchtlingseigenschaft, das heisst, sie sind zu beweisen, wenn der strikte Beweis möglich ist, und
andernfalls wenigstens glaubhaft zu machen (vgl. WALTER STÖCKLI, Asyl, in: Uebersax/Rudin/Hugi
Yar/Geiser [Hrsg.], Ausländerrecht, 2. Aufl., Basel 2009, Rz. 11.148).
7.2. Die genannten drei Bedingungen für einen Verzicht auf den
Wegweisungsvollzug (Unzulässigkeit, Unzumutbarkeit, Unmöglichkeit)
sind alternativer Natur. Sobald eine von ihnen erfüllt ist, ist der Vollzug als
undurchführbar zu betrachten und die weitere Anwesenheit der
betroffenen Person in der Schweiz gemäss den Bestimmungen über die
vorläufige Aufnahme zu regeln (vgl. EMARK 2006 Nr. 6 E. 4.2 S. 54f.).
7.3. Gemäss Art. 83 Abs. 4 AuG kann der Vollzug für Ausländerinnen und
Ausländer unzumutbar sein, wenn sie im Heimat- oder Herkunftsstaat auf
Grund von Situationen wie Krieg, Bürgerkrieg, allgemeiner Gewalt und
medizinischer Notlage konkret gefährdet sind. Wird eine konkrete
Gefährdung festgestellt, ist – unter Vorbehalt von Art. 83 Abs. 7 AuG –
die vorläufige Aufnahme zu gewähren.
7.3.1. Wie die Vorinstanz zu Recht festgestellt hat, erscheint der Vollzug
der aus D._______ im Süden Kosovos stammenden
Beschwerdeführenden dorthin nicht zumutbar, zumal die
Wahrscheinlichkeit einer konkreten Gefährdung für Serben ausserhalb
ihrer Enklave im Norden Kosovos weiterhin nicht ausgeschlossen werden
kann. Nachstehend wird demnach geprüft, ob für die
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Beschwerdeführenden eine Zufluchtsmöglichkeit im Norden Kosovos
oder in Serbien besteht.
7.3.2. In Bezug auf die allgemeine Sicherheits- und Menschenrechtslage
ist festzuhalten, dass sowohl in Serbien wie auch in der serbische
Enklave im Norden Kosovos keine Kriegs- oder Bürgerkriegssituation und
auch keine Situation allgemeiner Gewalt herrscht, die den
Wegweisungsvollzug unzumutbar erscheinen liesse. Der Vollzug der
Wegweisung von ethnischen Serben mit letztem Wohnsitz in Kosovo
nach Serbien ist grundsätzlich zumutbar (vgl. D-7561/2008 a.a.O. E.
8.3.2).
7.3.3. Damit stellt sich die Frage, ob den Beschwerdeführenden die
Inanspruchnahme der inner- respektive drittstaatlichen
Aufenthaltsalternativen Nordkosovo oder Serbien auch individuell
zuzumuten ist.
Bei der Beurteilung einer alternativen Zufluchtsmöglichkeit unter diesem Gesichtspunkt sind naturgemäss
höhere Anforderungen zu stellen als bei einer Rückführung in die Heimatregion. Gemäss Rechtsprechung
des Bundesverwaltungsgerichts sind im konkreten Einzelfall insbesondere Kriterien der Sicherung des
wirtschaftlichen Existenzminimums, des persönlichen Bezugs zum möglichen Zufluchtsort und soziale
Aspekte gebührend zu berücksichtigen (vgl. zum, Ganzen das Urteil D-7561/2008 a.a.O. E. 8.3.3 ff.
insbesondere E. 8.3.3.6).
7.3.4. Vorliegend ist nach Durchsicht der Akten zunächst festzuhalten,
dass es sich bei den Beschwerdeführenden nicht um alleinstehende
Erwachsene, sondern um eine Familie mit einer (…)-jährigen und einer
(…)-jährigen Tochter handelt. Der Beschwerdeführer hat einen
Mittelschulabschluss mit Fachrichtung E._______ und hat in der
Landwirtschaft auf dem eigenen Land gearbeitet. Seine Eltern leben
beide in der Schweiz; er ist als Einzelkind aufgewachsen, es leben nur
entfernte Verwandte in Kosovo. In Serbien hat er keine Verwandten oder
sonstigen Bezugspersonen. Die Beschwerdeführerin hat einen
Mittelschulabschluss als F._______ erworben und im eigenen Haushalt
gearbeitet. Ihr Vater ist verstorben, ihre Schwester und ihre Mutter sind
nach wie vor im Süden Kosovos wohnhaft; auch sie hat in Serbien weder
Verwandte noch Bekannte.
Der Beschwerdeführer macht ausserdem psychische Probleme infolge der Ereignisse im Kosovo geltend.
In einem Arztbericht des G._______ vom 21. November 2010 wird auf eine ambulante Krisenintervention
wegen eines depressiven Zustands mit latenter Suizidalität hingewiesen und festgestellt, die
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gesundheitlichen Beschwerden des Patienten würden für eine posttraumatische Belastungsstörung
sprechen. Weiter wird im Arztbericht festgehalten: "Therapeutisch sind regelmässig psychiatrische
Konsultationen dringend indiziert. Im Weiteren ist eine langfristige psychopharmakologische Behandlung
sehr notwendig".
7.4. Die Beschwerdeführenden verfügen, soweit feststellbar, weder in der
Enklave im Norden Kosovos, wo die Serben die überwiegende Mehrheit
der Bevölkerung stellen, noch in Serbien über ein tragfähiges familiäres
Beziehungsnetz. Unter Berücksichtigung der konkreten
Verfahrensumstände kommt das Bundesverwaltungsgericht zum Schluss,
dass sie kaum in der Lage sein dürften, sich im Nordkosovo oder in
Serbien wirtschaftlich und sozial zu integrieren und den Unterhalt der
vierköpfigen Familie sicherzustellen.
7.5. Unter diesen Umständen erscheint somit derzeit ein Vollzug der
Wegweisung der Beschwerdeführenden nach Serbien oder in den
Norden des Kosovos unzumutbar. Letzteres hatte, wie oben erwähnt,
bereits die Vorinstanz in der angefochtenen Verfügung festgestellt.
Den Akten sind keine Hinweise auf Ausschlussgründe gemäss Art. 83 Abs. 7 AuG zu entnehmen.
8.
Die Beschwerde ist somit gutzuheissen, soweit sie die Frage des
Wegweisungsvollzugs betrifft. Im Übrigen ist das Rechtsmittel
abzuweisen.
Die Ziffern 4 und 5 des Dispositivs der vorinstanzlichen Verfügung vom 9. April 2009 sind aufzuheben, und
die Vorinstanz ist anzuweisen, die Beschwerdeführenden in der Schweiz wegen Unzumutbarkeit des
Wegweisungsvollzugs vorläufig aufzunehmen.
9.
9.1. Bei diesem Ausgang des Verfahrens wären die Kosten den
Beschwerdeführenden aufzuerlegen, soweit diese unterliegen (Art. 63
Abs. 1 und 5 VwVG). Nachdem sich die Beschwerdebegehren jedoch
nicht als aussichtslos erwiesen haben und aufgrund der Akten von der
Mittellosigkeit der Beschwerdeführenden ausgegangen werden kann, ist
das in der Rechtsmitteleingabe vom 8. Mai 2009 gestellte Gesuch um
Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung (Art. 65 Abs. 1 VwVG)
gutzuheissen und auf die Auferlegung von Verfahrenskosten zu
verzichten.
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9.2. Ganz oder teilweise obsiegende Parteien haben Anspruch auf eine
Parteientschädigung für die ihnen erwachsenen notwendigen Kosten
(Art. 64 Abs. 1 VwVG; Art. 7 Abs. 1 des Reglements vom 21. Februar
2008 über die Kosten und Entschädigungen vor dem
Bundesverwaltungsgericht [VGKE, SR 173.320.2]). Beim vorliegenden
Verfahrensausgang sind die Beschwerdeführenden mit ihren
Rechtsbegehren teilweise durchgedrungen, und das
Bundesverwaltungsgericht geht in diesem Fall praxisgemäss von einem
hälftigen Obsiegen aus.
Angesichts dessen ist den Beschwerdeführenden im Beschwerdeverfahren in Anwendung von Art. 64 Abs.
1 VwVG i.V.m. Art. 37 VGG für die Kosten der Vertretung und allfälligen weiteren notwendigen Auslagen
eine reduzierte Parteientschädigung zuzusprechen (Art. 7 VGKE). Nachdem keine Kostennote zu den
Akten gereicht worden ist und sich der notwendige Vertretungsaufwand zuverlässig abschätzen lässt, ist
die von der Vorinstanz auszurichtende Parteientschädigung unter Berücksichtigung der massgebenden
Berechnungsfaktoren von Amtes wegen auf Fr. 300.‒ (inklusive sämtlicher Auslagen) festzusetzen (Art. 14
Abs. 2 VGKE).
(Dispositiv nächste Seite)
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Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:
1.
Die Beschwerde wird hinsichtlich der Frage des Wegweisungsvollzugs
gutgeheissen; im Übrigen wird sie abgewiesen.
2.
Die Ziffern 4 und 5 des Dispositivs der Verfügung der Vorinstanz vom
9. April 2009 werden aufgehoben. Das BFM wird angewiesen, die
vorläufige Aufnahme der Beschwerdeführenden anzuordnen.
3.
Das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege wird
gutgeheissen. Es werden keine Verfahrenskosten auferlegt.
4.
Das BFM wird angewiesen, den Beschwerdeführenden für das
Rechtsmittelverfahren eine reduzierte Parteientschädigung von Fr. 300.‒
zu entrichten.
Der vorsitzende Richter: Die Gerichtsschreiberin:
Markus König Karin Maeder-Steiner
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