D-4209/2007 - Abteilung IV - Nichteintreten auf Asylgesuch und Wegweisung - Verfügung vom 14. Juni 2007 i.S. Nichteintreten au...
Karar Dilini Çevir:
D-4209/2007 - Abteilung IV - Nichteintreten auf Asylgesuch und Wegweisung - Verfügung vom 14. Juni 2007 i.S. Nichteintreten au...
Abtei lung IV
D-4209/2007
scd/boi
{T 0/2}
U r t e i l v o m 1 6 . J u n i 2 0 0 8
Richter Daniel Schmid (Vorsitz), Richter Gérald Bovier,
Richter Walter Lang,
Gerichtsschreiberin Stella Boleki.
A._______, geboren (...),
B._______, geboren (...),Mongolei,
wohnhaft (...)
Beschwerdeführer,
gegen
Bundesamt für Migration (BFM), Quellenweg 6,
3003 Bern,
Vorinstanz.
Nichteintreten auf Asylgesuch und Wegweisung;
Verfügung des BFM vom 14. Juni 2007 / N (...)
B u n d e s v e r w a l t u n g s g e r i c h t
T r i b u n a l a d m i n i s t r a t i f f é d é r a l
T r i b u n a l e a m m i n i s t r a t i v o f e d e r a l e
T r i b u n a l a d m i n i s t r a t i v f e d e r a l
Besetzung
Parteien
Gegenstand
D-4209/2007
Sachverhalt:
A.
Die Beschwerdeführer, mongolische Staatsangehörige aus
C._______, verliessen nach eigenen Angaben ihren Heimatstaat am
15. Mai 2007 und reisten am 25. Mai 2007 illegal in die Schweiz ein,
wo sie gleichentags bei der Empfangsstelle (heute Empfangs- und
Verfahrenszentrum) D._______ ein Asylgesuch stellten.
B. Im Rahmen der Kurzbefragung vom 31. Mai 2005 und der direkten
Anhörung nach Art. 29 Abs. 4 des Asylgesetzes vom 26. Juni 1998
(AsylG, SR 142.31) vom 12. Juni 2007 machten die Beschwerdeführer
zur Begründung ihres Asylgesuches im Wesentlichen geltend, sie sei-
en nomadische Viehzüchter und hätten Probleme mit Viehdieben ge-
habt. Im Juli 2006 habe er (der Beschwerdeführer) beobachtet, wie ein
Mann namens B., der auch mit russischen Viehdieben aus dem Grenz-
gebiet zusammenarbeite, Vieh gestohlen habe, worauf er ihn bei der
Polizei angezeigt habe. B. sei in der Folge verhaftet worden und habe
von der Polizei erfahren, dass er (der Beschwerdeführer) ihn "verraten"
habe. Daraufhin sei er von B.'s Gefolgsleuten unter Druck gesetzt wor-
den. So sei er im August 2006 von G., einem Freund von B., und zwei
weiteren ihm unbekannten Männern mit dem Tod bedroht und zusam-
mengeschlagen worden. Dabei habe er Kopfverletzungen und Stich-
wunden am Rücken erlitten; ferner seien seine Vorderzähne einge-
schlagen worden. Diesen Vorfall hätten sie bei der Polizei gemeldet. G.
sei zwar auch festgenommen, aber kurz darauf wieder freigelassen
worden. Vielleicht habe dieser Verwandte/Freunde bei der Polizei oder
habe Schmiergeld bezahlt. Er habe jeden Vorfall der Polizei gemeldet.
Diese habe gesagt, sie gehe der Sache nach, aber passiert sei nichts.
G. habe sie weiter bedroht.
Am 30. September 2006 hätten ihm Unbekannte (wahrscheinlich die
Leute von B.) ihren Sohn beim Hüten des Viehs auf der Weide er-
schossen und Tiere gestohlen. Trotz Anzeige bei den Behörden, habe
man die Täter nicht fassen können.
Als er (der Beschwerdeführer) am 2. März 2007 bemerkt habe, dass
erneut Viehdiebe seine Tiere hätten weggetreiben wollen, habe er ei-
nen Warnschuss abgefeuert. Später habe er erfahren, dass er jeman-
den getroffen habe. Ob der Mann – offenbar ein Russe – gestorben sei
Seite 2
D-4209/2007
oder nicht, sei ihm unklar. In diesem Zusammenhang habe G. ihn am
18. April 2007 aufgesucht, ihn mit dem Tod bedroht und ihm mitgeteilt,
die Russen hätten ihn im Visier, weil er einen ihrer Männer erschossen
habe. Auch diesen Vorfall hätten sie der Polizei gemeldet.
Die Beschwerdeführerin machte im Weiteren psychische Probleme
sowie Leber- und Gallenbeschwerden geltend.
C. Mit am 15. Juni 2007 eröffneter Verfügung vom 14. Juni 2007 trat
das BFM gestützt auf Art. 34 AsylG auf die Asylgesuche der Be-
schwerdeführer nicht ein und ordnete deren Wegweisung sowie den
Wegweisungsvollzug an. Auf die Begründung wird – soweit entscheid-
wesentlich – in den Erwägungen eingegangen.
D. Mit Eingabe vom 20. Juni 2007 erhoben die Beschwerdeführer Be-
schwerde gegen die vorinstanzliche Verfügung, wobei sie sinngemäss
deren Aufhebung und das Eintreten auf ihre Asylgesuche beantragten.
Zur Begründung ihrer Beschwerde wiederholten sie im Wesentlichen
den bereits im vorinstanzlichen Verfahren geltend gemachten Sachver-
halt.
E. Mit Zwischenverfügung vom 25. Juni 2007 wurde auf die Erhebung
eines Kostenvorschusses verzichtet und die Vorinstanz zu einem
Schriftenwechsel eingeladen.
F. Die Vorinstanz hielt in ihrer Vernehmlassung vom 2. Juli 2007 voll-
umfänglich an ihren Erwägungen fest und beantragte die Abweisung
der Beschwerde. Eine Kopie der Vernehmlassung wurde den Be-
schwerdeführern am 6. Juli 2007 ohne Replikrecht zur Kenntnisnahme
zugestellt.
Das Bundesverwaltungsgericht zieht in Erwägung:
1.
1.1 Gemäss Art. 31 des Verwaltungsgerichtsgesetzes vom
17. Juni 2005 (VGG, SR 173.32) beurteilt das Bundesverwaltungsge-
richt Beschwerden gegen Verfügungen nach Art. 5 des Bundesgeset-
zes vom 20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren (VwVG,
SR 172.021). Das Bundesamt für Migration (BFM) gehört zu den Be-
hörden nach Art. 33 VGG und ist daher eine Vorinstanz des Bundes-
Seite 3
D-4209/2007
verwaltungsgerichts. Eine das Sachgebiet betreffende Ausnahme im
Sinne von Art. 32 VGG liegt nicht vor. Das Bundesverwaltungsgericht
ist daher zuständig für die Beurteilung der vorliegenden Beschwerde
und entscheidet in diesem Bereich endgültig (Art. 105 AsylG; Art. 83
Bst. d Ziff. 1 des Bundesgerichtsgesetzes vom 17. Juni 2005 [BGG,
SR 173.110]).
1.2 Die Beschwerde ist form- und fristgerecht eingereicht. Die Be-
schwerdeführer sind durch die angefochtene Verfügung berührt und
haben ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung beziehungs-
weise Änderung. Die Beschwerdeführer sind daher zur Einreichung
der Beschwerde legitimiert (Art. 6 AsylG i.V.m. Art. 48 Abs. 1 und 50 ff.
VwVG). Auf die Beschwerde ist einzutreten.
2.
Mit Beschwerde kann die Verletzung von Bundesrecht, die unrichtige
oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts
und die Unangemessenheit gerügt werden (Art. 106 Abs. 1 AsylG).
3.
Das Bundesverwaltungsgericht beschränkt sich bei der Beurteilung
von Beschwerden gegen Nichteintretensentscheide auf die Überprü-
fung der Frage, ob die Vorinstanz zu Recht auf das Asylgesuch nicht
eingetreten ist. Die Beurteilungszuständigkeit der Beschwerdeinstanz
erschöpft sich somit darin, die angefochtene Verfügung im Falle der
Begründetheit des Rechtsmittels aufzuheben und die Sache zur neuen
Entscheidung an die Vorinstanz zurückgehen zu lassen. Flüchtlingsei-
genschaft und Asylgewährung sind demnach im vorliegenden Be-
schwerdeverfahren nicht Prozessgegenstand (vgl. Entscheidungen und
Mitteilungen der Schweizerischen Asylrekurskommission [EMARK]
2004 Nr. 34 E. 2.1 S. 240 f.; 1996 Nr. 5 E. 3 S. 39 mit weiteren Hinwei-
sen). Hingegen kommt dem Bundesverwaltungsgericht im Wegwei-
sungs- und Vollzugspunkt volle Kognition zu, da die Vorinstanz diese
Frage materiell geprüft hat.
4.
4.1 Die angefochtene Verfügung des BFM stützt sich auf den Nichtein-
tretenstatbestand von Art. 34 Abs. 2 AsylG. Die gemäss Art. 36 Abs. 1
AsylG erforderliche Anhörung nach den Art. 29 und 30 AsylG ist vorab
durchgeführt worden.
Seite 4
D-4209/2007
4.2 Gemäss Art. 34 Abs. 2 AsylG wird auf ein Asylgesuch von Perso-
nen, welche aus einem verfolgungssicheren Staat stammen, nicht ein-
getreten, ausser es gebe Hinweise auf eine Verfolgung.
4.3 Gemäss langjähriger Praxis ist bei der Beurteilung, ob Hinweise
auf eine Verfolgung im Sinne von Art. 34 Abs. 2 AsylG vorliegen, nicht
nur vom engen (im Sinne von Art. 3 AsylG), sondern von einem weiten
Verfolgungsbegriff auszugehen ist. Dieser umfasst (auch) von Men-
schenhand verursachte Wegweisungshindernisse im Sinne von Art. 44
Abs. 2 AsylG i.V.m. Art. 83 des Bundesgesetzes vom 16. Dezember
2005 über die Ausländerinnen und Ausländer (AuG, SR 142.20),
worunter bisher generell auch nichtstaatliche Verfolgung gefallen ist
(vgl. EMARK 2003 Nr. 18 sowie 2004 Nr. 5). Mit dem Wechsel von der
Zurechenbarkeits- zur Schutztheorie (vgl. EMARK 2006 Nr. 18 S. 180
ff.) fällt diese nichtstaatliche Verfolgung jedoch nicht mehr "erst" unter
den weiten, sondern "bereits" unter den engen Verfolgungsbegriff im
Sinne von Art. 3 AsylG.
Die Beweismassanforderungen, welchen die „Hinweise auf Verfolgung“
im Sinne von Art. 34 Abs. 2 AsylG zu genügen haben, sind sodann tief
anzusetzen. Ergibt die summarische Prüfung der Vorbringen, dass
greifbare, nicht auf den ersten Blick als unglaubhaft erkennbare Hin-
weise auf Verfolgung vorliegen, ist auf das Asylgesuch einzutreten und
die Flüchtlingseigenschaft materiell zu prüfen (EMARK 2004 Nr. 35 E.
4.3. S. 247 f.).
5.
5.1 Die Beschwerdeführer machen geltend, sie seien von Viehdieben
bestohlen, verletzt und mit dem Leben bedroht worden. Ihr Sohn sei
erschossen worden. Die Behörden hätten sie nicht beschützen kön-
nen.
5.2 Die Vorinstanz begründete ihre Nichteintretensverfügung im Kern
damit, dass die Behörden im Rahmen der Möglichkeiten eingeschritten
seien und somit ihrer Schutzpflicht nachgekommen seien. Ein absolu-
ter Schutz vor Übergriffen Dritter könne aber in der Mongolei, wie in je-
dem anderen Staat auch, nicht gewährleistet werden. Die Regelvermu-
tung, wonach die Behörden Schutz vor nichtstaatlicher Verfolgung bie-
ten würden, werde nicht umgestossen, weshalb es nicht gerechtfertigt
sei auf das Asylgesuch einzutreten.
5.3 Aufgrund der Begründung zum Nichteintretenspunkt gibt die
Vorinstanz implizit zu verstehen, dass die von den Beschwerdeführern
Seite 5
D-4209/2007
geltend gemachten Vorbringen (Verfolgung durch Viehdiebe respektive
nicht staatliche Akteure) nicht auf den ersten Blick als unglaubhaft
erkennbar waren, da sie sich materiell mit diesen auseinandergesetzt
hat.
Die Vorinstanz führt sodann an sich zu Recht aus, es gelinge keinem
Staat, die absolute Sicherheit aller seiner Bürger jederzeit und überall
zu gewährleisten (vgl. EMARK 2006 Nr. 18 E. 10.3.2 S. 203, EMARK
1996 Nr. 8 S. 271 f.). Die Frage der Effektivität des Schutzes vor
nichtstaatlicher Verfolgung im Heimatstaat hat jedoch – analog der
Einwendung einer sicheren innerstaatlichen Fluchtalternative – die
entscheidende Behörde abzuklären und zu begründen (vgl. EMARK
2006 Nr. 18 E. 10.3.2 S. 203). Das Bundesamt hat vorliegend aber
namentlich dem Vorbringen der Beschwerdeführer, G. sei trotz ihrer
Intervention bei den Behörden (nachdem sie von ihm bedroht worden
seien) von der Polizei wieder freigelassen worden, habe sie darauf hin
erneut belästigt, und er habe möglicherweise Verwandte/Freunde bei
der Polizei gehabt oder Schmiergeld bezahlt (vgl. A1/6), weder in der
Zusammenfassung des Sachverhalts noch in den Erwägungen
Rechnung getragen. Dieses Vorbringen beschlägt zentral die Frage der
Effektivität des staatlichen Schutzes, welche nach dem Konzept des
"safe country" gemäss Art. 34 AsylG (lediglich) vermutungsweise
bejaht wird. Aufgrund der geschilderten Sachlage kann jedoch im
vorliegenden Einzelfall nicht auf den ersten Blick davon ausgegangen
werden, dass die Effektivität des Schutzes durch die staatlichen
Behörden offensichtlich gegeben war. Die somit erforderliche
einlässlichere Prüfung der asylrechtlichen Relevanz kann jedoch nur
im Rahmen einer materiellen Prüfung des Asylgesuches im
ordentlichen Verfahren und nicht vorfrageweise im Rahmen eines
Nichteintretensentscheids erfolgen (vgl. EMARK 2005 Nr. 2 E. 4.5 S.
18).
5.4 Zusammenfassend ergibt sich, dass die Vorinstanz zu Unrecht
einen Nichteintretensentscheid gestützt auf Art. 34 AsylG erlassen und
damit Bundesrecht verletzt hat (Art. 106 AsylG). Bei dieser Sachlage
erübrigt es sich, auf die Beschwerdevorbringen im Einzelnen einzuge-
hen. Die Beschwerde ist somit gutzuheissen, die angefochtene Verfü-
gung vom 14. Juni 2007 aufzuheben und die Sache zur Neubeurtei-
lung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Seite 6
D-4209/2007
6.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Verfahrenskosten zu
erheben (Art. 63 VwVG).
6.1 Die Beschwerdeinstanz kann der ganz oder teilweise obsiegenden
Partei von Amtes wegen oder auf Begehren eine Entschädigung für ihr
erwachsene notwendige und verhältnismässig hohe Kosten zuspre-
chen (Art. 37 VGG i.V.m. Art. 64 VwVG). Den im vorliegenden Verfah-
ren nicht vertretenen Beschwerdeführern sind keine verhältnismässig
hohen Kosten erwachsen, weshalb kein Grund zur Ausrichtung einer
Parteientschädigung besteht.
(Dispositiv nächste Seite)
Seite 7
D-4209/2007
Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:
1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen.
2.
Die Verfügung der Vorinstanz vom 14. Juni 2007 wird aufgehoben und
die Sache zur Neubeurteilung des Asylgesuchs im Sinne der Erwä-
gungen an die Vorinstanz zurückgewiesen.
3.
Es werden keine Verfahrenskosten auferlegt.
4.
Es wird keine Parteientschädigung ausgerichtet.
5.
Dieses Urteil geht an:
- die Beschwerdeführer (Einschreiben)
- das BFM, Abteilung Aufenthalt und Rückkehrförderung, mit den Ak-
ten Ref.-Nr. (...) (per Kurier; in Kopie)
- (zuständige kantonale Behörde) ad (...) (in Kopie)
Der vorsitzende Richter: Die Gerichtsschreiberin:
Daniel Schmid Stella Boleki
Versand:
Seite 8