D-8203/2010 - Abteilung IV - Asyl und Wegweisung - Asyl und Wegweisung; Verfügung des BFM vom 21. Okt...
Karar Dilini Çevir:
D-8203/2010 - Abteilung IV - Asyl und Wegweisung - Asyl und Wegweisung; Verfügung des BFM vom 21. Okt...
Bundesverwaltungsgericht
Tribunal administratif fédéral
Tribunale amministrativo federale
Tribunal administrativ federal
Abteilung IV
D-8203/2010
Urteil vom 4. Juli 2011
Besetzung Richterin Nina Spälti Giannakitsas (Vorsitz),
Richterin Jenny de Coulon Scuntaro, Richter Thomas Wespi;
Gerichtsschreiberin Sara Steiner.
Parteien A._______, geboren am … ,
Kamerun,
Beschwerdeführerin,
gegen
Bundesamt für Migration (BFM),
Quellenweg 6, 3003 Bern,
Vorinstanz.
Gegenstand Asyl und Wegweisung;
Verfügung des BFM vom 21. Oktober 2010 / N … .
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Sachverhalt:
A.
Eigenen Angaben zufolge verliess die Beschwerdeführerin Kamerun am
8. Februar 2008. Am 9. Februar 2008 kam sie mit dem Flugzeug am
Flughafen Zürich-Kloten an und ersuchte am 10. Februar 2008 um Asyl.
Gleichentags verweigerte ihr das BFM vorläufig die Einreise in die
Schweiz und wies ihr für die Dauer des weiteren Asylverfahrens den
Transitbereich des Flughafens Zürich-Kloten als Aufenthaltsort zu. Am
14. Februar 2008 bevollmächtigte die Beschwerdeführerin die
Mitarbeiterinnen der Zentralstelle Mineurs non accompagnés (MNA) als
ihre Rechtsvertreterinnen. In deren Anwesenheit wurde sie gleichentags
summarisch befragt und am 22. Februar 2008 einlässlich zu ihren
Asylgründen angehört. Mit Verfügung des BFM vom 28. Februar 2008
wurde ihr die Einreise in die Schweiz bewilligt und sie wurde für die Dauer
des Asylverfahrens dem Kanton St. Gallen zugewiesen.
Zur Begründung ihres Asylgesuches gab sie im Wesentlichen an, ihre
Familie väterlicherseits habe sie zur Heirat und zur Beschneidung
zwingen wollen. Am 31. Januar 2008 sei sie in ein Zimmer gesperrt
worden, wo sie eine Woche hätte bleiben sollen. Eine Tante habe ihr zu
Essen gebracht. Da diese Tante nicht mit der Entscheidung der Familie
einverstanden gewesen sei, habe sie sie nach vier Tagen freigelassen,
als die restlichen Familienmitglieder weg gewesen seien. Daraufhin sei
sie nach Douala zu einer Freundin ihrer Schwester geflüchtet und
schliesslich ausgereist.
Bei ihrer Einreise führte die Beschwerdeführerin unter anderem
verschiedene Schulzeugnisse und Geburtsurkunden ausgestellt auf den
Namen Aa._______, geboren am … , mit sich. Dabei handelt es sich
gemäss ihren Angaben um ihre Schwester.
B.
Mit Schreiben vom 14. März 2008 informierte das Ausländeramt St.
Gallen die zuständige Vormundschaftsbehörde über die Zuteilung der
minderjährigen Beschwerdeführerin und teilte dieser eine rechtskundige
Begleitperson zu.
C.
Mit Verfügung vom 21. Oktober 2010 – versandt am 25. Oktober 2010 –
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lehnte das BFM das Asylgesuch der Beschwerdeführerin ab und ordnete
deren Wegweisung sowie den Vollzug an.
D.
Mit Eingabe vom 25. November 2010 (Poststempel) erhob die
Beschwerdeführerin gegen diesen Entscheid beim
Bundesverwaltungsgericht Beschwerde und beantragte die Aufhebung
der angefochtenen Verfügung und die Asylgewährung sowie eventualiter
die Anordnung der vorläufigen Aufnahme wegen Unzumutbarkeit des
Wegweisungsvollzugs beziehungsweise die Rückweisung der Sache an
die Vorinstanz. In formeller Hinsicht ersuchte sie um Gewährung der
unentgeltlichen Rechtspflege im Sinne von Art. 65 Abs. 1 des
Bundesgesetzes vom 20. Dezember 1968 über das
Verwaltungsverfahren (VwVG, SR 172.021).
E.
Mit Verfügung vom 3. Dezember 2010 forderte die Instruktionsrichterin
die Beschwerdeführerin auf, eine Fürsorgebestätigung einzureichen,
verschob die Beurteilung des Gesuchs um Gewährung der
unentgeltlichen Rechtspflege im Sinne von Art. 65 Abs. 1 VwVG auf
einen späteren Zeitpunkt und verzichtete auf die Erhebung eines
Kostenvorschusses.
F.
Mit Eingabe vom 15. Dezember 2010 wurde die eingeforderte
Fürsorgebestätigung zu den Akten gereicht.
G.
In seiner Vernehmlassung vom 17. Dezember 2010 hielt das BFM an
seinen Erwägungen vollumfänglich fest und beantragte die Abweisung
der Beschwerde.
H.
Mit Eingabe vom 4. Januar 2011 nahm die Beschwerdeführerin zur
Vernehmlassung des BFM Stellung.
Das Bundesverwaltungsgericht zieht in Erwägung:
1.
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1.1. Gemäss Art. 31 des Verwaltungsgerichtsgesetzes vom 17. Juni 2005
(VGG, SR 173.32) beurteilt das Bundesverwaltungsgericht Beschwerden
gegen Verfügungen nach Art. 5 VwVG. Das BFM gehört zu den
Behörden nach Art. 33 VGG und ist daher eine Vorinstanz des
Bundesverwaltungsgerichts. Eine das Sachgebiet betreffende Ausnahme
im Sinne von Art. 32 VGG liegt nicht vor. Das Bundesverwaltungsgericht
ist daher zuständig für die Beurteilung der vorliegenden Beschwerde und
entscheidet auf dem Gebiet des Asyls endgültig, ausser bei Vorliegen
eines Auslieferungsersuchens des Staates, vor welchem die
beschwerdeführende Person Schutz sucht (Art. 105 des Asylgesetzes
vom 26. Juni 1998 [AsylG, SR 142.31]; Art. 83 Bst. d Ziff. 1 des
Bundesgerichtsgesetzes vom 17. Juni 2005 [BGG, SR 173.110]).
1.2. Das Verfahren richtet sich nach dem VwVG, dem VGG und dem
BGG, soweit das AsylG nichts anderes bestimmt (Art. 37 VGG; Art. 105
und Art. 6 AsylG).
1.3. Die Beschwerde ist frist- und formgerecht eingereicht. Die
Beschwerdeführerin hat am Verfahren vor der Vorinstanz teilgenommen,
ist durch die angefochtene Verfügung besonders berührt und hat ein
schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung beziehungsweise
Änderung. Sie ist daher zur Einreichung der Beschwerde legitimiert
(Art. 108 Abs. 1 AsylG, Art. 48 Abs. 1 sowie Art. 52 VwVG). Auf die
Beschwerde ist einzutreten.
2.
Mit Beschwerde kann die Verletzung von Bundesrecht, die unrichtige
oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts und
die Unangemessenheit gerügt werden (Art. 106 Abs. 1 AsylG).
3.
Zunächst ist auf die formelle Rüge der Beschwerdeführerin einzugehen,
wonach das BFM einen Verfahrensfehler begangen habe, da die
Befragung vom 22. Februar 2008 von einem männlichen Befrager
durchgeführt worden sei, obwohl Hinweise auf eine
geschlechtsspezifische Verfolgung vorgelegen hätten. Wie vom BFM in
seiner Vernehmlassung richtig erwähnt, war die befragende Person an
der Anhörung – entgegen der Behauptung der Beschwerdeführerin – eine
Frau. So wird sie einerseits bei der Vorstellung der anwesenden
Personen als Mitarbeiterin des BFM vorgestellt (A15 S.2) und
andererseits entspricht das Kürzel zu Beginn des Protokolls einer
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weiblichen Mitarbeiterin des BFM (A15 S.1). Zwar steht am Schluss des
Protokolls, wie von der Beschwerdeführerin richtig erwähnt, "Unterschrift
des Befragers". Dabei handelt es sich jedoch um einen Fehler. Dieser ist
aber nicht als gravierender Verfahrensfehler zu werten, der eine
Rückweisung des Dossiers an die Vorinstanz rechtfertigen würde. Der
entsprechende Antrag der Beschwerdeführerin ist nach dem Gesagten
abzuweisen.
4.
Gemäss Art. 2 Abs. 1 AsylG gewährt die Schweiz Flüchtlingen
grundsätzlich Asyl. Flüchtlinge sind Personen, die in ihrem Heimatstaat
oder im Land, in dem sie zuletzt wohnten, wegen ihrer Rasse, Religion,
Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder
wegen ihrer politischen Anschauungen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt
sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu
werden. Als ernsthafte Nachteile gelten namentlich die Gefährdung des
Leibes, des Lebens oder der Freiheit sowie Massnahmen, die einen
unerträglichen psychischen Druck bewirken. Den frauenspezifischen
Fluchtgründen ist Rechnung zu tragen (Art. 3 AsylG). Wer um Asyl
nachsucht, muss die Flüchtlingseigenschaft nachweisen oder zumindest
glaubhaft machen (Art. 7 Abs. 1 AsylG).
5.
5.1. Zur Begründung seiner Verfügung führte das BFM im Wesentlichen
aus, die Vorbringen der Beschwerdeführerin seien nicht glaubhaft. So
habe sie einerseits trotz wiederholter Aufforderung überhaupt keine
Identitätsdokumente eingereicht. Andererseits habe sie Schulzeugnisse
und weitere Schuldokumente, welche auf eine andere Person lauten
würden, bei sich gehabt. Die Aktenlage deute darauf hin, dass sie die in
den Dokumenten erwähnte Person sein könnte, obwohl sie behauptet
habe, sie gehörten ihrer Schwester. Es sei unplausibel, dass sie, wie
behauptet, eine Tasche der Schwester mit den erwähnten Dokumenten
auf einen Interkontinentalflug hätte mitnehmen sollen. Zudem habe die
Beschwerdeführerin zu Beginn ein anderes Geburtsdatum angegeben,
den … , welches in Monat und Tag mit den Einträgen in den Dokumenten
übereinstimme, welche angeblich ihrer Schwester gehörten. Weiter
vermöchten auch ihre Angaben zur Einschliessung und zur Flucht nicht
zu überzeugen. So habe sie keine substanziierten Vorbringen zu den
Umständen der viertägigen Einschliessung machen können. Auch sei
nicht nachvollziehbar, dass der Familienverband ausgerechnet der Tante
den Schlüssel hätte übergeben sollen, die zuvor kundgetan habe, dass
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sie mit der Zwangsverheiratung nicht einverstanden sei. Zudem wisse die
Beschwerdeführerin auch nicht, an welchem Wochentag sie ihren
Wohnort verlassen habe. Schliesslich seien auch die geschilderten
Ausreiseumstände als konstruiert zu taxieren. So sei der Freund ihres
Vaters, der zufällig der Nachbar der Freundin ihrer Schwester gewesen
sei, zu der sie sich geflüchtet habe, zufällig am 6. Februar bei dieser
vorbeigekommen. Bereits am 7. beziehungsweise 8. Februar soll er die
Dokumente gebracht und erklärt haben, dass sie beide zusammen am
8. Februar ausreisen würden. Nebst einigen Zufälligkeiten überrasche,
dass dieser innert derart kurzer Zeit Reisepapiere beschaffen und den
Flug habe buchen können und sie dann auch noch auf die Reise begleitet
habe.
5.2. Die Beschwerdeführerin hielt dem im Wesentlichen entgegen, als
Minderjährige habe sie noch nie Identitätsdokumente gehabt. Würden die
mitgeführten Dokumente tatsächlich ihr gehören und nicht ihrer
Schwester, hätte sie dies gesagt, habe sie doch gar nichts davon, dies zu
negieren. Da man in erster Linie davon ausgehe, die Dokumente, die eine
Person bei sich führe, gehörten auch dieser, wäre der einfachste Weg
gewesen, zu behaupten, dass sie diese Person in den Dokumenten sei.
Sie habe sich jedoch stets an die Wahrheit gehalten. Sie habe nicht
gewusst, dass die Dokumente in dem Koffer seien, den sie für ihre Reise
mitgenommen habe. Weiter unterstelle ihr das BFM, ein falsches
Geburtsdatum angegeben zu haben. Ihre diesbezüglichen Angaben seien
jedoch kontinuierlich konsequent gewesen. Zur Einschliessung habe sie
ausgeführt, dass sie währenddessen nur habe lesen können und sonst
nichts gemacht habe, ausser zu essen beziehungsweise auf die sich im
Zimmer befindende Toilette zu gehen. Sie habe ausführlich erzählt, wie
es ihr damals ergangen sei und wo sie eingesperrt gewesen sei. Einmal
habe sie über 15 Zeilen hinweg derart verwoben und detailliert erzählt,
wie das vor sich gegangen sei, als sie sich bei der Einschliessung von
ihrer Grossmutter habe trennen müssen, dass dies nicht eine erfundene
Geschichte sein könne. Auch habe sie erwähnt, dass sie Angst vor der
Beschneidung gehabt habe, und somit ihren emotionalen Zustand zum
Ausdruck gebracht. Auch die Tatsache, dass sie zu Protokoll gegeben
habe, die Toilette habe sich im Zimmer befunden, was nicht der
erfahrungsgemässen, europäischen Erwartung entspreche, anstatt zu
behaupten, sie habe sich ausserhalb des Zimmers befunden, sei ein
Realitätskennzeichen. Schliesslich sei zu erwähnen, dass sie auf
Französisch befragt worden sei, was nicht ihre Muttersprache sei, sodass
es nachvollziehbar sei, dass ihre Schilderungen zum Teil nicht derart
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detailliert seien. Zudem sei sie zu diesem Zeitpunkt auch noch
minderjährig gewesen und es könne vorkommen, dass bei Jugendlichen
Widersprüchlichkeiten und Unstimmigkeiten auftauchen könnten. Die
Ausreise habe so schnell organisiert werden können, da die Fälschung
von Dokumenten in Kamerun ein besonders verbreitetes Phänomen sei.
Es wäre auch möglich, dass die Tante, die ihr geholfen habe, schon
vorher etwas organisiert habe, ohne ihr etwas zu sagen aus Furcht vor
Konsequenzen durch ihren Mann.
5.3. In seiner Vernehmlassung führte das BFM aus, die Identität der
Beschwerdeführerin stehe nach wie vor nicht fest. Es falle auch auf, dass
sie bei der Erstbefragung angegeben habe, einen Schülerausweis
besessen zu haben, während sie an der Anhörung behauptet habe, den
Schülerausweis bekäme sie erst Ende dieses Jahres.
5.4. Die Beschwerdeführerin hielt in ihrer Stellungnahme fest, die
kamerunischen Behörden seien nicht immer in der Lage, behördliche
Arbeiten auszuführen. Selbst wenn sie ein Identitätsdokument einreichen
würde, müsse dies auf seine Echtheit überprüft werden, da die Fälschung
von Dokumenten in Kamerun weit verbreitet sei. Es wäre also ein
Leichtes, ein solches zu fälschen. Sie wolle aber die schweizerischen
Behörden nicht täuschen. Sie werde versuchen, ein Identitätspapier zu
organisieren, könne aufgrund des konfliktgeladenen Verhältnisses zu
ihrer Familie nicht sagen, ob und wann ihr dies gelinge.
6.
6.1. Grundsätzlich sind Vorbringen dann glaubhaft, wenn sie genügend
substanziiert, in sich schlüssig und plausibel sind; sie dürfen sich nicht in
vagen Schilderungen erschöpfen, in wesentlichen Punkten widersprüch-
lich sein oder der inneren Logik entbehren und auch nicht den Tatsachen
oder der allgemeinen Erfahrung widersprechen. Darüber hinaus muss die
asylsuchende Person persönlich glaubwürdig erscheinen, was
insbesondere dann nicht der Fall ist, wenn sie ihre Vorbringen auf
gefälschte oder verfälschte Beweismittel abstützt (vgl. Art. 7 Abs. 3
AsylG), aber auch dann, wenn sie wichtige Tatsachen unterdrückt oder
bewusst falsch darstellt, im Laufe des Verfahrens Vorbringen
auswechselt, steigert oder unbegründet nachschiebt, mangelndes
Interesse am Verfahren zeigt oder die nötige Mitwirkung verweigert.
Glaubhaftmachung bedeutet ferner – im Gegensatz zum strikten Beweis
– ein reduziertes Beweismass und lässt durchaus Raum für gewisse
Einwände und Zweifel an den Vorbringen des Gesuchstellers. Eine
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Behauptung gilt bereits als glaubhaft gemacht, wenn das Gericht von
ihrer Wahrheit nicht völlig überzeugt ist, sie aber überwiegend für wahr
hält, obwohl nicht alle Zweifel beseitigt sind. Für die Glaubhaftmachung
reicht es demgegenüber nicht aus, wenn der Inhalt der Vorbringen zwar
möglich ist, aber in Würdigung der gesamten Aspekte wesentliche und
überwiegende Umstände gegen die vorgebrachte
Sachverhaltsdarstellung sprechen. Entscheidend ist im Sinne einer
Gesamtwürdigung, ob die Gründe, die für eine Richtigkeit der
Sachverhaltsdarstellung sprechen, überwiegen oder nicht; dabei ist auf
eine objektivierte Sichtweise abzustellen (vgl. Entscheidungen und
Mitteilungen der Schweizerischen Asylrekurskommission [EMARK] 2005
Nr. 21 E.6.1 S.190 f. mit weiteren Hinweisen). An den genannten Kriterien
ist nach wie vor festzuhalten, zumal die Rechtslage diesbezüglich keine
Änderungen erfahren hat.
6.2. Mit der Vorinstanz kann festgehalten werden, dass die Vorbringen
der Beschwerdeführerin insgesamt als nicht glaubhaft zu beurteilen sind.
Zwar ist bei minderjährigen Asylsuchenden, wie von der
Beschwerdeführerin richtig eingewandt, bei der Wertung von
Widersprüchen und Unstimmigkeiten Zurückhaltung zu üben. Wie
nachfolgend dargelegt, steht aber vorliegend einerseits nicht fest, dass
die Beschwerdeführerin bei der Anhörung minderjährig war, und
andererseits bestehen erhebliche Unstimmigkeiten.
6.3. Erste Zweifel entstehen im Zusammenhang mit ihrer Identität. So
konnte sich die Beschwerdeführerin bis heute nicht ausweisen und es ist
tatsächlich naheliegend, dass die von ihr mitgeführten Dokumente, nicht
wie behauptet, ihrer Schwester gehören, sondern ihr selber.
Insbesondere fällt dabei auf, dass der Monat und der Tag des
Geburtsdatums der Schwester mit dem – entgegen der Behauptung in
der Beschwerde – zu Beginn ihrer Einreise in die Schweiz angegebenen
eigenen Geburtsdatum übereinstimmen. Auch der Name der
Beschwerdeführerin Ab._______ ist fast identisch mit ihrer angeblichen
Schwester Aa._______, von der sie im Übrigen keine Ahnung hat, wo sie
sich im Moment aufhält. Zudem führte sie aus, auch die Schwester hätte
zwangsverheiratet werden sollen, womit eine weitere Ähnlichkeit zu ihrer
Geschichte darauf hinweist, dass sie und ihre angebliche Schwester ein
und dieselbe Person sind. Dass sie den Koffer zufällig mitgenommen und
nichts von den Dokumenten gewusst habe, erscheint tatsächlich
unplausibel. Vielmehr ist anzunehmen, dass es die eigenen Dokumente
der Beschwerdeführerin sind und sie sich erst, als ihre Reise
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unplanmässig in der Schweiz endete, auf den Standpunkt stellte, sie
gehörten ihrer Schwester. Dass sie von dieser Behauptung keine Vorteile
hätte, stimmt offensichtlich nicht, war die in den mitgeführten
Dokumenten aufgeführte Person doch zum Zeitpunkt der Einreise schon
volljährig und hätte nicht von den Vorteilen für nicht begleitete
minderjährige Asylsuchende profitieren können.
6.4. Gewichtige Zweifel entstehen aber im Zusammenhang mit den
geltend gemachten Ausreisegründen. Zunächst fällt auf, dass die
Beschwerdeführerin stets in der zweiten oder dritten Person über die
Ereignisse berichtet. Dies passt nicht zur Erzählweise von selbst
Erlebtem. Weiter beschreibt sie die Ereignisse im Vorfeld der
Einschliessung in äussert diffuser und widersprüchlicher Weise. So gab
sie beispielsweise einmal an, man habe ihr am 31. Januar gesagt, dass
sie verheiratet werden sollte (A10 S. 8), während sie kurz darauf sagte,
sie habe es schon vorher gewusst (A10 S. 9). Auch konnte sie zunächst
trotz wiederholtem Nachfragen nicht sagen, wer es ihr gesagt hat (A10 S.
9), während sie später angab, ihre Grossmutter mütterlicherseits habe es
ihr mitgeteilt (A15 Frage 24). Sodann behauptete sie einmal, es seien nur
der Vater und die Mutter des zukünftigen Ehemanns an diesen Treffen
bei ihrem Grossvater zu Hause gewesen, und einmal, es seien noch
andere Verwandte dabei gewesen (A15 Frage 37 ff.). Insbesondere ist
aber nicht nachvollziehbar, wieso die Familie väterlicherseits die
Beschwerdeführerin bei ihrer Grossmutter mütterlicherseits einsperren
und von einer entfernten Tante bewachen liess, wo doch diese beiden
Personen offen kundgetan hatten, dass sie mit dem Vorgehen der Familie
nicht einverstanden waren. Dies erstaunt insbesondere, nachdem bereits
die angebliche Schwester der Beschwerdeführerin zwei bis drei Jahre
zuvor vor der Zwangsheirat geflüchtet sei. Nach dem Gesagten können
ihr die Vorbringen nicht geglaubt werden. Dies trotz der zeitweiligen
Emotionalität der Beschwerdeführerin während der Anhörung und trotz
der einen Trennungsszene von der Grossmutter bei der Einschliessung,
die sie tatsächlich relativ detailliert darlegte. Im Gegensatz dazu sind
nämlich ihre weiteren Ausführungen wiederum ohne
Realitätskennzeichen und ohne die zu erwartende Emotionalität
vorgetragen worden. So kann bei der Aussage, sie habe den ganzen Tag
gelesen, nicht von Detailliertheit gesprochen werden und auch eine
Toilette in einem Zimmer ist nicht derart ungewöhnlich, dass sie als
Realitätszeichen zu werten wäre.
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6.5. Bestätigt werden diese Zweifel durch ihre Aussagen im
Zusammenhang mit der Ausreise. So ist diese tatsächlich begleitet von
auffallend viel Zufälligkeiten und es ist auch angesichts der grassierenden
Dokumentenfälschung in Kamerun nicht nachvollziehbar, wie der Freund
des Vaters in einem Tag einen Pass und ein Flugticket organisiert haben
soll. Zudem ist nicht verständlich, wieso ein Freund ihres Vaters, dessen
Familie ja die ganze Zwangsverheiratung organisiert habe, ihr bei ihrer
Flucht hätte helfen und überdies spontan mit ihr nach Europa reisen
sollen. Zudem kann die Beschwerdeführerin nicht sagen, wie die Reise
finanziert wurde (A10 S. 6), und hatte ihren Angaben gemäss keine Pläne
für die Zeit nach ihrer Ankunft (A10 S. 11).
7.
Im Übrigen wäre die von der Beschwerdeführerin behauptete Verfolgung
ohnehin asylrechtlich nicht relevant, zumal eine innerstaatliche
Fluchtalternative naheliegen würde, beispielsweise nach Douala, wohin
auch ihre Schwester zwei Jahre zuvor erfolgreich vor der Zwangsheirat
habe flüchten können. Zudem ist zwar die Praktik der Zwangsheirat in
gewissen vorwiegend ländlichen Regionen Kameruns weiterhin
verbreitet. Gesetzlich ist sie jedoch verboten. Die Beschneidung wird in
Kamerun vor allem im Südwesten und im äussersten Norden praktiziert.
Interne Migration trägt dazu bei, dass sie auch in anderen Landesteilen
verbreitet wird. Es ist aber problematisch, genaue Daten zur
Verbreitungsrate zu benennen. Das von vielen Seiten geforderte Gesetz
gegen die Durchführung der Beschneidung ist zwar im Strafgesetz noch
nicht umgesetzt, aber in Planung. Der kamerunische Staat, zahlreiche
Frauenorganisationen und andere nationale und internationale NGOs
betreiben zudem seit Jahren Kampagnen zur Aufklärung über die Rechte
der Frauen und zur Bekämpfung der Gewalt und der schädlichen
traditionellen Bräuche. Gemäss UN-Ausschuss gegen Folter müssen
diese Bemühungen jedoch weiter intensiviert werden (vgl.
Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), Kamerun: Female Genital
Mutilation, 18. Januar 2010; United Nations Human Rights Council, Le
Comité contre la torture entend les réponses de la délégation du
Cameroun, 7. Mai 2010; Comité contre la torture, Quarante-deuxième
session, 26. April – 14. Mai 2010, Observations finales du Comité contre
la torture, Cameroun; Urteile des Bundesverwaltungsgerichts
D-1717/2007 vom 6. Juli 2010 und E-1461/2011 vom 21. März 2011).
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8.
Nach dem Gesagten hat das BFM das Asylgesuch der
Beschwerdeführerin zu Recht abgelehnt.
9.
9.1. Lehnt das Bundesamt das Asylgesuch ab oder tritt es darauf nicht
ein, so verfügt es in der Regel die Wegweisung aus der Schweiz und
ordnet den Vollzug an; es berücksichtigt dabei den Grundsatz der Einheit
der Familie (Art. 44 Abs. 1 AsylG).
9.2. Die Beschwerdeführerin verfügt weder über eine ausländerrechtliche
Aufenthaltsbewilligung noch über einen Anspruch auf Erteilung einer
solchen. Die Wegweisung wurde demnach zu Recht angeordnet (Art. 44
Abs. 1 AsylG; vgl. BVGE 2009/50 E. 9 S. 733).
10.
10.1. Ist der Vollzug der Wegweisung nicht zulässig, nicht zumutbar oder
nicht möglich, so regelt das Bundesamt das Anwesenheitsverhältnis nach
den gesetzlichen Bestimmungen über die vorläufige Aufnahme von
Ausländern (Art. 44 Abs. 2 AsylG; Art. 83 Abs. 1 des Bundesgesetzes
vom 16. Dezember 2005 über die Ausländerinnen und Ausländer [AuG,
SR 142.20]).
Bezüglich der Geltendmachung von Wegweisungshindernissen gilt
gemäss ständiger Praxis des Bundesverwaltungsgerichts und seiner
Vorgängerorganisation ARK der gleiche Beweisstandard wie bei der
Flüchtlingseigenschaft, das heisst, sie sind zu beweisen, wenn der strikte
Beweis möglich ist, und andernfalls wenigstens glaubhaft zu machen (vgl.
WALTER STÖCKLI, Asyl, in: Uebersax/Rudin/Hugi Yar/Geiser [Hrsg.],
Ausländerrecht, 2. Aufl., Basel 2009, Rz. 11.148).
10.2. Der Vollzug ist nicht zulässig, wenn völkerrechtliche Verpflichtungen
der Schweiz einer Weiterreise der Ausländerin oder des Ausländers in
den Heimat-, Herkunfts- oder einen Drittstaat entgegenstehen (Art. 83
Abs. 3 AuG).
So darf keine Person in irgendeiner Form zur Ausreise in ein Land
gezwungen werden, in dem ihr Leib, ihr Leben oder ihre Freiheit aus
einem Grund nach Art. 3 Abs. 1 AsylG gefährdet ist oder in dem sie
Gefahr läuft, zur Ausreise in ein solches Land gezwungen zu werden
(Art. 5 Abs. 1 AsylG; vgl. ebenso Art. 33 Abs. 1 des Abkommens vom
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Seite 12
28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge [FK, SR 0.142.30]).
Gemäss Art. 25 Abs. 3 der Bundesverfassung der Schweizerischen
Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (BV, SR 101), Art. 3 des
Übereinkommens vom 10. Dezember 1984 gegen Folter und andere
grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe
(FoK, SR 0.105) und der Praxis zu Art. 3 der Konvention vom
4. November 1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten
(EMRK, SR 0.101) darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder
erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.
10.3. Die Vorinstanz wies in ihrer angefochtenen Verfügung zutreffend
darauf hin, dass das Prinzip des flüchtlingsrechtlichen Non-Refoulement
nur Personen schützt, die die Flüchtlingseigenschaft erfüllen. Da es der
Beschwerdeführerin nicht gelungen ist, eine asylrechtlich erhebliche
Gefährdung nachzuweisen oder glaubhaft zu machen, kann der in Art. 5
AsylG verankerte Grundsatz der Nichtrückschiebung im vorliegenden
Verfahren keine Anwendung finden. Eine Rückkehr der
Beschwerdeführerin nach Kamerun ist demnach unter dem Aspekt von
Art. 5 AsylG rechtmässig.
Sodann ergeben sich weder aus den Aussagen der Beschwerdeführerin
noch aus den Akten Anhaltspunkte dafür, dass sie für den Fall einer
Ausschaffung nach Kamerun dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit
einer nach Art. 3 EMRK oder Art. 1 FoK verbotenen Strafe oder
Behandlung ausgesetzt wäre. Gemäss Praxis des Europäischen
Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) sowie jener des UN-Anti-
Folterausschusses müsste die Beschwerdeführerin eine konkrete Gefahr
("real risk") nachweisen oder glaubhaft machen, dass ihr im Fall einer
Rückschiebung Folter oder unmenschliche Behandlung drohen würde
(vgl. EGMR [Grosse Kammer], Saadi gegen Italien, Urteil vom
28. Februar 2008, Beschwerde Nr. 37201/06, §§ 124 – 127, mit weiteren
Hinweisen). Auch die allgemeine Menschenrechtssituation in Kamerun
lässt den Wegweisungsvollzug zum heutigen Zeitpunkt nicht als
unzulässig erscheinen. Nach dem Gesagten ist der Vollzug der
Wegweisung sowohl im Sinne der asyl- als auch der völkerrechtlichen
Bestimmungen zulässig.
10.4. Gemäss Art. 83 Abs. 4 AuG kann der Vollzug für Ausländerinnen
und Ausländer unzumutbar sein, wenn sie im Heimat- oder
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Seite 13
Herkunftsstaat auf Grund von Situationen wie Krieg, Bürgerkrieg,
allgemeiner Gewalt und medizinischer Notlage konkret gefährdet sind.
Wird eine konkrete Gefährdung festgestellt, ist – unter Vorbehalt von
Art. 83 Abs. 7 AuG – die vorläufige Aufnahme zu gewähren.
10.5. In Kamerun besteht im heutigen Zeitpunkt keine Situation
allgemeiner Gewalt, weshalb der Wegweisungsvollzug dorthin
praxisgemäss als generell zumutbar erachtet wird. In den Akten finden
sich auch keine konkreten und glaubhaften Anhaltspunkte dafür, dass die
Beschwerdeführerin aus individuellen Gründen wirtschaftlicher, sozialer
oder gesundheitlicher Natur in eine existenzbedrohende Situation geraten
würde. Die junge und offenbar gesunde Beschwerdeführerin verfügt
eigenen Angaben zufolge über ein familiäres Beziehungsnetz in Kamerun
(A10 S. 4 und 8) sowie auch über eine zwölfjährige Schulbildung (A10 S.
3), weshalb davon auszugehen ist, dass es ihr gelingen wird, sich dort
eine wirtschaftliche Existenzgrundlage aufzubauen.
10.6. Nach dem Gesagten erweist sich der Vollzug der Wegweisung auch
als zumutbar.
10.7. Schliesslich obliegt es der Beschwerdeführerin, sich bei der
zuständigen Vertretung des Heimatstaates die für eine Rückkehr
notwendigen Reisedokumente zu beschaffen (vgl. Art. 8 Abs. 4 AsylG
und dazu auch BVGE 2008/34 E. 12 S. 513 ff.), weshalb der Vollzug der
Wegweisung auch als möglich zu bezeichnen ist (Art. 83 Abs. 2 AuG).
10.8. Zusammenfassend hat die Vorinstanz den Wegweisungsvollzug zu
Recht als zulässig, zumutbar und möglich erachtet. Nach dem Gesagten
fällt eine Anordnung der vorläufigen Aufnahme ausser Betracht (Art. 83
Abs. 1 – 4 AuG).
11.
Aus diesen Erwägungen ergibt sich, dass die angefochtene Verfügung
Bundesrecht nicht verletzt, den rechtserheblichen Sachverhalt richtig und
vollständig feststellt und angemessen ist (Art. 106 AsylG). Die
Beschwerde ist nach dem Gesagten abzuweisen.
12.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens wären die Kosten der
Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 63 Abs. 1 VwVG). Nach dem
Gesagten sind jedoch die Beschwerdebegehren nicht als aussichtslos zu
bezeichnen. Die Bedürftigkeit der Beschwerdeführerin ist zudem durch
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die eingereichte Fürsorgebestätigung vom 15. Dezember 2010 belegt.
Demnach ist das mit der Beschwerde gestellte Gesuch um Gewährung
der unentgeltlichen Rechtspflege im Sinne von Art. 65 Abs. 1 VwVG
gutzuheissen und es sind keine Kosten aufzuerlegen.
(Dispositiv nächste Seite)
D-8203/2010
Seite 15
Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
2.
Das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege im Sinne
von Art. 65 Abs. 1 VwVG wird gutgeheissen.
3.
Es werden keine Verfahrenskosten auferlegt.
4.
Dieses Urteil geht an die Beschwerdeführerin, das BFM und die
zuständige kantonale Behörde.
Die vorsitzende Richterin: Die Gerichtsschreiberin:
Nina Spälti Giannakitsas Sara Steiner
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