D-6512/2010 - Abteilung IV - Asyl und Wegweisung - Asyl und Wegweisung; Verfügung des BFM vom 13. Aug...
Karar Dilini Çevir:
D-6512/2010 - Abteilung IV - Asyl und Wegweisung - Asyl und Wegweisung; Verfügung des BFM vom 13. Aug...
Bundesverwaltungsgericht
Tribunal administratif fédéral
Tribunale amministrativo federale
Tribunal administrativ federal
Abteilung IV
D-6512/2010 / les
Urteil vom 20. Juni 2011
Besetzung Richter Fulvio Haefeli (Vorsitz),
Richter Bendicht Tellenbach, Richter Robert Galliker,
Gerichtsschreiber Gert Winter.
Parteien A._______, geboren (…),
alias B._______, geboren (…),
Pakistan,
vertreten durch lic. iur. HSG Benedikt Schneider-Koch,
Rechtsanwalt, (…),
Beschwerdeführer,
gegen
Bundesamt für Migration (BFM),
Quellenweg 6, 3003 Bern,
Vorinstanz.
Gegenstand Asyl und Wegweisung; Verfügung des BFM
vom 13. August 2010 / N _______.
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Sachverhalt:
A.
A.a. Der Vater des Beschwerdeführers, ein pakistanischer
Staatsangehöriger, reichte am 23. April 2003 in der Schweiz ein
Asylgesuch ein. Nach einer Botschaftsanfrage lehnte das BFM am 1.
September 2005 dessen Gesuch ab und verfügte die Wegweisung. Mit
Urteil vom 20. Oktober 2009 lehnte das Bundesverwaltungsgericht eine
Beschwerde des Vaters ab.
A.b. Am 30. Juli 2007 reichte der Beschwerdeführer mit Mutter und
Schwester ein Asylgesuch bei der Schweizerischen Vertretung in
C._______ ein. Dieses wurde am 10. September 2007 abgelehnt und die
Einreise in die Schweiz verweigert. Die darauf eingereichte Beschwerde
wurde am 22. Mai 2008 abgewiesen.
A.c. Eigenen Angaben zufolge verliess der Beschwerdeführer den
Heimatstaat am 25. April 2010 auf dem Luftweg und gelangte am 17. Mai
2010 unkontrolliert in die Schweiz, wo er gleichentags im Empfangs- und
Verfahrenszentrum (EVZ) D._______ ein weiteres Asylgesuch stellte.
Anlässlich der Befragung vom 28. Mai und 4. Juni 2010 zur Person (BzP)
im EVZ D._______ sowie anlässlich der Direktanhörung vom 21. Juni
2010 durch das BFM machte der Beschwerdeführer zur Begründung
seines Asylgesuchs im Wesentlichen geltend, sein Bruder sei anlässlich
eines Disputs wegen seiner Zugehörigkeit zur schiitischen
Glaubensgemeinschaft ermordet worden. Darüber hinaus habe der
gleiche Personenkreis aus Rache seinen Vater für zwei Schiessereien mit
Todesfolge verantwortlich gemacht. Schliesslich hätten die - bestochenen
– Behörden die Mörder seines Bruders gegen Leistung einer Kaution auf
freien Fuss gesetzt. Trotz aller Bemühungen sei es seinem Vater nicht
gelungen, die Mörder einer gerechten Bestrafung zuzuführen. Seine
Unschuld habe er nicht beweisen können, weil er sich zu seiner eigenen
Sicherheit habe verstecken müssen. Dementsprechend sei sein Vater in
der Folge steckbrieflich gesucht worden und schliesslich ausgereist. Im
Jahre 2007 sei der Beschwerdeführer, wie früher auch schon, von
Polizisten in der Schule abgeholt und misshandelt worden. Die Behörden
hätten den Aufenthaltsort seines Vaters in Erfahrung bringen wollen.
Nach zweitägigem Aufenthalt in einer Zelle – ohne Essen und Getränke –
hätten ihn die Behörden freigelassen, ihn bei dieser Gelegenheit aber
auch gleich mit dem Tod bedroht, falls er das nächste Mal nicht mit
seinem Vater komme. Ende 2007 sei die Familie von Sunniten im Haus
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angegriffen worden. Sie hätten dem Beschwerdeführer mit dem gleichen
Schicksal, das seinem Bruder zuteil geworden sei, nämlich dem Tod,
gedroht. Trotz Anzeige des Vorfalls sei die Polizei untätig geblieben. In
der Folge habe die Familie E._______ verlassen. Am 9. April 2010 sei er
mit einem Freund unterwegs gewesen. Dieser sei von Leuten auf einem
Motorrad, den Mördern seines Bruders, erschossen worden, weshalb er
davon ausgehe, der Anschlag habe in Wirklichkeit ihm gegolten. Am 25.
April 2010 habe er deswegen Pakistan verlassen.
A.d. Zur Untermauerung seiner Vorbringen reichte der Beschwerdeführer
einen Polizeirapport, der die Tötung des Freundes dokumentiere, sowie
einen Zeitungsbericht über den Vorfall in der Schule zu den Akten.
B.
Mit Verfügung vom 13. August 2010 – eröffnet am 17. August 2010 –
stellte das BFM fest, der Beschwerdeführer erfülle die
Flüchtlingseigenschaft nicht, und lehnte das Asylgesuch ab. Gleichzeitig
ordnete es die Wegweisung aus der Schweiz und den Vollzug an. Zur
Begründung hielt die Vorinstanz im Wesentlichen fest, es sei
grundsätzlich nicht auszuschliessen, dass die Polizei den
Beschwerdeführer befrage, wenn sie seinen Vater mit zwei Morden in
Verbindung bringe. Indessen seien erhebliche Ungereimtheiten in den
Vorbringen des Beschwerdeführers zu verzeichnen. So habe die im
Verfahren des Vaters durchgeführte Botschaftsabklärung ergeben, dass
der Beschwerdeführer Sunnit sei. Das BFM und das
Bundesverwaltungsgericht hätten festgestellt, dass es den
Nachstellungen der verfeindeten Personen an einem asylrelevanten
Verfolgungsmotiv ermangele, da religiöse Gründe ausgeschlossen
werden könnten und die Indizien der Botschaftsabklärung auf kriminelle
Motive hindeuteten. Zudem könne sich der Beschwerdeführer andernfalls
auf den Schutz der heimischen Behörden verlassen. Die vom
Beschwerdeführer dargelegte Untätigkeit der Behörden im Gefolge einer
Anzeige wegen eines bewaffneten Angriffs sei pauschal und
realitätsfremd. Untermauert würden die Zweifel an den Vorbringen des
Beschwerdeführers durch unfundierte, oberflächliche und nicht plausible
Schilderungen der einzelnen Vorfälle. Aufgefordert, die Tötung seines
Freundes, den Vorfall in der Schule mit anschliessendem
Polizeigewahrsam und den Angriff auf das Haus zu beschreiben, habe
sich der Beschwerdeführer in Allgemeinplätze geflüchtet und nicht durch
detaillierte und realitätsnahe Schilderungen zu überzeugen vermocht. Die
eingereichten Beweismittel vermöchten diese Sachlage nicht
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umzustossen. Beweismitteln aus Pakistan sei nämlich mit Vorsicht zu
begegnen, selbst wenn sie offiziellen Charakter aufzeigen sollten.
Derartige Dokumente seien mannigfaltig gefälscht erwerbbar. Die
schlechte Stempelqualität und die Artikulierung des Polizeirapports
deuteten auf eine Fälschung hin. Dementsprechend hielten die
Vorbringen des Beschwerdeführers den Anforderungen an die
Glaubhaftigkeit gemäss Art. 7 des Asylgesetzes vom 26. Juni 1998
(AsylG, SR 142.31) nicht stand, weshalb ihre Asylrelevanz nicht geprüft
werden müsse. Schliesslich sei der Vollzug der Wegweisung nach
Pakistan zulässig, zumutbar und möglich.
C.
C.a. Mit Beschwerde vom 13. September 2010 liess der
Beschwerdeführer die Aufhebung der angefochtenen Verfügung, die
Feststellung der Flüchtlingseigenschaft und die Gewährung von Asyl
beantragen. Der Beschwerde sei die aufschiebende Wirkung zu
gewähren, und es sei in jedem Fall von einer Wegweisung abzusehen.
Eventualiter sei die vorläufige Aufnahme des Beschwerdeführers in der
Schweiz anzuordnen. Eventualiter sei die angefochtene Verfügung zu
kassieren und zu neuem Entscheid an die Vorinstanz zurückzuweisen. In
jedem Fall seien die beim Migrationsamt des Kantons F._______ und
beim BFM eingereichten Beweismittel zu den Akten zu nehmen.
Schliesslich liess der Beschwerdeführer in prozessualer Hinsicht die
Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege unter Beigabe eines
Anwalts beantragen.
Auf die Begründung wird, soweit wesentlich, in den nachfolgenden
Erwägungen eingegangen.
C.b. Zur Untermauerung seiner Vorbringen liess der Beschwerdeführer
die nachfolgend aufgeführten Beweismittel zu den Akten reichen: ein
Schreiben vom 4. August 2010 an den Migrationsdienst des Kantons
F._______, ein Schreiben vom 9. August 2010 des Migrationsdienstes
des Kantons F._______, die Eingabe vom 30. August 2010 des
Beschwerdeführers an das BFM, das Antwortschreiben vom 8.
September 2010 des BFM, diverse fremdsprachige Dokumente, jeweils
mit einer Übersetzung auf Englisch, nämlich ein Schreiben von
G._______, einen Zeitungsartikel, ein Schreiben von H._______, einen
weiteren Zeitungsartikel sowie einen First Information Report vom (…).
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D.
D.a. Mit Zwischenverfügung vom 23. September 2010 wies der damals
zuständige Instruktionsrichter des Bundesverwaltungsgerichts die
Gesuche um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege im Sinne von
Art. 65 Abs. 1 und 2 des Bundesgesetzes vom 20. Dezember 1968 über
das Verwaltungsverfahren (VwVG, SR 172.021) ab und forderte den
Beschwerdeführer auf, bis am 11. Oktober 2010 einen Kostenvorschuss
von Fr. 600.— zu Gunsten der Gerichtskasse zu überweisen.
D.b. Mit Eingabe vom 30. September 2010 liess der Beschwerdeführer
die Fotokopie seines Geburtsscheins zu den Akten reichen.
D.c. Der Beschwerdeführer leistete den einverlangten Kostenvorschuss
am 8. Oktober 2010.
Das Bundesverwaltungsgericht zieht in Erwägung:
1.
1.1. Gemäss Art. 31 des Verwaltungsgerichtsgesetzes vom 17. Juni 2005
(VGG, SR 173.32) beurteilt das Bundesverwaltungsgericht Beschwerden
gegen Verfügungen nach Art. 5 VwVG. Das BFM gehört zu den
Behörden nach Art. 33 VGG und ist daher eine Vorinstanz des
Bundesverwaltungsgerichts. Eine das Sachgebiet betreffende Ausnahme
im Sinne von Art. 32 VGG liegt nicht vor. Das Bundesverwaltungsgericht
ist daher zuständig für die Beurteilung der vorliegenden Beschwerde und
entscheidet auf dem Gebiet des Asyls endgültig, ausser bei Vorliegen
eines Auslieferungsersuchens des Staates, vor welchem die
beschwerdeführende Person Schutz sucht (Art. 105 AsylG; Art. 83 Bst. d
Ziff. 1 des Bundesgerichtsgesetzes vom 17. Juni 2005 [BGG,
SR 173.110]).
1.2. Das Verfahren richtet sich nach dem VwVG, dem VGG und dem
BGG, soweit das AsylG nichts anderes bestimmt (Art. 37 VGG und Art. 6
AsylG).
1.3. Die Beschwerde ist frist- und formgerecht eingereicht. Der
Beschwerdeführer hat am Verfahren vor der Vorinstanz teilgenommen, ist
durch die angefochtene Verfügung besonders berührt und hat ein
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schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung beziehungsweise
Änderung. Er ist daher zur Einreichung der Beschwerde legitimiert
(Art. 105 und Art. 108 Abs. 1 AsylG, Art. 48 Abs. 1 sowie Art. 52 VwVG).
Auf die Beschwerde ist einzutreten.
2.
Mit Beschwerde kann die Verletzung von Bundesrecht, die unrichtige
oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts und
die Unangemessenheit gerügt werden (Art. 106 Abs. 1 AsylG).
3.
Gestützt auf Art. 111a Abs. 1 AsylG wurde vorliegend auf die
Durchführung eines Schriftenwechsels verzichtet.
4.
4.1. Gemäss Art. 2 Abs. 1 AsylG gewährt die Schweiz Flüchtlingen
grundsätzlich Asyl. Flüchtlinge sind Personen, die in ihrem Heimatstaat
oder im Land, in dem sie zuletzt wohnten, wegen ihrer Rasse, Religion,
Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder
wegen ihrer politischen Anschauungen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt
sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu
werden (Art. 3 Abs. 1 AsylG). Als ernsthafte Nachteile gelten namentlich
die Gefährdung des Leibes, des Lebens oder der Freiheit sowie
Massnahmen, die einen unerträglichen psychischen Druck bewirken. Den
frauenspezifischen Fluchtgründen ist Rechnung zu tragen (Art. 3 AsylG).
4.2. Wer um Asyl nachsucht, muss die Flüchtlingseigenschaft
nachweisen oder zumindest glaubhaft machen. Diese ist glaubhaft
gemacht, wenn die Behörde ihr Vorhandensein mit überwiegender
Wahrscheinlichkeit für gegeben hält. Unglaubhaft sind insbesondere
Vorbringen, die in wesentlichen Punkten zu wenig begründet oder in sich
widersprüchlich sind, den Tatsachen nicht entsprechen oder massgeblich
auf gefälschte oder verfälschte Beweismittel abgestützt werden (Art. 7
AsylG).
5.
5.1. In seiner Beschwerdebegründung vom 13. September 2010 liess der
Beschwerdeführer im Wesentlichen geltend machen, sein Rechtsvertreter
habe mit Schreiben vom 4. August 2010 seine Vertretungsvollmacht
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sowie weitere Beweismittel eingereicht, dies in der Annahme, im
Zuweisungskanton würden weitere Befragungen stattfinden. Diese
Beweismittel habe die kantonale Behörde nicht ans BFM weitergeleitet,
weshalb der angefochtene Entscheid nicht dem Rechtsvertreter zugestellt
worden sei und die Beweismittel keinen Eingang in die Erwägungen der
angefochtenen Verfügung gefunden hätten. Indessen gelte eine Frist
nach Art. 21 VwVG als gewahrt, wenn die Partei rechtzeitig an eine
unzuständige Behörde gelangt. Weil die Beweismittel vor dem 13. August
2010 eingereicht worden seien, hätten sie somit in der angefochtenen
Verfügung berücksichtigt werden müssen. Dementsprechend habe der
Rechtsvertreter das BFM um Wiederaufnahme des Verfahrens aufgrund
von Art. 58 VwVG ersucht, allerdings ohne Erfolg. Im Hinblick auf die
Verkürzung des Instanzenzuges werde hiermit die Vorinstanz nochmals
ausdrücklich dazu aufgefordert, die Angelegenheit bis zur
Vernehmlassung auf der untersten Stufe in Wiedererwägung zu ziehen
und sowohl die Argumente gegen den Botschaftsbericht als auch die
Vorbringen in Beweisform unter Wahrnehmung der Beweisstrenge der
Glaubhaftmachung ernsthaft zu prüfen. Es treffe nämlich nicht zu, dass
der Beschwerdeführer Sunnite sei. Nach Auffassung des
Beschwerdeführers beruhe der Bericht der Botschaft auf bewusst
falschen Aussagen der Dorfbewohner, die sich anlässlich der Befragung
abgesprochen hätten. Die Vorinstanz stütze sich zu Unrecht auf einen –
gegen Bezahlung! – in Auftrag gegebenen Bericht der Botschaft, der nicht
eingesehen und daher nicht habe entkräftet werden können. Des
Weiteren werde bestritten, dass sich der Beschwerdeführer auf den
tatsächlichen Schutz der heimischen Behörden verlassen könne. Es treffe
auch nicht zu, dass er lediglich unfundierte, oberflächliche und nicht
plausible Schilderungen der einzelnen Vorfälle vorgebracht habe. Hinzu
kämen die zusätzlich aufgelegten und bisher noch nicht berücksichtigten
Beweismittel, welche die Vorbringen des Beschwerdeführers weiter
untermauerten und belegten, so insbesondere die Beschwerdebeilagen
7 – 11. Nehme man alle diese aufgelegten Beweise, worunter sich doch
immerhin mehrere Zeitungsartikel befänden, und beachte man die
Übereinstimmung mit den Aussagen des Beschwerdeführers, so
erscheine die Flüchtlingseigenschaft mit überwiegender
Wahrscheinlichkeit dargetan.
5.2.
5.2.1. Wie sich aus den vom Beschwerdeführer eingereichten
Beweismitteln ergibt, wurde ihm bezüglich der Dokumente, die sein
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Rechtsvertreter irrtümlich an das kantonale Migrationsamt verschickte,
keine Frist zur Einreichung angesetzt. Dementsprechend kann sich der
Beschwerdeführer nicht auf Art. 21 Abs. 2 VwVG berufen, bei dem es,
wie schon aus dem Randtitel ersichtlich ist, um die Einhaltung einer Frist
im Allgemeinen geht (vgl. URS PETER CAVELTI, in: CHRISTOPH AUER/MARKUS
MÜLLER/BENJAMIN SCHINDLER (Hrsg.), Kommentar zum Bundesgesetz über das
Verwaltungsverfahren (VwVG), Zürich/St. Gallen 2008, Art. 21 N 1 ff. S.
287). Nach dem Gesagten gelangten die Beweismittel zwar an eine
unzuständige Behörde, nicht aber rechtzeitig, weshalb sie für die
Entscheidfindung der Vorinstanz zu Recht ausser Betracht fielen. Mit der
Einreichung einer Beschwerde ging die Zuständigkeit im Übrigen nach
Art. 54 VwVG an die Beschwerdeinstanz, in casu das
Bundesverwaltungsgericht, über (Devolutiveffekt).
5.2.2. Die Abklärung der Zuständigkeit gehört zu den elementaren
Aufgaben eines Rechtsvertreters und ergibt sich in casu aus Art. 6a Abs.
1 AsylG. Es trifft zwar zu, dass der Beschwerdeführer durch die
Beurteilung der Beweismittel lediglich auf Beschwerdeebene eine
Verkürzung des Instanzenzuges zu beklagen hat. Dabei handelt es sich
jedoch um eine Folge, die sich aus der von ihm allein zu vertretenden
Wahl eines Rechtsvertreters ergibt (cura in eligendo), weshalb es keinen
Anlass gibt, den vorinstanzlichen Entscheid zu kassieren und die Sache
zu neuem Entscheid an die Vorinstanz zurückzuweisen.
5.3.
5.3.1. Wie den Erwägungen der Verfügung vom 10. September 2007 des
BFM zu entnehmen ist, wurde der vom Beschwerdeführer geltend
gemachte Sachverhalt teilweise bereits beurteilt und für asylrechtlich
unerheblich befunden. Diese Verfügung ist mit Urteil des
Bundesverwaltungsgerichts vom 22. Mai 2008 in Rechtskraft erwachsen.
Wie sich aus prozessualen Grundsätzen ergibt, kann die bereits beurteilte
Sachverhaltsdarstellung des Beschwerdeführers nicht erneut Gegenstand
einer materiellen Beurteilung im Rahmen eines zweiten Asylverfahrens
bilden (res iudicata; FRITZ GYGI, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl.,
Bern 1983, S. 322 f.; ALFRED KÖLZ/ISABELLE HÄNER, Verwaltungsverfahren und
Verwaltungsrechtspflege des Bundes, 2. Aufl., Zürich 1998, S. Rz. 715).
Dementsprechend geht es nachstehend grundsätzlich nur noch um die
Beurteilung der vom Beschwerdeführer für die Zeit nach dem Mai 2008
geltend gemachten Ereignisse.
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5.3.2. Wie sich aus den Akten ergibt, wurde dem Beschwerdeführer
anlässlich der Direktanhörung vom 21. Juni 2010 das rechtliche Gehör
zum wesentlichen Inhalt der Botschaftsabklärung gewährt, weshalb keine
Gehörsverletzung vorliegt (vgl. Art. 27 Abs. 1 und Art. 28 VwVG). In
diesem Zusammenhang möchte der Beschwerdeführer das
Abklärungsergebnis, wonach es sich bei ihm nicht um einen Schiiten,
sondern in Wirklichkeit um einen Sunniten handle, nicht gegen sich
geltend lassen, weil die Dorfbewohner bewusst falsche Aussagen
gemacht und sich abgesprochen hätten. Indessen ist nicht davon
auszugehen, dass die von der Botschaft beauftragte Person
unprofessionell vorgegangen wäre und die befragten Dorfbewohner
vorweg über den Kontext der Befragung orientiert oder gar gemeinsam
befragt hätte. Dementsprechend gibt es keinen begründeten Anlass, das
Abklärungsergebnis der Schweizerischen Vertretung in Zweifel zu ziehen,
zumal der Umstand, dass die pakistanischen Fachleute für ihren
Ermittlungsaufwand von der Schweizerische Eidgenossenschaft entlöhnt
wurden, der Wahrheitsfindung nicht entgegensteht. Indessen dürfen aus
dieser Konstellation in Bezug auf die Qualität der Botschaftsabklärungen
keine falschen Schlüsse gezogen werden. Wie demgegenüber bereits im
Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 22. Mai 2008 erwogen wurde,
gilt es im Rahmen der Beweiswürdigung zu berücksichtigen, dass in
Pakistan eine Vielfalt von vermeintlich amtlichen und nichtamtlichen
Dokumenten beliebigen Inhalts ohne Mühe gegen Bezahlung zu
erwerben sind (vgl. Entscheidungen und Mitteilungen der
Schweizerischen Asylrekurskommission [EMARK] 1996 Nr. 21 E. 4a
S. 210 f.). Dies ist vorliegendenfalls zunächst einmal bezüglich derjenigen
Beweismittel festzuhalten, die dem Beschwerdeführer die Zugehörigkeit
zur schiitischen Glaubensrichtung bestätigen. An dieser
Betrachtungsweise vermag weder die Teilnahme des Beschwerdeführers
an der einen oder anderen öffentlichen Versammlung der Schiiten noch
seine Kenntnis schiitischer Bräuche und Eigenheiten etwas zu ändern.
Nach dem Gesagten stehen die Vorbringen des Beschwerdeführers nicht
in einem Kontext religiös motivierter Verfolgung. Vielmehr drängt sich der
Eindruck auf, der Beschwerdeführer versuche, sich die durch die
Botschaftsabklärung erhärteten Tatsachen, welche indessen nicht ihn,
sondern seinen Vater (vgl. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts D-
4266/2006 vom 20. Oktober 2009) betreffen, zunutze zu machen, indem
er eine Anschlussverfolgung suggeriert. Indessen lassen Text und
Stempel des von ihm eingereichten Polizeirapports vom (…) – im
Vergleich mit als echt erkannten Polizeirapporten – nicht den Schluss zu,
dieses Dokument sei korrekt ausgestellt worden, weshalb es keine
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Grundlage für einen Indizienbeweis schafft. Darüber hinaus sind
wesentliche Vorbringen des Beschwerdeführers auch wirklichkeitsfremd
(B8/10 F43 – F45 S. 5, F62 – F64 S. 7) ausgefallen, weshalb die geltend
gemachte Verfolgungssituation nicht geglaubt werden kann.
5.4. Bei dieser Sachlage erübrigt es sich, auf weitere Vorbringen und
Beweismittel näher einzugehen. Zusammenfassend ist festzustellen,
dass beim Beschwerdeführer keine Verfolgung im Sinne von Art. 3 AsylG
vorliegt und er nicht als Flüchtling anerkannt werden kann. Mangels
erfüllter Flüchtlingseigenschaft ist ihm zu Recht das nachgesuchte Asyl
nicht gewährt worden.
6.
6.1. Lehnt das Bundesamt das Asylgesuch ab oder tritt es darauf nicht
ein, so verfügt es in der Regel die Wegweisung aus der Schweiz und
ordnet den Vollzug an; es berücksichtigt dabei den Grundsatz der Einheit
der Familie (Art. 44 Abs. 1 AsylG).
6.2. Der Beschwerdeführer verfügt weder über eine ausländerrechtliche
Aufenthaltsbewilligung noch über einen Anspruch auf Erteilung einer
solchen. Die Wegweisung wurde demnach zu Recht angeordnet (Art. 44
Abs. 1 AsylG; EMARK 2001 Nr. 21).
7.
7.1. Ist der Vollzug der Wegweisung nicht zulässig, nicht zumutbar oder
nicht möglich, so regelt das Bundesamt das Anwesenheitsverhältnis nach
den gesetzlichen Bestimmungen über die vorläufige Aufnahme von
Ausländern (Art. 44 Abs. 2 AsylG; Art. 83 Abs. 1 des Bundesgesetzes
vom 16. Dezember 2005 über die Ausländerinnen und Ausländer [AuG,
SR 142.20]).
Bezüglich der Geltendmachung von Wegweisungshindernissen gilt
gemäss ständiger Praxis des Bundesverwaltungsgerichts und seiner
Vorgängerorganisation ARK der gleiche Beweisstandard wie bei der
Flüchtlingseigenschaft, das heisst, sie sind zu beweisen, wenn der strikte
Beweis möglich ist, und andernfalls wenigstens glaubhaft zu machen (vgl.
WALTER STÖCKLI, Asyl, in: Uebersax/Rudin/Hugi Yar/Geiser [Hrsg.],
Ausländerrecht, 2. Aufl., Basel 2009, Rz. 11.148).
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7.2. Der Vollzug ist nicht zulässig, wenn völkerrechtliche Verpflichtungen
der Schweiz einer Weiterreise der Ausländerin oder des Ausländers in
den Heimat-, Herkunfts- oder einen Drittstaat entgegenstehen (Art. 83
Abs. 3 AuG).
So darf keine Person in irgendeiner Form zur Ausreise in ein Land
gezwungen werden, in dem ihr Leib, ihr Leben oder ihre Freiheit aus
einem Grund nach Art. 3 Abs. 1 AsylG gefährdet ist oder in dem sie
Gefahr läuft, zur Ausreise in ein solches Land gezwungen zu werden
(Art. 5 Abs. 1 AsylG; vgl. ebenso Art. 33 Abs. 1 des Abkommens vom
28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge [FK, SR 0.142.30]).
Gemäss Art. 25 Abs. 3 der Bundesverfassung der Schweizerischen
Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (BV, SR 101), Art. 3 des
Übereinkommens vom 10. Dezember 1984 gegen Folter und andere
grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe
(FoK, SR 0.105) und der Praxis zu Art. 3 der Konvention vom
4. November 1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten
(EMRK, SR 0.101) darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder
erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.
7.3. Die Vorinstanz wies in ihrer angefochtenen Verfügung zutreffend
darauf hin, dass das Prinzip des flüchtlingsrechtlichen Non-Refoulement
nur Personen schützt, die die Flüchtlingseigenschaft erfüllen. Da es dem
Beschwerdeführer nicht gelungen ist, eine asylrechtlich erhebliche
Gefährdung nachzuweisen oder glaubhaft zu machen, kann der in Art. 5
AsylG verankerte Grundsatz der Nichtrückschiebung im vorliegenden
Verfahren keine Anwendung finden. Eine Rückkehr des
Beschwerdeführers in den Heimatstaat ist demnach unter dem Aspekt
von Art. 5 AsylG rechtmässig.
Sodann ergeben sich weder aus den Aussagen des Beschwerdeführers
noch aus den Akten Anhaltspunkte dafür, dass er für den Fall einer
Ausschaffung in den Heimatstaat dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit
einer nach Art. 3 EMRK oder Art. 1 FoK verbotenen Strafe oder
Behandlung ausgesetzt wäre. Gemäss Praxis des Europäischen
Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) sowie jener des UN-Anti-
Folterausschusses müsste der Beschwerdeführer eine konkrete Gefahr
("real risk") nachweisen oder glaubhaft machen, dass ihm im Fall einer
Rückschiebung Folter oder unmenschliche Behandlung drohen würde
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(vgl. EGMR [Grosse Kammer], Saadi gegen Italien, Urteil vom
28. Februar 2008, Beschwerde Nr. 37201/06, §§ 124 – 127, mit weiteren
Hinweisen). Auch die allgemeine Menschenrechtssituation im
Heimatstaat lässt den Wegweisungsvollzug zum heutigen Zeitpunkt nicht
als unzulässig erscheinen. Nach dem Gesagten ist der Vollzug der
Wegweisung sowohl im Sinne der asyl- als auch der völkerrechtlichen
Bestimmungen zulässig.
7.4. Gemäss Art. 83 Abs. 4 AuG kann der Vollzug für Ausländerinnen
und Ausländer unzumutbar sein, wenn sie im Heimat- oder
Herkunftsstaat auf Grund von Situationen wie Krieg, Bürgerkrieg,
allgemeiner Gewalt und medizinischer Notlage konkret gefährdet sind.
Wird eine konkrete Gefährdung festgestellt, ist – unter Vorbehalt von
Art. 83 Abs. 7 AuG – die vorläufige Aufnahme zu gewähren.
7.5. In Pakistan herrscht zur Zeit weder Krieg, Bürgerkrieg noch liegt eine
Situation allgemeiner Gewalt vor. Zu prüfen ist indessen, ob anderweitige
Probleme des Beschwerdeführers allenfalls individuelle Gründe
darstellen, welche gegen die Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs
sprechen.
Es sind auch keine individuellen Gründe ersichtlich, welche die Rückkehr
des den Akten zufolge jungen und gesunden Beschwerdeführers als
unzumutbar erscheinen lassen würden. In den Akten finden sich keine
konkreten Anhaltspunkte dafür, dass er aus individuellen Gründen
wirtschaftlicher oder sozialer Natur in eine existenzbedrohende Situation
geraten würde. Vielmehr ist den Akten zu entnehmen, die Familie lebe in
guten wirtschaftlichen Verhältnissen (B1/13 Ziff. 8. S. 4). Ausserdem
verfügt er – wie seiner Bemerkung zu entnehmen ist, seine Mutter halte
sich bei einem Bruder oder anderen Verwandten auf (B1/13 Ziff. 12 S. 6)
– über ein ausreichendes soziales Netz.
Nach dem Gesagten erweist sich der Vollzug der Wegweisung auch als
zumutbar.
7.6. Schliesslich obliegt es dem Beschwerdeführer, sich bei der
zuständigen Vertretung des Heimatstaates die für eine Rückkehr
notwendigen Reisedokumente zu beschaffen (vgl. Art. 8 Abs. 4 AsylG
und dazu auch BVGE 2008/34 E. 12 S. 513 – 515), weshalb der Vollzug
der Wegweisung auch als möglich zu bezeichnen ist (Art. 83 Abs. 2
AuG).
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7.7. Zusammenfassend hat die Vorinstanz den Wegweisungsvollzug zu
Recht als zulässig, zumutbar und möglich erachtet. Nach dem Gesagten
fällt eine Anordnung der vorläufigen Aufnahme ausser Betracht (Art. 83
Abs. 1 – 4 AuG).
8.
Aus diesen Erwägungen ergibt sich, dass die angefochtene Verfügung
Bundesrecht nicht verletzt, den rechtserheblichen Sachverhalt richtig und
vollständig feststellt und angemessen ist (Art. 106 AsylG). Die
Beschwerde ist nach dem Gesagten abzuweisen.
9.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind die Kosten dem
Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 63 Abs. 1 VwVG), auf insgesamt
Fr. 600.— festzusetzen (Art. 1 – 3 des Reglements vom 21. Februar 2008
über die Kosten und Entschädigungen vor dem
Bundesverwaltungsgericht [VGKE, SR 173.320.2]) und mit dem am 8.
Oktober 2010 geleisteten Kostenvorschuss zu verrechnen.
(Dispositiv nächste Seite)
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Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
2.
Die Verfahrenskosten von Fr. 600.— werden dem Beschwerdeführer
auferlegt und mit dem am 8. Oktober 2010 in gleicher Höhe geleisteten
Kostenvorschuss verrechnet.
3.
Dieses Urteil geht an den Beschwerdeführer, das BFM und die
zuständige kantonale Behörde.
Der vorsitzende Richter: Der Gerichtsschreiber:
Fulvio Haefeli Gert Winter
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