D-5780/2006 - Abteilung IV - Asyl und Wegweisung - Vollzug
Karar Dilini Çevir:
D-5780/2006 - Abteilung IV - Asyl und Wegweisung - Vollzug
Abtei lung IV
D-5780/2006/dcl
{T 0/2}
U r t e i l v o m 1 5 . A p r i l 2 0 0 9
Richterin Nina Spälti Giannakitsas (Vorsitz),
Richter François Badoud, Richter Thomas Wespi,
Gerichtsschreiber Patrick Weber.
X._______, geboren _______,
Kosovo,
vertreten durch Edith Späti, _______,
Beschwerdeführerin,
gegen
Bundesamt für Migration (BFM),
Quellenweg 6, 3003 Bern,
Vorinstanz.
Vollzug der Wegweisung; Verfügung des BFM vom
16. Februar 2006 / N _______.
B u n d e s v e r w a l t u n g s g e r i c h t
T r i b u n a l a d m i n i s t r a t i f f é d é r a l
T r i b u n a l e a m m i n i s t r a t i v o f e d e r a l e
T r i b u n a l a d m i n i s t r a t i v f e d e r a l
Besetzung
Parteien
Gegenstand
D-5780/2006
Sachverhalt:
A.
Eigenen Angaben zufolge verliess die Beschwerdeführerin den Hei-
matstaat am 29. Dezember 2005 und gelangte am 5. Januar 2006 in
die Schweiz, wo sie gleichentags ein Asylgesuch stellte. Dazu wurde
sie am 10. Januar 2006 in _______ summarisch befragt. Am 19.
Januar 2006 erstellte die Fachstelle Lingua des Bundesamtes ein Gut-
achten. Gemäss dieser Expertise wurde die Beschwerdeführerin im
Kosovo im Milieu der albanischsprachigen Minderheiten sozialisiert.
Am 1. Februar 2006 führte das BFM in _______ eine Anhörung durch.
Die Beschwerdeführerin machte dabei im Wesentlichen geltend, aus
_______/Kosovo zu stammen und sich von _______ an in der Schweiz
aufgehalten zu haben. (...). Nachdem ihr Gatte sie im Kosovo bei
einem erneuten Besuch geschlagen und an einen anderen Ort zu
Verwandten gebracht gehabt habe, sei sie _______ in die Schweiz
geflohen. (...). Gesundheitliche Probleme und die ethnisch motivierten
Diskriminierungen hätten sie ebenfalls zur Ausreise bewogen.
Überdies habe sie im Kosovo Angst vor ihrem Mann und einem seiner
Brüder gehabt. Letzterer gehöre der UCK an und habe sie mit dem
Tode bedroht. Ihre Brüder seien bereits in der Vergangenheit in den
Fokus der UCK geraten. Für weitere Einzelheiten des Sachverhalts
wird auf die Akten respektive – so namentlich betreffend die im
vorinstanzlichen Verfahren eingereichten Beweismittel – auf die
Auflistung in der angefochtenen Verfügung verwiesen.
B.
Mit Verfügung vom 16. Februar 2006 – dem vormaligen Rechtsvertre-
ter am 20. Februar 2006 eröffnet – stellte das BFM fest, die Beschwer-
deführerin erfülle die Flüchtlingseigenschaft nicht, und lehnte das
Asylgesuch ab. Gleichzeitig verfügte es die Wegweisung aus der
Schweiz. Die Vorinstanz führte zur Begründung an, die Darlegungen
hinsichtlich der zivilrechtlichen Problematik stellten keine Verfolgung
im Sinne von Art. 3 des Asylgesetzes vom 26. Juni 1998 (AsylG, SR
142.31) dar. Die ferner geltend gemachte Bedrohung durch den
Schwager habe sie gemäss Aktenlage den Behörden nicht gemeldet,
weshalb diesen eine Nichterfüllung ihrer Schutzpflicht nicht anzulasten
sei. Überdies hätte sie lokalen Behelligungen durch Verlegung des
Wohnsitzes entgehen können. Die erwähnten Diskriminierungen we-
gen der Ethnie stellten sodann mangels Eingriffsintensität keine ernst-
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haften Nachteile dar. Schliesslich wirkten ihre generellen Befürchtun-
gen hinsichtlich einer Bedrohung durch die UCK beziehungsweise
auch die Bedrohung durch den Schwager als nachgeschoben und ent-
sprechend unglaubhaft. Den Vollzug der Wegweisung in den Heimat-
staat erachtete die Vorinstanz für zulässig, zumutbar und möglich. Im
Bezirk _______, aus welchem die Beschwerdeführerin stamme, könne
die Sicherheitslage für Roma zwar problematisch sein. Es sei ihr indes
zuzumuten, die bestehende innerstaatliche Aufenthaltsalternative in
_______/Montenegro in Anspruch zu nehmen, zumal dort ein soziales
Netz bestehen dürfte. Es seien auch keine individuellen Gründe, wel-
che gegen die Zumutbarkeit des Vollzugs sprächen, ersichtlich.
C.
Mit Telefax-Eingabe ihrer vormaligen Rechtsvertretung vom 22. März
2006 beziehungsweise im Rahmen des am 23. März 2006 (Datum des
Poststempels) eingereichten Rekurses beantragte die Beschwerdefüh-
rerin bei der Schweizerischen Asylrekurskommission (ARK) die Aufhe-
bung des angefochtenen Entscheids, die vorläufige Aufnahme in der
Schweiz sowie in prozessualer Hinsicht die Durchführung eines Schrif-
tenwechsels, die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege samt
Entbindung von der Vorschusspflicht (Art. 65 Abs. 1 des Verwaltungs-
verfahrensgesetzes vom 20. Dezember 1968 [VwVG, SR 172.021])
und die Entrichtung einer angemessenen Parteientschädigung im Falle
des Obsiegens. Zur Begründung legte sie dar, ihre Fluchtgründe ent-
gegen der vorinstanzlichen Sichtweise insgesamt glaubhaft geschil-
dert zu haben. Namentlich die aktenkundige Bedrohung durch
_______ stelle für sie eine konkrete Gefährdung dar. Ihre Angehörigen
in Montenegro lebten in einem Flüchtlingsheim auf engstem Raum. Die
innerstaatliche Aufenthaltsalternative sei mithin unzumutbar. Der
Eingabe lagen zwei Berichte der SFH betreffend die Situation vor Ort
bei.
D.
Mit Zwischenverfügung vom 28. März 2006 stellte die ARK fest, die
vorliegende Beschwerde richte sich einzig gegen den angeordneten
Wegweisungsvollzug. Auf die Erhebung eines Kostenvorschusses wur-
de verzichtet. Bezüglich des Gesuchs im Sinne von Art. 65 Abs. 1
VwVG wurde auf einen späteren Zeitpunkt verwiesen.
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E.
Am 6. April 2006 reichte die Beschwerdeführerin eine Bestätigung für
ihre Bedürftigkeit ein.
F.
Das BFM hielt mit Vernehmlassung vom 19. April 2006 an seiner
Verfügung vollumfänglich fest und beantragte die Abweisung der Be-
schwerde. Die vorinstanzliche Stellungnahme wurde der Beschwerde-
führerin am 21. April 2006 zur Kenntnis gebracht.
G.
Mit Eingabe vom 1. Dezember 2006 zeigte die neu bestellte Rechts-
vertretung der Beschwerdeführerin der ARK ihre Mandatsübernahme
an. Der Vollzug der Wegweisung der Beschwerdeführerin sei offen-
sichtlich unzulässig und unzumutbar, zumal ihre Kinder in der Schweiz
lebten. In Anbetracht der Aktenlage verfüge sie weder im Kosovo noch
im mittlerweile unabhängigen Montenegro über einen Ort, wo sie in Si-
cherheit und Würde zurückkehren könne. Ein baldiger Entscheid der
Rekursinstanz sei erbeten. Der Eingabe lagen unter anderem der Be-
schluss einer lokalen Vormundschaftsbehörde (Besuchsrecht hinsicht-
lich der Kinder) und ein UNHCR-Bericht (Situation binnenvertriebener
Minderheiten) bei.
H.
Am 13. April 2007 ersuchte die Beschwerdeführerin um einen baldigen
Entscheid. Der Eingabe lagen der bereits eingereichte Beschluss der
Vormundschaftsbehörde und zwei weitere Schreiben im Zusammen-
hang mit ihren zivilrechtlichen Auseinandersetzungen bei. Das Ersu-
chen um prioritäre Behandlung des Falles beantwortete das Bundes-
verwaltungsgericht am 19. April 2007.
Das Bundesverwaltungsgericht zieht in Erwägung:
1.
1.1 Gemäss Art. 31 des Verwaltungsgerichtsgesetzes vom
17. Juni 2005 (VGG, SR 173.32) beurteilt das Bundesverwaltungsge-
richt Beschwerden gegen Verfügungen nach Art. 5 VwVG. Das BFM
gehört zu den Behörden nach Art. 33 VGG und ist daher eine
Vorinstanz des Bundesverwaltungsgerichts. Eine das Sachgebiet
betreffende Ausnahme im Sinne von Art. 32 VGG liegt nicht vor. Das
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Bundesverwaltungsgericht ist daher zuständig für die Beurteilung der
vorliegenden Beschwerde und entscheidet in diesem Bereich endgültig
(Art. 105 AsylG; Art. 83 Bst. d Ziff. 1 des Bundesgerichtsgesetzes vom
17. Juni 2005 [BGG, SR 173.110]).
1.2 Das Bundesverwaltungsgericht übernahm am 1. Januar 2007 im
Rahmen seiner Zuständigkeit die Beurteilung der am 31. Dezember
2006 bei der ARK hängig gewesenen Rechtsmittel. Es gelangt das
neue Verfahrensrecht zur Anwendung (Art. 53 Abs. 2 VGG).
1.3 Die Beschwerde ist form- und fristgerecht eingereicht. Die Be-
schwerdeführerin ist durch die angefochtene Verfügung berührt und
hat ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung bezie-
hungsweise Änderung. Sie ist daher zur Einreichung der Beschwerde
legitimiert (Art. 6 AsylG i.V.m. Art. 48, 50 und 52 VwVG). Auf die
Beschwerde ist einzutreten.
1.4 Mit Beschwerde können die Verletzung von Bundesrecht, die un-
richtige oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sach-
verhalts und die Unangemessenheit gerügt werden (Art. 106 Abs. 1
AsylG).
2.
Wie bereits in der Zwischenverfügung der vormals zuständigen ARK
vom 28. März 2006 festgestellt, wird mit der Beschwerde ausschliess-
lich der angeordnete Vollzug der Wegweisung angefochten. Die Ziffern
1 (Verneinung der Flüchtlingseigenschaft), 2 (Ablehnung des Asylge-
suchs), und 3 (Anordnung der Wegweisung) des Dispositivs der Verfü-
gung des BFM vom 16. Februar 2006 sind somit mangels Anfechtung
in Rechtskraft erwachsen. Gegenstand des vorliegenden Beschwerde-
verfahrens bildet somit lediglich die Frage, ob entsprechend den
Rechtsbegehren wegen Undurchführbarkeit des Vollzugs der Wegwei-
sung die vorläufige Aufnahme anzuordnen ist (vgl. Art. 44 Abs. 2
AsylG i.V.m. Art. 83 des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005
über die Ausländerinnen und Ausländer [AuG, SR 142.20]).
3.
Ist der Vollzug der Wegweisung nicht zulässig, nicht zumutbar oder
nicht möglich, so regelt das Bundesamt das Anwesenheitsverhältnis
nach den gesetzlichen Bestimmungen über die vorläufige Aufnahme
von Ausländern (Art. 44 Abs. 2 AsylG; Art. 83 Abs. 1 AuG).
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3.1 Der Vollzug ist nicht zulässig, wenn völkerrechtliche Verpflichtun-
gen der Schweiz einer Weiterreise der Ausländerin oder des Auslän-
ders in den Heimat-, Herkunfts- oder in einen Drittstaat entgegenste-
hen (Art. 83 Abs. 3 AuG).
So darf keine Person in irgendeiner Form zur Ausreise in ein Land ge-
zwungen werden, in dem ihr Leib, ihr Leben oder ihre Freiheit aus ei-
nem Grund nach Art. 3 Abs. 1 AsylG gefährdet ist oder in dem sie Ge-
fahr läuft, zur Ausreise in ein solches Land gezwungen zu werden
(Art. 5 Abs. 1 AsylG; vgl. ebenso Art. 33 Abs. 1 des Abkommens vom
28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge [FK, SR
0.142.30]).
Gemäss Art. 25 Abs. 3 der Bundesverfassung der Schweizerischen
Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (BV, SR 101), Art. 3 des Über-
einkommens vom 10. Dezember 1984 gegen Folter und andere grau-
same, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe
(FoK, SR 0.105) und der Praxis zu Art. 3 der Konvention vom
4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfrei-
heiten (EMRK, SR 0.101) darf niemand der Folter oder unmenschli-
cher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.
3.2 Gemäss Art. 83 Abs. 4 AuG kann der Vollzug für Ausländerinnen
und Ausländer unzumutbar sein, wenn sie im Heimat- oder Herkunfts-
staat auf Grund von Situationen wie Krieg, Bürgerkrieg, allgemeiner
Gewalt und medizinischer Notlage konkret gefährdet sind. Wird eine
konkrete Gefährdung festgestellt, ist – unter Vorbehalt von Art. 83
Abs. 7 AuG – die vorläufige Aufnahme zu gewähren (vgl. Botschaft
zum Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer vom
8. März 2002, BBl 2002 3818).
3.3 Der Vollzug der Wegweisung ist nicht möglich, wenn die ausländi-
sche Person weder in den Herkunfts- oder in den Heimatstaat noch in
einen Drittstaat verbracht werden kann.
4.
4.1
Seit dem Ende des Bürgerkrieges im Juni 1999 hat sich die Situation
im Kosovo grundlegend verändert, so dass heute nicht von einer gene-
rellen Gewaltsituation oder von kriegerischen oder bürgerkriegsähnli-
chen Verhältnissen gesprochen werden kann. Im Jahr 2003 wuchs in
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Teilen der kosovarischen Gesellschaft das Verständnis für die Notwen-
digkeit eines multi-ethnischen Kosovo. Diese Entwicklung schien an-
fänglich einigen der Minderheitengemeinschaften – insbesondere den
Roma, Ashkali und Ägyptern – zugute zu kommen, führte sie doch zu
grösserer Bewegungsfreiheit, Zugang zu grundlegenden Dienstleistun-
gen und einer Lockerung der von den Sicherheitsbehörden, das heisst
der KFOR, der UN-Zivilpolizei und des Kosovo Police Service ergriffe-
nen Sicherheitsmassnahmen. Die Unruhen im März 2004 haben je-
doch die noch immer bestehenden ethnischen Spannungen und Kon-
flikte deutlich aufgezeigt. Indessen hat sich die Situation im Kosovo
insbesondere seit der zweiten Hälfte des Jahres 2004 wieder stabili-
siert. Dennoch ist die Sicherheit der Roma-Gemeinschaften und der
Schutzwille der neu geschaffenen kosovarischen Institutionen ein un-
gewisser Faktor. Nach wie vor sind die Lebensbedingungen für Ange-
hörige der Roma extrem schwierig, und Diskriminierungen in den
Bereichen von Erziehung, Fürsorge, Gesundheitsversorgung, Wohnen
und Beschäftigung ereignen sich nach wie vor. Die Roma sind mehr
als andere Minderheiten von der Armut betroffen; die Arbeitslosigkeit
liegt bei 98 Prozent (vgl. dazu Position der Schweizerischen
Flüchtlingshilfe [SFH] zu asylsuchenden Roma aus Kosovo vom
10. Oktober 2008).
4.2 Vor diesem Hintergrund erachtete bereits die ARK in ihrer letzten
Lagebeurteilung den Vollzug der Wegweisung von albanischsprachi-
gen Roma, Ashkali und Ägyptern als grundsätzlich zulässig und zu-
mutbar, sofern eine Einzelfallabklärung vor Ort (insbesondere über das
Verbindungsbüro im Kosovo) ergab, dass bestimmte Kriterien erfüllt
waren (vgl. dazu œEntscheidungen und Mitteilungen der Schweizeri-
schen Asylrekurskommission [EMARK] 2006 Nr. 10). Gegenstand der
Prüfung waren namentlich berufliche Ausbildung, Gesundheitszustand,
Alter, wirtschaftliche Lebensgrundlage sowie soziales oder verwandt-
schaftliches Beziehungsnetz. Beim Fehlen solcher Abklärungen vor
Ort könne insbesondere die Frage der Zumutbarkeit nicht abschlie-
ssend beurteilt werden, was zur Kassation führen müsse. Davon konn-
te abgesehen werden, wenn aufgrund der Akten von einer besonderen
Verbundenheit mit der Volksgruppe der Albaner auszugehen war. Im
Übrigen wurde weiterhin daran festgehalten, dass für aus dem Kosovo
stammende Roma, Ashkali und Ägypter in der Regel keine zumutbare
innerstaatliche Aufenthaltsalternative auf dem übrigen Gebiet des [da-
maligen] Staates Serbien und Montenegro vorhanden ist (vgl. dazu be-
reits EMARK 2001 Nrn. 1 und 13). Die entsprechende Beurteilung der
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ARK hatte in der Folge nach wie vor grundsätzlich ihre Gültigkeit (vgl.
BVGE 2007/10 E. 5.3 ff. S. 111 ff.), zumal die gesellschaftliche, wirt-
schaftliche und politische Lage in Kosovo auch nach dessen Unabhän-
gigkeitserklärung vorerst keine massgeblichen Veränderungen erfuhr.
Inwieweit diese Lageeinschätzung durch den Beschluss des Bundes-
rates, welcher Kosovo per 1. April 2009 zu einem sogenannten safe
country erklärte, auch aktuell noch berechtigt ist, muss im vorliegen-
den Urteil nicht beantwortet werden, da eine Kassation des angefoch-
tenen Entscheids als unumgänglich erscheint.
5.
Der Untersuchungsgrundsatz gehört zu den allgemeinen Grundsätzen
des Asylverfahrens (Art. 12 VwVG). Er bedeutet, dass die Behörde ge-
halten ist, von Amtes wegen für die richtige und vollständige Abklä-
rung des rechtserheblichen Sachverhaltes zu sorgen. Unvollständig ist
die Sachverhaltsfeststellung, wenn nicht alle für den Entscheid rechts-
relevanten Sachumstände berücksichtigt wurden, unrichtig, wenn der
Verfügung ein falscher und aktenwidriger Sachverhalt zugrunde gelegt
wird. Da der Sachverhalt im Zeitpunkt des Beschwerdeentscheids
massgebend ist, sind auch Tatsachen zu berücksichtigen, die sich
nach dem Entscheid der Vorinstanz zugetragen haben (ALFRED
KÖLZ/ISABELLE HÄNER, Verwaltungsverfahren und Verwaltungsrechtspflege
des Bundes, 2. Aufl., Zürich 1998, Rz 630 ff.). Entsprechend muss die
Asylbehörde die für das Verfahren erforderlichen Sachverhaltsunterla-
gen beschaffen und die rechtlich relevanten Umstände abklären und
darüber ordnungsgemäss Beweis führen. Gemäss Art. 13 VwVG und
Art. 8 AsylG hat die asylsuchende Person indessen die Pflicht und das
Recht, an der Feststellung des Sachverhalts mitzuwirken.
6.
Das BFM hat im angefochtenen Entscheid die Zumutbarkeit des Voll-
zugs der Wegweisung der Beschwerdeführerin in ihren Herkunftsbe-
zirk im Kosovo aufgrund der dortigen Sicherheitslage offenbar implizit
verneint, auf eine Abklärung vor Ort durch das Verbindungsbüro
verzichtet und auf eine innerstaatliche Aufenthaltsalternative in Monte-
negro hingewiesen. Die Annahme einer solchen Aufenthaltsalternative
war aber gemäss obenstehender Praxis der Rekursinstanz in der
Regel ausgeschlossen beziehungsweise an strenge Anforderung
geknüpft. Ob Angehörige, die wie geltend gemacht in einem
Flüchtlingsheim in Montenegro leben, den entsprechenden
Anforderungen gerecht würden, scheint eher fraglich. An dieser Stelle
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kann im Übrigen festgehalten werden, dass zwei Geschwister der
Beschwerdeführerin, welche ebenfalls in der Schweiz Asylgesuche
stellten und aus demselben Bezirk stammen, vom BFM in der Schweiz
vorläufig aufgenommen wurden, und dass im zweitgenannten
Verfahren das BFM im Februar 2006 im Rahmen einer Überprüfung
auf die Aufhebung des Aufenthaltsrechts verzichtete (vgl. die
vorinstanzlichen Akten N _______ und N _______). Die zum Zeitpunkt
der Verfügung des BFM bei der Beschwerdeführerin geprüfte
innerstaatliche Flucht- respektive Aufenthaltsalternative wäre zum
heutigen Zeitpunkt sodann als eine allfällige solche in den Drittstaat
Montenegro zu taxieren. Diesbezüglich wäre generell zu untersuchen,
wie sich die Einreise- und Aufenthaltsbedingungen für die Beschwer-
deführerin nach Montenegro als mutmasslich kosovarische Staatsan-
gehörige ausgestalten, sollte das BFM im wiederaufzunehmenden Ver-
fahren an einem Vollzug nach Montenegro festhalten. Schliesslich stellt
sich auch die Frage, ob die Beschwerdeführerin in der Schweiz allen-
falls ein Aufenthaltsrecht aus Art. 8 EMRK für sich beanspruchen kann.
Die sachlich und rechtlich relevanten Umstände der Entscheidfindung
stehen mithin nicht fest.
Gemäss diesen Erwägungen ist der Sachverhalt aus heutiger Sicht
nicht genügend erstellt.
7.
7.1 Die asylrechtliche Beschwerde ist vom Grundsatz her reformato-
risch ausgestaltet. Die Kassation eines materiellen Entscheides der
Vorinstanz kommt nur ausnahmsweise in Frage, etwa wenn der Sach-
verhalt als ungenügend erstellt zu erachten ist (Art. 61 Abs. 1 VwVG;
vgl. KÖLZ HÄNER, a.a.O., Rz 694). Ob die in diesen Fällen fehlende Ent-
scheidungsreife durch die Vorinstanz oder durch die Rechtsmittelins-
tanz herzustellen sei, ist bei reformatorischen Rechtsmitteln eine Fra-
ge der Abwägung nach Gesichtspunkten der Prozessökonomie (ver-
gleiche Fritz Gygi, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl., Bern
1983, S. 232 f.).
7.2 Der vorinstanzliche Entscheid widerspricht nach dem Gesagten
der (bisherigen) Praxis der Rekursinstanz; dieser schwerwiegende
Mangel ist vom BFM auch in der Vernehmlassung nicht korrigiert
worden. Die Tatsache, dass die Veränderungen der Sachlage
(Unabhängigkeit von Montenegro und Kosovo, Erklärung von Kosovo
zum safe country) während des Beschwerdeverfahrens eingetreten
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sind, würde demgegenüber grundsätzlich für die Zuführung zur
Entscheidreife durch die Beschwerdeinstanz sprechen. Auf der ande-
ren Seite ergeben sich so generelle Fragen zur Falleinschätzung in
vergleichbaren Konstellationen, welche im Sinne einer Neuformulie-
rung eine Praxisüberprüfung durch die erste Instanz und mithin das
BFM nahelegen. So ist auch gewährleistet, dass die Beschwerdeführe-
rin – sollte das BFM erneut negativ entscheiden – Gelegenheit hat, zu
dieser allfälligen Praxisanpassung im Verfahren vor dem Bundesamt
Stellung zu nehmen, und nicht einer Instanz verloren geht. Hinzu
kommt schliesslich wie erwähnt, dass die Kinder der Beschwerdefüh-
rerin (und auch der Ex-Ehemann) seit _______ offenbar über eine C-
Bewilligung in der Schweiz verfügen. Je nach Ausgang des von der
Beschwerdeführerin anhängig gemachten Rekurses wegen der im Ko-
sovo erfolgten Scheidung von ihrem Gatten und insbesondere auch in
Anbetracht des ihren leiblichen Kindern verliehenen Aufenthaltsstatus
wird so unter Umständen nicht nur eine Prüfung der Vollzugshindernis-
se, sondern im Nachhinein auch die asylrechtlich angeordnete Weg-
weisung als solche gegenstandslos.
7.3 Nach dem Gesagten ist ein reformatorischer Entscheid durch das
Bundesverwaltungsgericht nicht angezeigt, da der Sachverhalt in An-
betracht der erwähnten Veränderungen aktuell nicht als zur Genüge
erstellt erachtet werden kann. Es erscheint sachgerecht, das Verfahren
an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit diese die nötigen Abklärun-
gen vornimmt und diese im Rahmen eines neuen beschwerdefähigen
Entscheids einer rechtlichen Würdigung unterzieht.
8. Die Beschwerde ist nach dem Gesagten insoweit gutzuheissen, als
damit die Aufhebung der vorinstanzlichen Verfügung beantragt wird.
Bei dieser Sachlage erübrigt es sich, auf die weiteren Beschwerdevor-
bringen und Beweismittel detaillierter einzugehen.
9.
9.1 Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind der Beschwerdeführerin
keine Kosten aufzuerlegen (Art. 63 Abs. 1 und 2 VwVG). Das Gesuch
um Erlass derselben wird demzufolge gegenstandslos.
10. Obsiegende Parteien haben Anspruch auf eine Parteientschädi-
gung für die ihnen erwachsenen notwendigen und verhältnismässig
hohen Kosten (Art. 7 des Reglements vom 21. Februar 2008 über die
Kosten und Entschädigungen vor dem Bundesverwaltungsgericht
Seite 10
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[VGKE, SR 173.320.2]). Die (vormalige) Rechtsvertretung der Be-
schwerdeführerin hat es unterlassen, eine Kostennote einzureichen.
Auf eine entsprechende Nachforderung kann jedoch verzichtet wer-
den, da sich der Parteiaufwand zuverlässig abschätzen lässt. Die von
der Vorinstanz zu entrichtende Parteientschädigung ist demnach auf
Fr. 600.-- (inklusive Spesen und allfällige Mehrwertsteuer) festzuset-
zen (Art. 14 VGKE).
Seite 11
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Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:
1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Die Ziffern 4 und 5 des Dispositivs
der vorinstanzlichen Verfügung vom 16. Februar 2006 werden aufge-
hoben.
2.
Die Sache wird im Sinne der Erwägungen zur Neubeurteilung an die
Vorinstanz zurückgewiesen.
3.
Es werden keine Verfahrenskosten auferlegt.
4.
Das BFM hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren vor der
Rekursinstanz eine Parteientschädigung von Fr. 600.-- (inklusive Aus-
gaben und allfällige MwSt) auszurichten.
5.
Dieses Urteil geht an:
- die Rechtsvertretung der Beschwerdeführerin (Einschreiben)
- das BFM, Abteilung Asylverfahren, mit den Akten Ref.-Nr.
N _______ sowie den beigezogenen Akten N _______ und
N _______ (per Kurier; in Kopie)
- _______
Die vorsitzende Richterin: Der Gerichtsschreiber:
Nina Spälti Giannakitsas Patrick Weber
Versand:
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Seite 13