D-7594/2009 - Abteilung IV - Asylverfahren (Übriges) - Verweigerung des Einbezugs in die vorläufige Aufna...
Karar Dilini Çevir:
D-7594/2009 - Abteilung IV - Asylverfahren (Übriges) - Verweigerung des Einbezugs in die vorläufige Aufna...
Abtei lung IV
D-7594/2009/dcl
{T 0/2}
U r t e i l v o m 2 7 . A p r i l 2 0 1 0
Richter Bendicht Tellenbach (Vorsitz), Richter Daniel
Schmid, Richter Gérard Scherrer;
Gerichtsschreiber Daniel Merkli.
A._______,dessen Ehefrau
B.______und deren Sohn C._______
Türkei,
alle vertreten durch lic. iur. Jürg Walker, Fürsprecher,
Solothurnerstrasse 101, 4600 Olten,
Beschwerdeführende,
gegen
Bundesamt für Migration (BFM),
Quellenweg 6, 3003 Bern,
Vorinstanz.
Familienzusammenführung; Einbezug in die vorläufige
Aufnahme; Verfügung des BFM vom 29. Oktober 2009 /
N_______
B u n d e s v e r w a l t u n g s g e r i c h t
T r i b u n a l a d m i n i s t r a t i f f é d é r a l
T r i b u n a l e a m m i n i s t r a t i v o f e d e r a l e
T r i b u n a l a d m i n i s t r a t i v f e d e r a l
Besetzung
Parteien
Gegenstand
D-7594/2009
Sachverhalt:
A.
Mit Verfügungen vom 18. Juni 2003 und 3. Mai 2004 wies das BFM die
Asylgesuche der Beschwerdeführenden vom 15. April 2003 be-
ziehungsweise 4. Mai 2004 ab, ordnete deren Wegweisung an und er-
achtete den Vollzug als zulässig, zumutbar und möglich.
B.
Das Bundesverwaltungsgericht hiess mit Urteil vom 5. März 2009 die
gegen diese Verfügungen erhobenen Beschwerden, soweit den Voll-
zug der Wegweisung betreffend, gut und wies das BFM an, die Be-
schwerdeführenden in der Schweiz vorläufig aufzunehmen.
C.
Mit Verfügung vom 10. März 2009 ordnete das BFM die vorläufige
Aufnahme der Beschwerdeführenden an.
D.
Mit Eingabe ihres Rechtsvertreters vom 24. März 2009 reichten die
Beschwerdeführenden beim D._______ein Gesuch um
Familiennachzug und Einbezug ihres in der Türkei lebenden Sohnes
E._______ in die vorläufige Aufnahme ein.
E.
Dieses Gesuch wurde vom D._______am 24. August 2009 an das
BFM weitergeleitet, wobei es in seiner Stellungnahme festhielt, die
Voraussetzungen von Art. 85 Abs. 7 des Bundesgesetzes vom 16.
Dezember 2005 über die Ausländerinnen und Ausländer (AuG, SR
142.20) seien vorliegend nicht erfüllt.
F.
Das BFM teilte mit Schreiben vom 7. September 2009 an den Rechts-
vertreter mit, weshalb es beabsichtige, das Gesuch um Einbezug in
die vorläufige Aufnahme abzulehnen, und gewährte den Beschwerde-
führenden hierzu Gelegenheit zur Stellungnahme.
G.
Mit Eingabe vom 7. Oktober 2009 bezog der Rechtsvertreter Stellung
zu den Argumenten des BFM.
Seite 2
D-7594/2009
H.
Mit Entscheid vom 29. Oktober 2009 lehnte das BFM das Gesuch der
Beschwerdeführenden um Familiennachzug und Einbezug in die vor-
läufige Aufnahme ab.
I.
Gegen diesen Entscheid erhoben die Beschwerdeführenden mit Ein-
gabe ihres Rechtsvertreters vom 7. Dezember 2009 an das Bundes-
verwaltungsgericht Beschwerde, wobei sie in verfahrensrechtlicher
Hinsicht unter anderem um Gewährung der unentgeltlichen Rechts-
pflege im Sinne von Art. 65 Abs. 1 und 2 des Bundesgesetzes vom
20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren (VwVG, SR
172.021) ersuchten.
K.
Mit Zwischenverfügung vom 18. Dezember 2009 wurde das Gesuch
um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege im Sinne von Art. 65
Abs. 1 VwVG gutgeheissen, auf das Erheben eines Kostenvorschusses
verzichtet und der Rechtsvertreter den Beschwerdeführenden als amt-
licher Anwalt beigeordnet.
L.
In ihrer Vernehmlassung vom 1. April 2010, welche den Beschwerde-
führenden am 7. April 2010 zur Kenntnis gebracht wurde, beantragte
die Vorinstanz die Abweisung der Beschwerde.
M.
Mit Eingabe vom 23. April 2010 nahm der Rechtsvertreter zu den
Argumenten der Vorinstanz Stellung und reichte gleichzeitig eine
Honorarnote ein.
Das Bundesverwaltungsgericht zieht in Erwägung:
1.
1.1 Gemäss Art. 31 des Verwaltungsgerichtsgesetzes vom
17. Juni 2005 (VGG, SR 173.32) beurteilt das Bundesverwaltungs-
gericht Beschwerden gegen Verfügungen nach Art. 5 VwVG. Das BFM
gehört zu den Behörden nach Art. 33 VGG und ist daher eine Vor-
instanz des Bundesverwaltungsgerichts. Eine das Sachgebiet be-
treffende Ausnahme im Sinne von Art. 32 VGG liegt nicht vor. Das
Seite 3
D-7594/2009
Bundesverwaltungsgericht ist daher zuständig für die Beurteilung der
vorliegenden Beschwerde und entscheidet in diesem Bereich endgültig
(Art. 83 Bst. c Ziff. 3 des Bundesgerichtsgesetzes vom 17. Juni 2005
(BGG, SR 173.110).
1.2 Die Beschwerdeführenden sind durch die angefochtene Verfügung
besonders berührt, haben ein schutzwürdiges Interesse an deren
Aufhebung beziehungsweise Änderung und sind daher zur Ein-
reichung der Beschwerde legitimiert (Art. 112 Abs. 1 AuG i.V.m.
Art. 48 Abs. 1 VwVG). Auf die im Übrigen form- und fristgerecht ein-
gereichte Beschwerde ist einzutreten (Art. 112 Abs. 1 AuG i.V.m.
Art. 50 und 52 VwVG).
2.
Mit Beschwerde kann die Verletzung von Bundesrecht, die unrichtige
oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts
und die Unangemessenheit gerügt werden (Art. 112 Abs. 1 AuG i.V.m.
Art. 49 VwVG).
3.
3.1 Nach Art. 85 Abs. 7 AuG können Ehegatten und ledige Kinder un-
ter 18 Jahren namentlich von vorläufig aufgenommenen Personen
frühestens drei Jahre nach Anordnung der vorläufigen Aufnahme
nachgezogen und in diese eingeschlossen werden, wenn sie mit
diesen zusammen wohnen, eine bedarfsgerechte Wohnung vorhanden
ist und die Familie nicht auf Sozialhilfe angewiesen ist. Sind die zeit-
lichen Voraussetzungen für den Familiennachzug nach Art. 85 Abs. 7
AuG erfüllt, muss das Gesuch um Einbezug in die vorläufige Auf-
nahme innerhalb von fünf Jahren eingereicht werden (Art. 75 Abs. 3
Satz 1 der Verordnung vom 24. Oktober 2007 über Zulassung, Auf-
enthalt und Erwerbstätigkeit [VZAE, SR 142.201]).
3.2 Die Vorinstanz hielt in der angefochtenen Verfügung fest, die zeit-
lichen Voraussetzungen von Art. 85 Abs. 7 AuG seien vorliegend nicht
gegeben, da die Eltern von E_______ erst seit dem 10. März 2009 in
der Schweiz vorläufig aufgenommen seien. Bei dieser Sachlage
könnten daher die Fragen, ob eine bedarfsgerechte Wohnung
vorhanden und die Familie nicht auf Sozialhilfe angewiesen sei,
offengelassen wer-den.
Seite 4
D-7594/2009
Im Weiteren sei nicht ersichtlich, inwiefern sich, wie von der Rechts-
vertretung geltend gemacht, ein entsprechender Anspruch aus
Artikel 8 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutz der
Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK, SR 0.101) ergebe. Die
Eltern von E______ befänden sich erst seit etwas mehr als fünfeinhalb
beziehungsweise sechseinhalb Jahren und erst seit dem 10. März
2009 als vorläufig Aufgenommene in der Schweiz, weshalb diese
zurzeit nicht über eine hinreichend klar gefestigte Anwesenheit
verfügten, die den Schutzbereich des Privat- und Familienlebens von
Art. 8 EMRK berühre.
Nichts anderes ergebe sich aus den von der Rechtsvertretung im Hin-
blick auf den Sohn E______ angerufenen Garantien der UNO-
Kinderrechtskonvention. Nach der Rechtsprechung ergebe sich aus
dieser weder für das Kind noch für dessen Eltern ein durchsetzbarer
Anspruch auf Familienzusammenführung. Das Recht der Staaten, ihre
Einwanderungsgesetze autonom zu gestalten, werde dadurch nicht
beschränkt; zudem habe die Schweiz einen Vorbehalt zu Art. 10 Abs. 1
der UNO-Menschenrechtskonvention angebracht (vgl. BGE 126 II 377
E. 5d S. 391f; 124 II 361 E. 3b S. 367).
3.3
3.3.1 In der Beschwerde wird unter anderem geltend gemacht, hin-
sichtlich der in Art. 85 Abs. 7 AuG festgehaltenen Bestimmung,
wonach Ehegatten und ledige Kinder unter 18 Jahren von vorläufig
aufgenommenen Personen frühestens drei Jahre nach Anordnung der
vorläufigen Aufnahme nachgezogen und in diese eingeschlossen wer-
den könnten, liege ein Versehen des Gesetzgebers vor.
Das AuG sei darauf ausgerichtet, einen möglichst rasch zu erfolgen-
den Familiennachzug zu bewirken, weshalb es abgesehen von der
nach Art. 85 Abs. 7 AuG geltenden keine anderen Mindestfristen, son-
dern vielmehr Höchstfristen, innerhalb derer ein Familiennachzug er-
folgen müsse, enthalte. So werde in Art. 47 Abs. 1 AuG von Auslän-
dern mit Niederlassungs- oder Aufenthaltsbewilligung - im Interesse ei -
ner erleichterten Integration - ein allfälliger Nachzug von Familien-
angehörigen innert zwölf Monaten gefordert. Es sei nicht einsehbar,
weshalb der Gesetzgeber ausgerechnet im Bereich der vorläufigen
Aufnahme den im Interesse einer erleichterten Integration geltenden
Grundsatz eines möglichst rasch zu erfolgenden Familiennachzugs
hätte durchbrechen sollen.
Seite 5
D-7594/2009
3.3.2 Im Weiteren werde in der Literatur zum Migrationsrecht zu
Recht darauf hingewiesen, dass die in Art. 85 Abs. 7 AuG gesetzlich
geregelte Wartefrist aus verfassungs- und völkerrechtlicher Sicht
problematisch sei (vgl. PETER BOLZLI, in MARC SPESCHA/HANSPETER
THÜR/ANDREAS ZÜND/PETER BOLZLI, Kommentar Migrationsrecht, Zürich
2008, N 12 zu Art. 85 Abs. 7 AuG). Im Unterschied zu Personen mit
einer Aufenthaltsbewilligung seien die vorläufig Aufgenommenen un-
freiwillig von ihren Familienangehörigen getrennt worden und könnten
aufgrund der Gefährdungssituation, die zur Erteilung der vorläufigen
Aufnahme geführt habe, nicht in ihren Heimatstaat zur Familie zurück-
kehren (vgl. BOLZLI, a.a.O., N 12 zu Art. 85 Abs. 7 AuG). Der Situation
der vorläufig aufgenommenen Personen sei daher durch eine ver-
fassungs- und völkerrechtskonforme Auslegung der gesetzlichen
Nachzugskriterien gerecht zu werden. Im Einzelfall, insbesondere
nach langjähriger Abwesenheit, müsse ein Nachzugsgesuch sogar
unmittelbar gestützt auf Art. 8 EMRK gutgeheissen werden (vgl. BOLZLI,
a.a.O., N 13 zu Art. 85 Abs. 7 AuG).
3.3.3 Schliesslich werde in der Lehre die Auffassung vertreten, für
den Beginn dieses Fristenlaufs dürfe nicht auf die Rechtskraft der An-
ordnung der vorläufigen Aufnahme beziehungsweise der zugrunde lie-
genden Wegweisungsverfügung abgestellt werden; fristauslösend wir-
ken sollte vielmehr die erstinstanzliche Anordnung der vorläufigen Auf-
nahme, unbesehen davon, ob der betreffende Entscheid im Asylpunkt
angefochten werde; bei, wie vorliegend, erst zweitinstanzlicher An-
erkennung der vorläufigen Aufnahme sei als Referenzzeitpunkt für den
Beginn der Wartefrist das Datum des zu Unrecht die vorläufige Auf-
nahme ablehnenden erstinstanzlichen Entscheids zu erachten (vgl.
BOLZLI, a.a.O., N 14 zu Art. 85 Abs. 7 AuG).
Dieser Auffassung folgend, sei vorliegend die nach Art. 85 Abs. 7
AsylG geltende dreijährige Wartefrist im Zeitpunkt der Einreichung des
Gesuches um Einbezug in die vorläufige Aufnahme abgelaufen und
damit die entsprechenden zeitlichen Erfordernisse erfüllt gewesen.
3.3.4 Auch unmittelbar gestützt auf Art. 8 EMRK ergebe sich vor-
liegend angesichts des bald einmal sieben- beziehungsweise mehr als
fünfeinhalbjährigen Aufenthalts der Beschwerdeführenden in der
Schweiz ein Anspruch auf Nachzug des in der Türkei verbliebenen
Sohnes. Insbesondere sei nicht von einer Änderung der Umstände,
welche zur vorläufigen Aufnahme geführt hätten - insbesondere die
Seite 6
D-7594/2009
sprachliche Behinderung von F.______ - auszugehen, weshalb ein
dauerhafter Verbleib der Beschwerdeführenden in der Schweiz
absehbar sei; dies bedeute auch, dass die Eltern nur in der Schweiz
mit ihrem Sohn F.______ zusammen leben könnten, weshalb ein
Nachzug des in der Türkei lebenden Sohnes E______ unter dem
Aspekt von Art. 8 EMRK notwendig erscheine.
3.3.5 Im Weiteren sei bei der Beurteilung des Anspruchs aus
Art. 8 EMRK das Übereinkommen vom 20. November 1989 über die
Rechte des Kindes (KRK, SR 0.107) mit zu berücksichtigen. In Art. 3
Abs. 1 KRK werde festgehalten, dass das Kindeswohl vorrangig be-
rücksichtigt werden müsse; es sei einsehbar, dass der Sohn E______
bei seinen Eltern “am besten aufgehoben“ sei. Diese Einschätzung
werde durch die Bestimmung von Art. 9 Abs. 1 KRK, wonach ein Kind
nicht gegen den Willen der Eltern von diesen getrennt leben müsse,
bestätigt. Schliesslich siehe Art. 10 Abs. 1 KRK vor, dass Gesuche wie
das vorliegende wohlwollend, human und beschleunigt zu behandeln
seien. Diese Vorschrift werde verletzt, wenn man die nach Art. 85
Abs. 7 AuG geltende dreijährige Wartefrist erst ab dem Zeitpunkt der
Anordnung der vorläufigen Aufnahme zu zählen beginne. Schliesslich
schreibe Art. 12 KRK die persönliche Anhörung des Kindes vor, in -
dessen habe es das BFM vorliegend versäumt, E______ vor
Ablehnung des Gesuches - unter Umständen über die Schweizer
Vertretung oder die lokale Vormundschaftsbehörde - anhören zu
lassen, weshalb die angefochtene Verfügung bereits aus diesem
Grund aufzuheben sei.
3.4
3.4.1 Aus dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 5. März
2009 (D-4258/2006 und D-6822/2006) ist ersichtlich, dass die Vor-
bringen der Beschwerdeführerin, nach Ausreise des Beschwerde-
führers im April 2003 von Unbekannten, welche sich nach dem Ver-
bleib ihres Ehemannes erkundigt hätten, geschlagen worden und aus
Furcht vor weiteren Behelligungen ausgereist zu sein, als nicht glaub-
haft erachtet wurden.
Im Weiteren wurden die Asylgesuche der Beschwerdeführenden
mangels begründeter Furcht vor künftiger Verfolgung im Sinne von
Art. 3 AsylG abgewiesen. Es ist daher festzustellen, dass die Be-
schwerdeführenden nicht aufgrund einer im Heimatstaat vorliegenden
Gefährdungssituation ausgereist sind. Vor diesem Hintergrund sind
Seite 7
D-7594/2009
auch die realitätsfremden Angaben der Beschwerdeführerin, bei ihrer
Ausreise im April 2004 habe sie ihren zweiten Sohn E______ nicht
mitnehmen können, weil ihr der Schlepper gesagt habe, er könne nur
drei Personen mitnehmen und ausser ihr und ihren Söhnen habe
bereits eine andere Person mitreisen wollen (vgl. BFM-Akten B2, S. 6),
als nicht glaubhaft zu erachten, zumal die Angaben der Beschwerde-
führerin zur Person des Schleppers und im allgemeinen zu ihren
Reiseumständen auffallend unbestimmt ausgefallen sind (vgl. B2, S. 5,
7); unabhängig von der Frage der Glaubhaftigkeit stellt die Weigerung
des Schleppers, ihre beiden Söhne mitzunehmen, keinen Grund dar,
ihren Sohn E______ zwingend im Heimatstaat zurücklassen zu
müssen. Es ist somit festzustellen, dass die Beschwerdeführerin bei
ihrer Ausreise freiwillig ihren Sohn E______ bei ihren Eltern
zurückliess.
3.4.2 Die Feststellung, dass die Trennung der Beschwerdeführenden
von ihrem gemeinsamen Sohn E______ freiwillig erfolgte, ist we-
sentlich für die Beurteilung, inwiefern vorliegend Art. 8 EMRK zur An-
wendung gelangt. Ebenso ist in diesem Zusammenhang zu berück-
sichtigen, dass, wie bereits festgestellt, keine Gefährdungssituation im
Sinne von Art. 3 AsylG oder Art. 3 EMRK vorliegt, wurde doch die vor-
läufige Aufnahme der Beschwerdeführenden aus medizinischen Grün-
den und damit wegen Unzumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs an-
geordnet.
Dem Familienschutz, wie er in Art. 8 EMRK gewährleistet wird, ist zwar
beim Entscheid, ob Angehörigen von vorläufig Aufgenommenen die
Einreise erlaubt werden kann und sie ebenfalls vorläufig aufzunehmen
sind, Rechnung zu tragen (vgl. BGE 126 II 335, E. 3.b, S. 343), in-
dessen gelten die genannten Schutzbestimmungen nicht absolut. Aus
Art. 8 EMRK kann insbesondere kein grundsätzlicher Anspruch auf
eine Einreise- oder Aufenthaltsbewilligung am Aufenthaltsort eines
Familienmitglieds abgeleitet werden (vgl. BGE 122 II 289 und 385
E. 4.b). Art. 8 EMRK verpflichtet indessen die Vertragsstaaten unter
gewissen Umständen, eine Einreise- beziehungsweise Aufenthalts-
erlaubnis zu gewähren. Dies ist der Fall, wenn die Familienvereinigung
im Vertragsstaat die einzige Möglichkeit darstellt, faktisch ein
Familienleben zu pflegen, und wenn die Trennung nicht überwiegend
selbstverschuldet war (vgl. Entscheidungen und Mitteilungen der
Schweizerischen Asylrekurskommission [EMARK] 2006 Nr. 7, mit Hin-
Seite 8
D-7594/2009
weisen). Vorliegend sind diese Voraussetzungen, wie vorstehend aus-
geführt, nicht gegeben.
3.4.3 Was die in der Beschwerde erwähnten Vorbehalte in der Litera-
tur gegenüber der gesetzlich geregelten Wartefrist von Art. 85 Abs. 7
AuG aus verfassungs- und völkerrechtlicher Hinsicht betrifft (vgl. PETER
BOLZLI, in MARC SPESCHA/HANSPETER THÜR/ANDREAS ZÜND/PETER BOLZLI,
Kommentar Migrationsrecht, Zürich 2008, N 12 zu Art. 85 Abs. 7 AuG),
ist festzustellen, dass sich diese auf vorläufig Aufgenommene be-
ziehen, welche im Unterschied zu Personen mit einer Aufenthalts-
bewilligung unfreiwillig von ihren Familienangehörigen getrennt worden
sind und aufgrund der Gefährdungssituation, die zur Erteilung der vor-
läufigen Aufnahme geführt habe, nicht in ihren Heimatstaat zur Familie
zurückkehren können (vgl. BOLZLI, a.a.O., N 12 zu Art. 85 Abs. 7 AuG).
Für diese, so wird gefordert, sei im Einzelfall, insbesondere nach lang-
jähriger Anwesenheit, ein Nachzugsgesuch gar direkt gestützt auf
Art. 8 EMRK gutzuheissen. Wie erwähnt, sind die Beschwerde-
führenden nicht unfreiwillig von ihrem in der Türkei verbliebenen Sohn
E______ getrennt worden und eine Gefährdungssituation im Sinne
von Art. 3 AsylG oder Art. 3 EMRK liegt nicht vor, weshalb sie nicht
zum genannten Personenkreis gehören.
3.4.4 Im Weiteren wird in der Beschwerde darauf hingewiesen, in der
Lehre werde die Auffassung vertreten, für den Beginn des Fristenlaufs
dürfe nicht auf die Rechtskraft der Anordnung der vorläufigen Auf-
nahme beziehungsweise der zugrunde liegenden Wegweisungsver-
fügung abgestellt werden; fristauslösend wirken sollte vielmehr die
erstinstanzliche Anordnung der vorläufigen Aufnahme, unbesehen
davon, ob der betreffende Entscheid im Asylpunkt angefochten werde;
bei, wie vorliegend, erst zweitinstanzlicher Anerkennung der vor-
läufigen Aufnahme sei als Referenzzeitpunkt für den Beginn der
Wartefrist das Datum des zu Unrecht die vorläufige Aufnahme ab-
lehnenden erstinstanzlichen Entscheids zu erachten (vgl. BOLZLI,
a.a.O., N 14 zu Art. 85 Abs. 7 AuG).
Dieser Auffassung kann auf aufgrund des klaren Wortlautes von
Art. 85 Abs. 7 AuG, an den die rechtsanwendenden Behörden ge-
bunden sind, nicht gefolgt werden, wird doch in Art. 85 Abs. 7 AuG in
eindeutiger Weise festgehalten, Ehegatten und ledige Kinder unter 18
Jahren von vorläufig aufgenommenen Personen könnten frühestens
drei Jahre nach Anordnung der vorläufigen Aufnahme nachgezogen
Seite 9
D-7594/2009
werden. Aber auch wenn man der genannten Auffassung folgen sollte,
ist darauf hinzuweisen, dass die Gründe, welche schliesslich zur An-
nahme der Unzumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs geführt haben -
die Betreuung des sprachlich behinderten Sohnes F.______. in
Deutsch als wesentliche Voraussetzung für eine angemessene
Behandlung - im Zeitpunkt der ablehnenden Entscheide des BFM vom
18. Juni 2003 beziehungsweise 3. Mai 2004 noch gar nicht vorlagen,
weshalb die Voraussetzungen für die Anordnung einer vorläufigen
Aufnahme zu jenem Zeitpunkt ohnehin nicht gegeben gewesen wären.
3.4.5 Im Weiteren wird geltend gemacht, bei der Beurteilung des
Anspruchs aus Art. 8 EMRK sei das Übereinkommen vom
20. November 1989 über die Rechte des Kindes (KRK, SR 0.107) mit
zu berücksichtigen. Zum Einen halte die Bestimmung von Art. 9 Abs. 1
KRK fest, dass ein Kind nicht gegen den Willen der Eltern von diesen
getrennt leben müsse. Zum Anderen siehe Art. 10 Abs. 1 KRK vor,
dass Gesuche wie das vorliegende wohlwollend, human und be-
schleunigt zu behandeln seien. Diese Vorschrift werde verletzt, wenn
man die nach Art. 85 Abs. 7 AuG geltende dreijährige Wartefrist erst
ab dem Zeitpunkt der Anordnung der vorläufigen Aufnahme zu zählen
beginne. Schliesslich schreibe Art. 12 KRK die persönliche Anhörung
des Kindes vor, indessen habe es das BFM vorliegend versäumt,
E_____ vor Ablehnung des Gesuches - unter Umständen über die
Schweizer Vertretung oder die lokale Vormundschaftsbehörde -
anhören zu lassen, weshalb die angefochtene Verfügung bereits aus
diesem Grund aufzuheben sei.
Hierzu ist festzuhalten, dass aus Art. 9 und 10 des Abkommens weder
ein Kind noch dessen Eltern einen gerichtlich durchsetzbaren An-
spruch auf Familienzusammenführung ableiten können (vgl. BGE 124
II 361 E. 3b S. 367). Im Weiteren ist darauf hinzuweisen, dass vor-
liegend der in der Türkei verbliebene E______ - wie bereits erwähnt -
nicht gegen den Willen seiner Eltern von diesen getrennt gelebt hat.
Insofern in der Beschwerde sinngemäss geltend gemacht wird, die na-
tionale Gesetzgebung sei im Lichte der UNO-Kinderrechtskonvention
auszulegen und anzuwenden, dass Anträge auf Familienzusammen-
führung im Rahmen der Gesetzgebung wohlwollend, human und be-
schleunigt zu bearbeiten seien, ist darauf hinzuweisen, dass ein sol -
cher Rechtsgrundsatz eine Bewilligungsverweigerung nicht von vorn-
herein ausschliesst und vielmehr die gesamten Umstände des Einzel-
Seite 10
D-7594/2009
falls, die im Rahmen der Anwendung der einschlägigen Rechtsnormen
angemessen und fallbezogen abgewogen werden müssen, ent-
scheidend sind (vgl. BGE 124 II 361). Vorliegend vermögen die Be-
schwerdeführenden nicht zu belegen, und es ist auch nicht ersichtlich,
weshalb in ihrem Fall gegen ein entsprechendes Prinzip verstossen
worden sein soll.
Schliesslich ist auch die Rüge der Verletzung von Art. 12 KRK un-
begründet. Zwar ist Art. 12 KRK, der die Anhörung des Kindes als
Persönlichkeitsrecht des Kindes ausgestaltet, unmittelbar anwendbar
(BGE 124 III 90 E. 3.a), doch muss die Anhörung nicht notwendiger-
weise in jedem Fall mündlich erfolgen, sondern es kann genügen,
wenn der Standpunkt des Kindes sonstwie in tauglicher Weise, zum
Beispiel durch eine Eingabe seines Vertreters, Eingang in das Ver-
fahren gefunden hat (BGE 124 II 361 E 3.c S. 368 mit Hinweisen). Vor-
liegend hatten es die Eltern beziehungsweise deren Rechtsvertreter in
der Hand, in seinen Eingaben auch den Standpunkt und die Inter -
essen des Sohnes E______ darzulegen; seiner persönlichen
Anhörung bedurfte es dazu nicht.
3.5 Zusammenfassend ist festzustellen, dass die zeitlichen Voraus-
setzungen von Art. 85 Abs. 7 AuG vorliegend nicht gegeben sind. Bei
dieser Sachlage muss nicht abschliessend beurteilt werden, ob eine
bedarfsgerechte Wohnung vorhanden und die Familie nicht auf
Sozialhilfe angewiesen ist. Das BFM hat zu Recht das Gesuch der
Beschwerdeführenden um Familiennachzug ihres Sohnes E_____ und
dessen Einbezug in die vorläufige Aufnahme abgelehnt.
4.
Aus diesen Erwägungen ergibt sich, dass die angefochtene Verfügung
Bundesrecht nicht verletzt, den rechtserheblichen Sachverhalt richtig
und vollständig feststellt und angemessen ist (Art. 112 Abs. 1 AuG
i.V.m. Art. 49 VwVG). Die Beschwerde ist daher abzuweisen.
5.
5.1 Nachdem das Bundesverwaltungsgericht mit Zwischenverfügung
vom 18. Dezember 2009 das Gesuch um Gewährung der unentgelt -
lichen Rechtspflege gutgeheissen hat und weiterhin von der Bedürftig-
keit der Beschwerdeführenden auszugehen ist, sind keine Verfahrens-
kosten zu erheben.
Seite 11
D-7594/2009
5.2. Im Weiteren wurde mit Zwischenverfügung vom 18. Dezember
2009 der Anwalt der Beschwerdeführenden als deren amtlicher
Rechtsbeistand eingesetzt (Art. 65 Abs. 1 und 2 VwVG). Das Honorar
der amtlichen Vertretung ist unabhängig vom Ausgang des Verfahrens
festzusetzen und vom Bundesverwaltungsgericht dem Rechtsvertreter
persönlich zu entrichten.
Die Kostennote der Rechtsvertretung vom 23. April 2010, welche einen
Arbeitsaufwand von 4 ½ Stunden zu einem Stundenansatz von
Fr. 200.-- sowie Spesen von Fr. 49.85 ausweist, wird als angemessen
erachtet. Die Parteientschädigung zulasten der Vorinstanz ist gesamt-
haft auf Fr. 1030.-- festzulegen (inklusive MWSt und Spesen).
(Dispositiv nächste Seite)
Seite 12
D-7594/2009
Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
2.
Es werden keine Verfahrenskosten erhoben.
3.
Das Bundesverwaltungsgericht entrichtet dem als amtlicher Rechts-
beistand eingesetzten Anwalt ein Honorar von Fr. 1030.--.
4.
Dieses Urteil geht an:
- den Rechtsvertreter der Beschwerdeführenden (Einschreiben; Bei-
lage: Formular Zahladresse)
- das BFM, Abteilung Aufenthalt, mit den Akten Ref.-Nr. N______
(per Kurier; in Kopie)
- (...)
Der vorsitzende Richter: Der Gerichtsschreiber:
Bendicht Tellenbach Daniel Merkli
Versand:
Seite 13