D-567/2007 - Abteilung IV - Asyl und Wegweisung - Asyl und Wegweisung; Verfügung des BFM vom 21. Dez...
Karar Dilini Çevir:
D-567/2007 - Abteilung IV - Asyl und Wegweisung - Asyl und Wegweisung; Verfügung des BFM vom 21. Dez...
Abtei lung IV
D-567/2007
{T 0/2}
U r t e i l v o m 1 8 . N o v e m b e r 2 0 1 0
Richter Robert Galliker (Vorsitz),
Richter Gérard Scherrer, Richter Walter Lang,
Gerichtsschreiberin Daniela Brüschweiler.
A._______, geboren (...), dessen Ehefrau
B._______, geboren (...), sowie der gemeinsame Sohn
C._______, geboren (...),
Iran,
vertreten durch lic. iur. Urs Ebnöther, (...)
Beschwerdeführer,
gegen
Bundesamt für Migration (BFM), vormals Bundesamt
für Flüchtlinge (BFF),
Quellenweg 6, 3003 Bern,
Vorinstanz.
Asyl und Wegweisung; Verfügungen des BFM vom
21. Dezember 2006 / N (...) und N (...).
B u n d e s v e r w a l t u n g s g e r i c h t
T r i b u n a l a d m i n i s t r a t i f f é d é r a l
T r i b u n a l e a m m i n i s t r a t i v o f e d e r a l e
T r i b u n a l a d m i n i s t r a t i v f e d e r a l
Besetzung
Parteien
Gegenstand
D-565/2007
D-567/2007
Sachverhalt:
A.
Die beschwerdeführenden Ehegatten verliessen ihren Heimatstaat
eigenen Angaben zufolge (zusammen mit dem Vater der Beschwerde-
führerin; vgl. separates Verfahren D-566/2007 [N ...]) am
25. September 1999 und gelangten über die Türkei, Bosnien und
Herzegowina, Kroatien, Slowenien und Italien am 19. Oktober 1999 in
die Schweiz. Am 20. Oktober 1999 ersuchten sie in der Empfangs-
stelle (heute: Empfangs- und Verfahrenszentrum [EVZ]) D._______ um
Asyl nach, nachdem sie bei der Ausreise nach Deutschland von den
deutschen Behörden angehalten und in die Schweiz zurückgeschickt
worden waren. Am 27. Oktober 1999 wurde in der Empfangsstelle eine
Kurzbefragung der Beschwerdeführenden durchgeführt. In der Folge
wurden sie – zusammen mit ihrem Vater beziehungsweise
Schwiegervater – für die Dauer des Asylverfahrens dem Kanton
E._______ zugewiesen. Die (...) des Kantons E._______ (heute: [...])
hörte die Beschwerdeführenden am 9. Dezember 1999 zu ihren
Asylgründen an.
Der Beschwerdeführer machte zur Begründung seines Asylgesuches
im Wesentlichen geltend, er habe als Sekretär für seinen Schwieger-
vater gearbeitet. Aufgrund der von diesem festgestellten Unter-
schlagungen und den daraus folgenden Schwierigkeiten hätten die
Behörden auch ihn (den Beschwerdeführer) nicht mehr gemocht.
Zudem habe er auch die politischen Aktivitäten seines Schwieger-
vaters unterstützt, indem er etwa Studenten für die Zusammenkünfte
beziehungsweise die Reden seines Schwiegervaters mobilisiert habe.
Überdies sei er bei den Studentenunruhen im Jahr 1999 sehr aktiv
gewesen, wobei er dort von den Behörden auch fotografiert und ge-
filmt worden sei. Schliesslich habe er den Iran verlassen, weil er seine
Frau nicht habe alleine lassen wollen.
Die Beschwerdeführerin ihrerseits gab an, sie habe ihr Heimatland
wegen der politischen Aktivitäten ihres Vater verlassen. Sie habe ihn
bei seiner regimekritischen Tätigkeit insofern seit 1997 unterstützt, als
sie mit Studenten gesprochen und diese zur Teilnahme an Ver-
anstaltungen habe bewegen können. Sie seien mittels anonymer Tele-
fonanrufe bedroht worden und hätten sich, nachdem sie anlässlich der
Demonstration vom Juli 1999 von den Behörden gefilmt und foto-
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grafiert worden seien, bei einem Onkel väterlicherseits versteckt ge-
halten.
Für die weiteren Aussagen der Beschwerdeführenden wird auf die
Protokolle in den Akten verwiesen.
B.
Am 4. Oktober 2000 reisten die übrigen Familienmitglieder der Be-
schwerdeführerin (ihre Mutter, zwei Schwestern sowie der Schwager)
in die Schweiz ein und suchten ebenfalls um Asyl nach.
C.
Am (...) kam der Sohn der Beschwerdeführenden, C._______, zur
Welt.
D.
Mit Verfügung vom 12. Februar 2002 stellte das BFF fest, die Be-
schwerdeführenden (wie auch die Eltern und die jüngste Schwester
der Beschwerdeführerin) erfüllten die Flüchtlingseigenschaft nicht,
lehnte die Asylgesuche ab und ordnete die Wegweisung aus der
Schweiz sowie deren Vollzug an. Die Vorinstanz begründete ihren
Entscheid im Wesentlichen damit, dass die Schilderungen der Be-
schwerdeführenden (insbesondere diejenigen ihres Vaters be-
ziehungsweise Schwiegervaters) den Anforderungen an die Glaub-
haftigkeit gemäss Art. 7 des Asylgesetzes vom 26. Juni 1998 (AsylG,
SR 142.31) nicht standhalten würden. Verschiedene vom Vater der
Beschwerdeführerin eingereichte Dokumente seien der
Schweizerischen Botschaft in Teheran vorgelegt worden. Gestützt auf
den Abklärungsbericht der Botschaft bestünden überwiegende Zweifel
an der Echtheit der Dokumente und entsprechend auch an den Vor-
bringen der Beschwerdeführenden. Hinzu komme, dass die Angaben
teilweise unlogisch und der allgemeinen Erfahrung widersprechend
sowie widersprüchlich ausgefallen seien. Den Wegweisungsvollzug
erachtete das Bundesamt als zulässig, zumutbar und möglich.
E.
Gegen diesen Entscheid des Bundesamtes erhoben die Beschwerde-
führenden Beschwerde bei der damals zuständigen Schweizerischen
Asylrekurskommission (ARK). Mit Urteil vom 23. Dezember 2003
wurde die Beschwerde gutgeheissen, die angefochtene Verfügung
vom 12. Februar 2002 aufgehoben und die Sache zur weiteren Sach-
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verhaltsabklärung und Neubeurteilung an die Vorinstanz zurück-
gewiesen. Zur Begründung erwog die ARK insbesondere, das
zwischenzeitlich von den Beschwerdeführenden eingereichte, von
Dr. F._______ verfasste "Gutachten" könnte allenfalls geeignet sein,
gewisse vom BFF namhaft gemachte Ungereimtheiten in der Ver-
folgungsgeschichte der Beschwerdeführenden zu erklären, weshalb
der rechtserhebliche Sachverhalt nicht vollständig feststehe.
F.
Mit (identischen) Verfügungen vom 21. Dezember 2006 – eröffnet am
22. Dezember 2006 – stellte das Bundesamt erneut fest, die Be-
schwerdeführenden erfüllten die Flüchtlingseigenschaft nicht und
lehnte die Asylgesuche ab. Die Beschwerdeführenden wurden zwar
aus der Schweiz weggewiesen, jedoch aufgrund des Vorliegens einer
schwerwiegenden persönlichen Notlage vorläufig aufgenommen.
G.
Mit Eingaben vom 22. Januar 2007 (Poststempel) liessen die Be-
schwerdeführenden durch ihren Rechtsvertreter beim Bundesver-
waltungsgericht Beschwerde erheben und beantragen, die Ziffern 1 bis
3 des Dispositivs der Verfügung vom 21. Dezember 2006 seien auf-
zuheben, es sei die Flüchtlingseigenschaft der Beschwerdeführenden
festzustellen und ihnen Asyl zu gewähren, eventualiter sei die Flücht-
lingseigenschaft festzustellen und die Beschwerdeführenden seien als
Flüchtlinge in der Schweiz vorläufig aufzunehmen. In verfahrensrecht-
licher Hinsicht ersuchten sie um Gewährung der unentgeltlichen
Rechtspflege und Verzicht auf die Erhebung eines Kostenvorschusses.
Zusammen mit der Beschwerdeschrift liessen die Beschwerde-
führenden ein Dossier bezüglich ihres exilpolitischen Engagements
sowie eine Mittellosigkeitsbestätigung einreichen.
H.
Mit Zwischenverfügungen vom 28. Februar 2007 teilte der
Instruktionsrichter den Beschwerdeführenden im Wesentlichen mit,
über das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege
werde zu einem späteren Zeitpunkt befunden und auf die Erhebung
eines Kostenvorschusses verzichtet.
I.
Mit Eingaben vom 2. November 2007 und vom 23. Februar 2008
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reichten die Beschwerdeführenden weitere Unterlagen zu ihren
eigenen sowie den exilpolitischen Aktivitäten der weiteren Familien-
angehörigen ein.
J.
Am 19. März 2009, 28. August 2009, 17. Mai 2010 und 4. November
2010 gingen beim Bundesverwaltungsgericht weitere Beweismittel in
Bezug auf exilpolitische Betätigungen der Beschwerdeführenden, ins-
besondere des Beschwerdeführers, ein.
Das Bundesverwaltungsgericht zieht in Erwägung:
1.
1.1 Gemäss Art. 31 des Verwaltungsgerichtsgesetzes vom
17. Juni 2005 (VGG, SR 173.32) beurteilt das Bundesverwaltungs-
gericht Beschwerden gegen Verfügungen nach Art. 5 des Bundes-
gesetzes vom 20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren
(VwVG, SR 172.021). Das BFM gehört zu den Behörden nach Art. 33
VGG und ist daher eine Vorinstanz des Bundesverwaltungsgerichts.
Eine das Sachgebiet betreffende Ausnahme im Sinne von Art. 32 VGG
liegt nicht vor. Das Bundesverwaltungsgericht ist daher zuständig für
die Beurteilung der vorliegenden Beschwerde und entscheidet auf
dem Gebiet des Asyls endgültig (Art. 105 AsylG; Art. 83 Bst. d Ziff. 1
des Bundesgerichtsgesetzes vom 17. Juni 2005 [BGG, SR 173.110]).
1.2 Das Verfahren richtet sich nach dem VwVG, dem VGG und dem
BGG, soweit das AsylG nichts anderes bestimmt (Art. 37 VGG und
Art. 6 AsylG).
1.3 Die Beschwerden sind frist- und formgerecht eingereicht. Die Be-
schwerdeführenden sind durch die angefochtenen Verfügungen be-
sonders berührt und haben ein schutzwürdiges Interesse an deren
Aufhebung beziehungsweise Änderung; sie sind daher zur Einreichung
der Beschwerden legitimiert (Art. 105 AsylG i.V.m. Art. 37 VGG,
Art. 48 Abs. 1 VwVG sowie Art. 50 und Art. 52 VwVG). Auf die Be-
schwerden ist einzutreten.
2.
Mit Beschwerde kann die Verletzung von Bundesrecht, die unrichtige
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oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts
und die Unangemessenheit gerügt werden (Art. 106 Abs. 1 AsylG).
3.
Die Verfahren der beschwerdeführenden Ehegatten wurden vom
Bundesverwaltungsgericht zunächst getrennt geführt. Aufgrund der
engen sachlichen und persönlichen Konnexität der beiden Verfahren
rechtfertigt es sich, die beiden Verfahren zu vereinigen und in einem
Urteil zu behandeln.
4.
4.1 Gemäss Art. 2 Abs. 1 AsylG gewährt die Schweiz Flüchtlingen
grundsätzlich Asyl. Als Flüchtling wird eine ausländische Person an-
erkannt, wenn sie in ihrem Heimatstaat oder im Land, in dem sie zu-
letzt wohnte, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit
zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen
Anschauungen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt ist oder begründete
Furcht hat, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden. Als ernsthafte
Nachteile gelten namentlich die Gefährdung von Leib, Leben oder
Freiheit sowie Massnahmen, die einen unerträglichen psychischen
Druck bewirken; den frauenspezifischen Fluchtgründen ist Rechnung
zu tragen (Art. 3 AsylG).
4.2 Die Flüchtlingseigenschaft gemäss dem vorstehend wieder-
gegebenen Art. 3 AsylG erfüllt eine asylsuchende Person ent-
sprechend nach Lehre und Rechtsprechung dann, wenn sie Nachteile
von bestimmter Intensität erlitten hat beziehungsweise mit beachtlicher
Wahrscheinlichkeit und in absehbarer Zukunft begründeterweise be-
fürchten muss, welche ihr gezielt und aufgrund bestimmter Ver-
folgungsmotive durch Organe des Heimatstaates oder durch nicht-
staatliche Akteure zugefügt worden sind beziehungsweise zugefügt zu
werden drohen (vgl. Entscheide des Schweizerischen Bundesver-
waltungsgerichts [BVGE] 2008/4 E. 5.2 S. 37; Entscheidungen und
Mitteilungen der Schweizerischen Asylrekurskommission [EMARK]
2006 Nr. 18 E. 7 und 8 S. 190 ff.; EMARK 2005 Nr. 21 E. 7 S. 193).
Aufgrund der Subsidiarität des flüchtlingsrechtlichen Schutzes setzt
die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ausserdem voraus, dass
die betroffene Person in ihrem Heimatland keinen ausreichenden
Schutz finden kann (vgl. BVGE 2008/12 E. 7.2.6.2 S. 174 f.; BVGE
2008/4 E. 5.2 S. 37 f.; EMARK 2006 Nr. 18 E. 10 S. 201 ff.; EMARK
2005 Nr. 21 E. 7.3 S. 194 und E. 11.1 S. 201 f.). Ausgangspunkt für die
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Beurteilung der Flüchtlingseigenschaft ist die Frage nach der im Zeit -
punkt der Ausreise vorhandenen Verfolgung oder begründeten Furcht
vor einer solchen. Die Situation im Zeitpunkt des Asylentscheides ist
jedoch im Rahmen der Prüfung nach der Aktualität der Verfolgungs-
furcht ebenfalls wesentlich. Veränderungen der objektiven Situation im
Heimatstaat zwischen Ausreise und Asylentscheid sind deshalb zu-
gunsten und zulasten der das Asylgesuch stellenden Person zu be-
rücksichtigen (vgl. BVGE 2008/4 E. 5.4 S. 38 f.; EMARK 2000 Nr. 2
E. 8a S. 20; WALTER STÖCKLI, Asyl, in: Uebersax/Rudin/Hugi Yar/Geiser
[Hrsg.], Ausländerrecht, Basel/Bern/Lausanne 2009, Rz. 11.17 und
11.18).
4.3 Begründete Furcht vor Verfolgung liegt vor, wenn konkreter Anlass
zur Annahme besteht, eine Verfolgung hätte sich – aus der Sicht im
Zeitpunkt der Ausreise – mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit und in
absehbarer Zeit verwirklicht beziehungsweise werde sich – auch aus
heutiger Sicht – mit ebensolcher Wahrscheinlichkeit in absehbarer Zu-
kunft verwirklichen. Eine bloss entfernte Möglichkeit künftiger Ver-
folgung genügt nicht; es müssen konkrete Indizien vorliegen, welche
den Eintritt der erwarteten – und aus einem der vom Gesetz auf-
gezählten Motive erfolgenden – Benachteiligung als wahrscheinlich
und dementsprechend die Furcht davor als realistisch und nach-
vollziehbar erscheinen lassen (vgl. EMARK 2005 Nr. 21 E. 7 S. 193 f.,
EMARK 2004 Nr. 1 E. 6a S. 9).
4.4 Wer um Asyl nachsucht, muss die Flüchtlingseigenschaft nach-
weisen oder zumindest glaubhaft machen. Diese ist glaubhaft ge-
macht, wenn die Behörde ihr Vorhandensein mit überwiegender
Wahrscheinlichkeit für gegeben hält. Unglaubhaft sind insbesondere
Vorbringen, die in wesentlichen Punkten zu wenig begründet oder in
sich widersprüchlich sind, den Tatsachen nicht entsprechen oder
massgeblich auf gefälschte oder verfälschte Beweismittel abgestützt
werden (Art. 7 AsylG).
5.
5.1 Die Beschwerdeführenden machen nicht geltend, sie seien zufolge
bereits erlittener Verfolgungshandlungen ausgereist. Zu prüfen bleibt
somit, ob im Zeitpunkt der Ausreise begründete Furcht vor Verfolgung
bestand beziehungsweise von den Beschwerdeführenden zumindest
glaubhaft gemacht wurde.
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5.2 Gemäss konstanter Praxis der ARK, die vom Bundesver-
waltungsgericht weiter geführt wird, liegt mit Bezug auf den Zeitpunkt
der Ausreise eine begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne von
Art. 3 Abs. 1 AsylG vor, wenn konkreter Anlass zur Annahme besteht,
Letztere hätte sich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit und in abseh-
barer Zeit verwirklicht. Dabei genügt es nicht, dass diese Furcht ledig-
lich mit Vorkommnissen oder Umständen, die sich früher oder später
möglicherweise ereignen könnten, begründet wird. Ob in einem be-
stimmten Fall eine solche Wahrscheinlichkeit besteht, ist aufgrund
einer objektivierten Betrachtungsweise zu beurteilen. Es müssen damit
hinreichende Anhaltspunkte für eine konkrete Bedrohung vorhanden
sein, die bei jedem Menschen in vergleichbarer Lage Furcht vor Ver-
folgung und damit den Entschluss zur Flucht hervorrufen würden.
Dennoch ist für die Bestimmung der begründeten Furcht nicht allein
massgebend, was ein hypothetischer Durchschnittsmensch in der-
selben Situation empfinden würde. Diese rein objektive Be-
trachtungsweise ist zusätzlich durch das von der betroffenen Person
bereits Erlebte und das Wissen um Konsequenzen in vergleichbaren
Fällen zu ergänzen. Wer bereits staatlichen Verfolgungsmassnahmen
ausgesetzt war, hat objektive Gründe für eine ausgeprägtere
(subjektive) Furcht. Die subjektive Furcht ist diesfalls bereits dann be-
gründet, wenn sie zwar diejenige eines in der gleichen Situation be-
findlichen Durchschnittsmenschen übersteigt, aber trotzdem nach-
vollziehbar bleibt (vgl. statt vieler EMARK 2005 Nr. 21 E. 7.1. S. 193,
mit weiteren Hinweisen).
5.3 Das Bundesverwaltungsgericht kommt im Urteil vom 18. Novem-
ber 2010 betreffend das Verfahren der Eltern und Grosseltern
beziehungsweise Schwiegereltern der Beschwerdeführenden (D-
566/2007) zum Schluss, eine konkrete Verfolgungsgefahr lasse sich
weder aus der Aufdeckung von Unterschlagungen noch aus den
regimekritischen Aktivitäten im Heimatland ableiten. Davon un-
abhängige, eigenständige Verfolgungsgründe machen beide Be-
schwerdeführenden keine geltend. Der Beschwerdeführer gab zudem
an, er wäre im Heimatland geblieben, wenn die Beschwerdeführerin
nicht ausgereist wäre (vgl. A 1/9 S. 5). Entsprechend kann für den
Zeitpunkt der Ausreise – nachdem die angefochtenen Verfügungen
nebst den Beschwerdeführenden auch deren Eltern beziehungsweise
Schwiegereltern umfassen, alle Adressaten der Verfügungen von
demselben Rechtsbeistand vertreten werden und um unnötige
Wiederholungen zu vermeiden – auf das Urteil sowie die diesbezüg-
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lichen Erwägungen im Verfahren der Eltern beziehungsweise
Schwiegereltern (D-566/2007) verwiesen und auf weitere Aus-
führungen im vorliegenden Verfahren verzichtet werden.
6.
Die Beschwerdeführenden bringen schliesslich vor, das Bundesamt
habe ihre Flüchtlingseigenschaft zufolge Vorliegens subjektiver Nach-
fluchtgründe zu Unrecht verneint.
6.1 Wer sich darauf beruft, dass durch sein Verhalten nach der Aus-
reise aus dem Heimat- oder Herkunftsland eine Gefährdungssituation
erst geschaffen worden ist, macht subjektive Nachfluchtgründe geltend
(Art. 54 AsylG). Subjektive Nachfluchtgründe begründen zwar die
Flüchtlingseigenschaft im Sinne von Art. 3 AsylG, führen jedoch nach
Art. 54 AsylG zum Ausschluss des Asyls, unabhängig davon, ob sie
missbräuchlich oder nicht missbräuchlich gesetzt wurden. Das vom
Gesetzgeber vorgesehene Konzept, wonach das Vorliegen von
subjektiven Nachfluchtgründen die Gewährung von Asyl ausschliesst,
verbietet das Addieren solcher Gründe mit Nachfluchtgründen, welche
vor der Ausreise aus dem Heimat- oder Herkunftsstaat entstanden
sind und die für sich allein nicht zur Bejahung der Flüchtlingseigen-
schaft und zur Asylgewährung ausreichen (vgl. BVGE 2009/28 E. 7.1
S. 352; vgl. ferner EMARK 2000 Nr. 16 E. 5 a S. 141 f., mit weiteren
Hinweisen). Stattdessen werden Personen, welche subjektive Nach-
fluchtgründe nachweisen oder glaubhaft machen können, als Flücht-
linge vorläufig aufgenommen (vgl. dazu die nach wie vor gültigen und
zutreffenden Ausführungen in EMARK 1995 Nr. 7 E. 7 b und 8 S. 67 ff.;
EMARK 2000 Nr. 16 E. 5 a S. 141 f., mit weiteren Hinweisen).
6.2 Das Bundesamt stellt die exilpolitischen Aktivitäten, insbesondere
des Beschwerdeführers, nicht in Abrede. Vielmehr hielt es in der an-
gefochtenen Verfügung fest, der Beschwerdeführer sei seit September
2006 Mitglied der Demokratischen Vereinigung für Flüchtlinge (DVF)
und habe an diversen Demonstrationen teilgenommen. Auf Be-
schwerdeebene (sowohl in der Beschwerdeschrift als auch in ihren
zusätzlichen Eingaben) machen die Beschwerdeführenden weitere
exilpolitische Aktivitäten geltend, insbesondere – betreffend den Be-
schwerdeführer – die Teilnahme an mehreren Demonstrationen sowie
an monatlichen Treffen und Generalversammlungen der DVF. Der Be-
schwerdeführer reichte überdies einen Mitgliederausweis der DVF für
das Jahr 2010 zu den Akten, während für die Beschwerdeführerin
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einzig für das Jahr 2007 eine Personalkarte der DVF vorliegt. Zur
Stützung ihrer Vorbringen reichten die Beschwerdeführenden diverse
weitere Beweismittel ein. Insofern besteht für das
Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an ihrer Darstellung zu
zweifeln.
6.3 Mit Bezug auf den Iran ist in genereller Hinsicht festzuhalten, dass
durch die Neufassung des iranischen Strafrechts vom 9. Juli 1996 die
politische Betätigung für staatsfeindliche Organisationen im Ausland
unter Strafe gestellt ist (Art. 498-500). Zudem überwachen die
iranischen Behörden die politischen Aktivitäten ihrer Staats-
angehörigen im Ausland. Hierbei ist davon auszugehen, dass sich die
Auslandgeheimdienste auf die Erfassung von Personen konzentrieren,
welche über die massentypischen und niedrigprofilierten Erschei-
nungsformen exilpolitischer Proteste hinaus Funktionen wahrnehmen
und/oder Aktivitäten entwickeln, die sie aus der Masse der mit dem
Regime Unzufriedenen herausheben und als ernsthafte und potentiell
gefährliche Regimegegner erscheinen lassen. Nach Erkenntnis des
Bundesverwaltungsgerichts unterliegen Mitglieder von Exilorganisa-
tionen der im Iran verbotenen oppositionellen Parteien, Teilnehmer an
Veranstaltungen dieser Organisationen, Mitwirkende an regimekriti-
schen Demonstrationen, welche die dabei üblichen Plakate tragen und
Parolen rufen, Teilnehmer von sonstigen regimekritischen Veran-
staltungen sowie Personen, die Büchertische betreuen und Informa-
tions- und Propagandamaterial verteilen, keiner allgemeinen Über-
wachungsgefahr durch iranische Exilbehörden. Dass die iranischen
Sicherheitsbehörden zwischen tatsächlich politisch engagierten Re-
gimekritikern und Exilaktivisten, die mit ihren Aktionen in erster Linie
die Chancen auf ein Aufenthaltsrecht zu erhöhen versuchen, zu
unterscheiden vermögen, darf vorausgesetzt werden (vgl. BVGE
2009/28 E. 7.4.3).
6.4 Im konkreten Fall geht das Gericht nach einer Auswertung des
eingereichten Beweismaterials unter Mitberücksichtigung der übrigen
Akten davon aus, dass insgesamt keine subjektiven Nachfluchtgründe
bestehen, die bei einer Rückkehr der Beschwerdeführenden in den
Iran zu einer für die Flüchtlingseigenschaft relevanten Verfolgung
führen würden. Dieser Einschätzung liegt die Erkenntnis zugrunde,
dass nicht primär das Hervortreten im Sinne einer optischen Erkenn-
barkeit und Individualisierbarkeit, sondern eine derartige Exponierung
in der Öffentlichkeit massgebend ist, welche aufgrund der Persönlich-
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keit des Asylsuchenden, der äusseren Form seines Auftritts und nicht
zuletzt aufgrund des Inhaltes der in der Öffentlichkeit abgegebenen
persönlichen Erklärungen den Eindruck erweckt, dass der Asyl-
suchende zu einer Gefahr für den Bestand des Mullah-Regimes wird.
Ein dermassen erhöhter Exponierungsgrad kann den Beschwerde-
führenden unter Berücksichtigung der von ihnen in der Schweiz bis
zuletzt ausgeübten exilpolitischen Aktivitäten nicht beigemessen
werden. Eine konkrete Gefährdung der Beschwerdeführenden bei
einer Rückkehr in den Iran ist deshalb mit überwiegender Wahrschein-
lichkeit auszuschliessen.
6.4.1 Die Beschwerdeführenden machen in Bezug auf ihre Mitglied-
schaft selber nicht geltend, dass ihnen innerhalb der DVF eine be-
sonders exponierte Stellung beziehungsweise Führungsfunktion zu-
kommt, wobei mangels eines entsprechenden aktuellen Beleges un-
klar ist, ob die Beschwerdeführerin überhaupt noch Mitglied der DVF
ist. Im Übrigen liegt lediglich ein Foto der Beschwerdeführerin bei den
Akten, welches sie bei einer exilpolitischen Veranstaltung zeigt. Damit
vermag sie von vornherein kein relevantes Gefährdungspotenzial dar-
zutun. Aber auch die im vorliegenden Verfahren durch die Beweismittel
dokumentierte Beteiligung des Beschwerdeführers an exilpolitischen
Aktivitäten – sei es als Teilnehmer an Kundgebungen oder Ver-
sammlungen – lassen nicht das Gefährdungspotenzial ersehen,
welches der Beschwerdeführer beziehungsweise die Beschwerde-
führenden daraus zu ziehen versuchen. Beide Beschwerdeführenden
weisen nicht das Profil auf, welches den Argwohn der iranischen
Sicherheitskräfte im Sinne einer Identifizierung und Fichierung als
ernst zu nehmende Regimegegner erweckt haben dürfte.
6.4.2 Im Sinne einer Klarstellung bleibt darauf hinzuweisen, dass
friedliche Propagandaaktionen in westeuropäischen Staaten, wie sie
vorliegend und in einer Vielzahl anderer Verfahren vor dem Bundes-
verwaltungsgericht dokumentiert sind, von den iranischen Sicher-
heitsbehörden durchaus unter realistischer Einordnung des – ebenso
evidenten wie unpolitischen – Interesses ihrer Landsleute interpretiert
werden, im Gastland nach Möglichkeit ein Aufenthaltsrecht zu er-
wirken. Es geht bei dieser Argumentation nicht darum, die innere
(politische) Gesinnung eines Asylsuchenden auszuleuchten, vielmehr
erschöpft sich der Prüfungsumfang der Asylbehörden darin, die gegen
aussen manifestierte, aus Sicht der iranischen Behörden als potenziell
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gefährlich zu wertende Oppositionstätigkeit der in Frage stehenden
Person zu beurteilen.
6.4.3 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass nicht mit über-
wiegender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, die Beschwerde-
führenden müssten im Falle ihrer Rückkehr in den Heimatstaat be-
fürchten, dort ernsthafte Nachteile im Sinne von Art. 3 AsylG zu er-
leiden. Insbesondere fehlen im vorliegenden Fall jegliche aktenkundige
Hinweise darauf, dass im Iran aufgrund der genannten politischen
Aktivitäten im Exil gegen sie ein Strafverfahren oder andere behörd-
liche Massnahmen eingeleitet worden sind, was ein Indiz für eine
fehlende Verfolgungsgefahr im Heimatland darstellt. In letzter
Konsequenz ist hierbei anzumerken, dass es nicht Sache der
schweizerischen Asylbehörden sein kann, jede auch nur ansatzweise
mögliche Gefährdungssituation im Heimatland einer asylsuchenden
Person abzuklären. Hier findet der in Art. 12 VwVG verankerte Unter-
suchungsgrundsatz vernünftigerweise seine Schranken und die Be-
schwerdeführenden sind auf ihre in Art. 8 AsylG verankerte Mit-
wirkungspflicht zu verweisen. Angesichts dessen sowie der umfang-
reichen regimekritischen Aktivitäten von Iranerinnen und Iranern in
ganz Westeuropa erscheint es insgesamt als unwahrscheinlich, dass
die iranischen Behörden von den Exilaktivitäten der Beschwerde-
führenden soweit Notiz genommen haben, dass sie diese als konkrete
und ernsthafte Bedrohung für das politische System empfinden
würden.
6.4.4 Der Vollständigkeit halber ist schliesslich anzumerken, dass
Personen aus dem Iran sowohl aufgrund ihrer (illegalen) Ausreise aus
ihrem Heimatland als auch wegen der Einreichung eines Asylgesuchs
in der Schweiz bei einer Rückkehr in ihre Heimat gemäss gesicherten
Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichts keine asylrechtlich
relevanten Nachteile zu befürchten haben (vgl. BVGE 2009/28
E. 7.4.4, mit weiteren Hinweisen).
6.5 Nach dem Gesagten ergibt sich, dass vorliegend keine Nach-
fluchtgründe bestehen, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigen-
schaft hätten führen können. Die Vorinstanz hat die Asylgesuche der
Beschwerdeführenden auch unter diesem Blickwinkel zu Recht ab-
gelehnt.
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7.
Angesichts der aufgezeigten Sachlage erweisen sich die im Rahmen
des Beschwerdeverfahrens erhobenen Rügen in allen Punkten als
unbegründet. In Würdigung der gesamten Umstände ist im Einklang
mit der Vorinstanz festzustellen, dass die Beschwerdeführenden
keinen Sachverhalt geltend gemacht haben, der sie zur Anerkennung
als Flüchtling im Sinne der Definition von Art. 3 AsylG berechtigen
würde. Die Ablehnung der Asylgesuche ist demnach zu bestätigen.
8.
Lehnt das Bundesamt das Asylgesuch ab oder tritt es darauf nicht ein,
so verfügt es in der Regel die Wegweisung aus der Schweiz und
ordnet den Vollzug an; es berücksichtigt dabei den Grundsatz der
Einheit der Familie (Art. 44 Abs. 1 AsylG).
8.1 Die Beschwerdeführenden verfügen weder über eine ausländer-
rechtliche Aufenthaltsbewilligung noch über einen Anspruch auf Er-
teilung einer solchen. Die Wegweisung wurde demnach zu Recht an-
geordnet (Art. 44 Abs. 1 AsylG; vgl. BVGE 2008/34 E. 9.2).
8.2 Das BFM ordnete mit seinen Verfügungen vom 21. Dezember
2006 die vorläufige Aufnahme der Beschwerdeführenden zufolge Vor-
liegens einer schwerwiegenden persönlichen Notlage an. Diese An-
ordnung besteht nach wie vor, weshalb sich Ausführungen zum Weg-
weisungsvollzug erübrigen.
9.
Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass die an-
gefochtenen Verfügungen Bundesrecht nicht verletzen, den rechts-
erheblichen Sachverhalt richtig und vollständig feststellen und an-
gemessen sind (Art. 106 AsylG). Die Beschwerden sind nach dem
Gesagten abzuweisen.
10.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend wären die Kosten den mit
ihren Begehren unterlegenen Beschwerdeführenden zu überbinden
(Art. 63 Abs. 1 VwVG). Diese haben aber im Rahmen der Beschwerde-
begehren ein Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechts-
pflege gestellt. Gemäss Art. 65 Abs. 1 VwVG befreit die Beschwerde-
instanz nach Einreichung der Beschwerde eine Partei, die nicht über
die erforderlichen Mittel verfügt, auf Antrag von der Bezahlung der
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Verfahrenskosten, sofern ihr Begehren nicht aussichtslos erscheint.
Gesamthaft betrachtet kann den Beschwerdeführenden nicht
vorgehalten werden, ihrer Beschwerde habe es im Zeitpunkt der
Beantragung der unentgeltlichen Rechtspflege mit Blick auf die Er-
folgsaussichten an der nötigen Ernsthaftigkeit gefehlt (vgl. BGE 125 II
265 E. 4b S. 275). Zudem ist aufgrund der Aktenlage nicht davon
auszugehen, dass die Beschwerdeführenden ein den prozessualen
Notbedarf übersteigendes Einkommen erzielen. Damit sind beide
kumulativ erforderlichen Voraussetzungen von Art. 65 Abs. 1 VwVG
erfüllt. Das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege
ist deshalb gutzuheissen, und die Beschwerdeführenden sind von der
Pflicht zur Kostentragung zu befreien. Infolgedessen sind ihnen trotz
ihres Unterliegens keine Verfahrenskosten aufzuerlegen.
(Dispositiv nächste Seite)
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Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:
1.
Die Beschwerden werden abgewiesen.
2.
Das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege wird
gutgeheissen.
3.
Es werden keine Verfahrenskosten auferlegt.
4.
Dieses Urteil geht an:
- den Rechtsvertreter der Beschwerdeführenden (Einschreiben)
- das BFM, Abteilung Aufenthalt, mit den Akten Ref.-Nr. N (...) und N
(...) (per Kurier; in Kopie)
- den (...) des Kantons E._______ ad (...) (in Kopie)
Der vorsitzende Richter: Die Gerichtsschreiberin:
Robert Galliker Daniela Brüschweiler
Versand:
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