E-2011/2012 - Abteilung V - Asyl und Wegweisung - Asyl und Wegweisung; Verfügung des BFM vom 14. Mär...
Karar Dilini Çevir:
E-2011/2012 - Abteilung V - Asyl und Wegweisung - Asyl und Wegweisung; Verfügung des BFM vom 14. Mär...
B u n d e s v e rw a l t u ng s g e r i ch t
T r i b u n a l ad m i n i s t r a t i f f éd é r a l
T r i b u n a l e am m in i s t r a t i vo f e d e r a l e
T r i b u n a l ad m i n i s t r a t i v fe d e r a l








Abteilung V
E-2011/2012


U r t e i l v o m 1 4 . N o v e m b e r 2 0 1 3
Besetzung

Einzelrichter Daniel Willisegger,
mit Zustimmung von Richter Fulvio Haefeli;
Gerichtsschreiber Alain Degoumois.
Parteien

A._______,
(…),
Sri Lanka,
vertreten durch lic. iur. Emil Robert Meier, Rechtsanwalt,
(…),
Beschwerdeführer,


gegen

Bundesamt für Migration (BFM),
Quellenweg 6, 3003 Bern,
Vorinstanz.

Gegenstand

Asyl und Wegweisung;
Verfügung des BFM vom 14. März 2012 / N (…).


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Sachverhalt:
A.
Eigenen Angaben zufolge verliess der Beschwerdeführer Sri Lanka am
1. November 2009 auf dem Luftweg und gelangte nach einem Zwischen-
halt in Abu Dhabi, Vereinigte Arabische Emirate, und Mailand, Italien, am
3. November 2009 als Beifahrer eines Personenwagens in die Schweiz,
wo er gleichentags um Asyl ersuchte. Am 11. November 2009 wurde er im
Empfangs- und Verfahrenszentrum Kreuzlingen befragt. Das BFM hörte
ihn am 17. November 2009 zu den Asylgründen an. Im Wesentlichen
machte der Beschwerdeführer geltend, er habe während der Friedenszeit
zusammen mit seinem Vater die Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE)
unterstützt. Sein Vater sei gezwungen worden, verschiedene Waren-
transporte für die LTTE durchzuführen, ansonsten er eines seiner Kinder
der Bewegung abgeben müsse. Er sei von der LTTE in deren Camps ge-
holt worden, um die Wände zu streichen. Aufgrund der Unterstützung der
LTTE, habe der Vater Probleme mit den sri-lankischen Behörden bekom-
men und sei Ende 2008 – nach wiederholt mehrstündigen Verhören –
nach Indien geflüchtet. Der Beschwerdeführer sei von Leuten der Eelam
People's Democratic Party (EPDP) mitgenommen worden, um an Wahl-
veranstaltungen teilzunehmen und mitzuhelfen. Im September 2009 sei
er von einigen Personen in einem weissen Van verschleppt und eine Wo-
che inhaftiert, misshandelt und verhört worden. Ihm sei vorgeworfen wor-
den, die LTTE unterstützt und an Kampfausbildungen teilgenommen zu
haben. Nach der Freilassung sei er mit Hilfe seines Onkels nach Colom-
bo gereist und habe sich dort bis zur Ausreise versteckt.
B.
Mit Verfügung vom 14. März 2012 stellte das BFM fest, dass der Be-
schwerdeführer die Flüchtlingseigenschaft nicht erfülle. Das BFM lehnte
das Asylgesuch ab, wies den Beschwerdeführer aus der Schweiz weg
und beauftragte den zuständigen Kanton mit dem Vollzug der Wegwei-
sung.
C.
Mit Eingabe vom 16. April 2012 reichte der Beschwerdeführer Beschwer-
de beim Bundesverwaltungsgericht ein und beantragte, die Verfügung
vom 14. März 2012 sei aufzuheben; das Verfahren sei an die Vorinstanz
zur Vervollständigung des Sachverhalts und zum neuen Entscheid zu-
rückzuweisen. Eventualiter sei dem Beschwerdeführer Asyl zu gewähren.
Subeventualiter sei festzustellen, dass der Vollzug der Wegweisung unzu-
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lässig ist, und das BFM sei anzuweisen, dem Beschwerdeführer eine vor-
läufige Aufnahme in der Schweiz zu gewähren. Alles unter Kosten- und
Entschädigungsfolgen zu Lasten des BFM bzw. der Bundeskasse.
D.
Mit Eingabe vom 26. April 2012 beantragte der Beschwerdeführer in pro-
zessualer Hinsicht die Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung
und eventualiter den Verzicht auf Erhebung eines Kostenvorschusses.
Gleichzeitig reichte er die Beilagen 1 und 2 zu den Akten.
E.
Mit Verfügung vom 2. Mai 2012 wurde das BFM eingeladen, eine Ver-
nehmlassung einzureichen.
F.
Mit Vernehmlassung vom 14. Mai 2012 verwies das BFM auf seine Erwä-
gungen und beantragte die Abweisung der Beschwerde.

Das Bundesverwaltungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Gemäss Art. 31 des Verwaltungsgerichtsgesetzes vom 17. Juni 2005
(VGG, SR 173.32) ist das Bundesverwaltungsgericht zur Beurteilung von
Beschwerden gegen Verfügungen nach Art. 5 des Bundesgesetzes vom
20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren (VwVG, SR 172.021)
zuständig und entscheidet auf dem Gebiet des Asyls in der Regel – wie
auch vorliegend – endgültig (vgl. Art. 83 Bst. d Ziff. 1 des Bundesge-
richtsgesetzes vom 17. Juni 2005 [BGG, SR 173.110]; Art. 105 des Asyl-
gesetzes vom 26. Juni 1998 [AsylG, SR 142.31]). Der Beschwerdeführer
ist als Verfügungsadressat zur Beschwerdeführung legitimiert (Art. 48
VwVG). Auf die frist- und formgerecht eingereichte Beschwerde (Art. 108
Abs. 1 AsylG und Art. 52 VwVG) ist einzutreten.
2.
2.1 Das Bundesverwaltungsgericht überprüft die angefochtene Verfügung
auf Verletzung von Bundesrecht, unrichtige und unvollständige Feststel-
lung des rechtserheblichen Sachverhalts und Unangemessenheit hin (Art.
106 Abs. 1 AsylG).
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2.2 Die Begründung der Begehren bindet die Beschwerdeinstanz in kei-
nem Fall (Art. 62 Abs. 4 VwVG). Die Beschwerdeinstanz kann die Be-
schwerde auch aus anderen als den geltend gemachten Gründen gut-
heissen oder den angefochtenen Entscheid im Ergebnis mit einer Be-
gründung bestätigen, die von jener der Vorinstanz abweicht (vgl. FRITZ
GYGI, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Auflage, Bern 1983, S. 212).
2.3 Die Beschwerde ist im Verfahren einzelrichterlicher Zuständigkeit mit
Zustimmung eines zweiten Richters zu behandeln, weil sie sich im Er-
gebnis als offensichtlich begründet erweist (Art. 111 Bst. e AsylG).
3.
3.1 Die Vorinstanz ist in Verfahren, die Staatsangehörige Sri Lankas tami-
lischer Ethnie betreffen, systematisch dazu übergegangen, keine Ausrei-
sefristen mehr zu verhängen und bereits angeordnete Ausreisefristen
aufzuheben. Faktisch zieht sie damit sämtliche Verfahren (auch solche im
Vollzugsstadium) in Wiedererwägung, und zwar unbesehen der konkreten
Umständen im Einzelfall. Das vorinstanzliche Vorgehen geht auf zwei be-
kannt gewordene Vorfälle zurück. Die sri-lankischen Behörden hatten of-
fenbar tamilische Rückkehrer bei der Wiedereinreise in Haft genommen.
Daraufhin hat die Vorinstanz in Aussicht gestellt, nicht nur die beiden Vor-
fälle, sondern auch eine allfällige Veränderung der allgemeinen Situation
in Sri Lanka abzuklären. Die Vorinstanz geht damit selbst davon aus,
dass der Sachverhalt, wie er der Verfügung vom 14. März 2012 zugrunde
liegt, offensichtlich nicht vollständig festgestellt ist. Denn es besteht kein
Zweifel, dass eine neue Lagebeurteilung vor Ort sich auf die konkrete
Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts auswirken kann, sei es
im Wegweisungsvollzugspunkt, sei es allenfalls im Flüchtlings- und Asyl-
punkt (vgl. zu den Risikogruppen BVGE 2011/24 E. 8).
3.2 Das Bundesverwaltungsgericht hat zwar die Kompetenz, den festge-
stellten Sachverhalt mit voller Kognition zu überprüfen (Art. 106 Abs. 1
Bst. b AsylG), und stellt grundsätzlich auf den Sachverhalt ab, wie er sich
im Zeitpunkt des Urteils verwirklicht hat (vgl. BVGE 2012/21 E. 5). Es
kann indessen nicht die Aufgabe der Beschwerdeinstanz sein, grundle-
gende Fragen zum Sachverhalt als erste Instanz zu klären. Das ergibt
sich aus der gesetzlichen Zuständigkeitsordnung. Das Gericht beurteilt
Beschwerden gegen Verwaltungsverfügungen im Sinne von Art. 5 VwVG,
ist mithin zur Überprüfung von Verfügungen zuständig (Art. 31 VGG). Die
Bestimmung zur Sachverhaltsfeststellung in Art. 32 VwVG ist denn auch
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primär auf das Verwaltungsverfahren vor den erstinstanzlichen Bundes-
behörden und nicht auf das Beschwerdeverfahren zugeschnitten, was die
gesetzliche Systematik bestätigt. Schliesslich fällt ins Gewicht, dass die
Partei eine Instanz verlöre, wenn das Gericht die Grundlagen des rechts-
erheblichen Sachverhalts nicht nur ergänzen, sondern gleichsam wie eine
erste Instanz erheben würde. Aus diesen Gründen hat das Bundesver-
waltungsgericht von eigenen Sachverhaltsfeststellungen, die über eine
blosse Ergänzung und Erwahrung des rechtserheblichen Sachverhalts
hinausreichen, abzusehen (vgl. BVGE 2012/21 E. 5; ferner Urteil des
Bundesverwaltungsgerichts vom 4. Oktober 2012, E-4157/2012, E. 4).
3.3 Demnach ist die angefochtene Verfügung aufzuheben und die Sache
zur vollständigen Sachverhaltsfeststellung und zu neuer Entscheidung an
die Vorinstanz zurückzuweisen (unter Beilage des nachgereichten Bestä-
tigungsschreibens vom 6. April 2012, [Beilage 2 zu act. 3]). Die Tatsache
allein, dass die Ergebnisse der vorinstanzlichen Abklärungen abzuwarten
sind, rechtfertigt die Aufhebung der Verfügung. Die Beschwerde ist – un-
geachtet der Parteivorbringen – somit gutzuheissen. An der Beurteilung
der konkreten Beschwerdevorbringen besteht kein schutzwürdiges Inte-
resse mehr und in diesem Masse ist die Beschwerde zugleich gegens-
tandslos geworden.
4.
4.1 Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben
(Art. 63 VwVG). Der Antrag auf Gewährung der unentgeltlichen Prozess-
führung (Art. 65 Abs. 1 VwVG) resp. Verzicht eines Kostenvorschusses ist
damit gegenstandslos geworden.
4.2 Die Beschwerdeinstanz kann der ganz oder teilweise obsiegenden
Partei von Amtes wegen oder auf Begehren eine Entschädigung für ihr
erwachsene notwendige und verhältnismässig hohe Kosten zusprechen
(Art. 64 Abs. 1 VwVG). Einerseits gilt der Beschwerdeführer insoweit als
obsiegende Partei, als seinem Antrag auf Aufhebung der angefochtenen
Verfügung stattzugeben ist. Andererseits ist zu berücksichtigen, dass die
Beschwerdegegnerin den gleichen Parteistandpunkt einnimmt, auch
wenn ein formeller Antrag auf Beschwerdegutheissung fehlt. Die Gutheis-
sung erfolgt denn auch nicht wegen begründeter Parteivorbringen, son-
dern allein deshalb, weil eine allfällig veränderte Sachlage die Wiederauf-
nahme des erstinstanzlichen Verwaltungsverfahrens unausweichlich
macht. Bei der Festsetzung der Parteientschädigung ist beiden Aspekten
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Rechnung zu tragen, sowohl dem Aspekt des Obsiegens des Beschwer-
deführers (nach Art. 7–14 des Reglements vom 21. Februar 2008 über
die Kosten und Entschädigungen vor dem Bundesverwaltungsgericht
[VGKE, SR 173.320.2]) als auch dem der Gegenstandslosigkeit (nach Art.
15 VGKE). Bei gegenstandlosen Verfahren ohne Zutun der Parteien rich-
tet sich die Entschädigung aufgrund der Sachlage vor Eintritt des Erledi-
gungsgrundes (Art. 15 i.V.m. Art. 5 Satz 2 VGKE). Letztlich sind es die
ungeklärten Vorfälle, die dazu führen, dass die Beschwerde durch Rück-
weisungsentscheid zu erledigen ist. Da keine gesicherten Erkenntnisse
über die allgemeine Situation in Sri Lanka vorliegen, lässt sich die Sach-
lage und damit die prozessuale Erfolgsaussichten der Beschwerde auch
im Zeitpunkt ihrer Einreichung nicht näher bestimmen. In Anwendung der
gesetzlichen Bemessungsfaktoren und angesichts der besonderen Um-
stände erscheint eine (pauschalisierende) Parteientschädigung von
Fr. 1'600.– angemessen. Die Vorinstanz ist in Anwendung von Art. 64
Abs. 2 VwVG anzuweisen, dem Beschwerdeführer diesen Betrag als Par-
teientschädigung zu entrichten.
(Dispositiv nächste Seite)


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Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:
1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen.
2.
Die Verfügung des BFM vom 14. März 2012 wird aufgehoben und die Sa-
che zur vollständigen Sachverhaltsfeststellung und zu neuer Entschei-
dung an das BFM zurückgewiesen.
3.
Es werden keine Verfahrenskosten erhoben.
4.
Das BFM wird angewiesen, dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor
Bundesverwaltungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 1'600.– (inkl.
Auslagen und Mehrwertsteuer) zu entrichten.
5.
Dieses Urteil geht an den Beschwerdeführer, das BFM und die zuständi-
ge kantonale Behörde.

Der Einzelrichter: Der Gerichtsschreiber:

Daniel Willisegger Alain Degoumois


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