D-3629/2014 - Abteilung IV - Nichteintreten auf Asylgesuch und Wegweisung (Dublin-Verfahren) - Nichteintreten auf Asylgesuch und Wegweisung (Dubl...
Karar Dilini Çevir:
D-3629/2014 - Abteilung IV - Nichteintreten auf Asylgesuch und Wegweisung (Dublin-Verfahren) - Nichteintreten auf Asylgesuch und Wegweisung (Dubl...
B u n d e s v e rw a l t u ng s g e r i ch t
T r i b u n a l ad m i n i s t r a t i f f éd é r a l
T r i b u n a l e am m in i s t r a t i vo f e d e r a l e
T r i b u n a l ad m i n i s t r a t i v fe d e r a l








Abteilung IV
D-3629/2014


U r t e i l v o m 2 8 . A u g u s t 2 0 1 4
Besetzung

Richter Hans Schürch (Vorsitz),
Richter Gérald Bovier, Richter Martin Zoller,
Gerichtsschreiber Christoph Basler.
Parteien

A._______, geboren (…), Afghanistan,
vertreten durch lic. iur. Dominik Löhrer,
Zürcher Beratungsstelle für Asylsuchende (ZBA),
(…),
Beschwerdeführer,


gegen

Bundesamt für Migration (BFM),
Quellenweg 6, 3003 Bern,
Vorinstanz.

Gegenstand

Nichteintreten auf Asylgesuch und Wegweisung
(Dublin-Verfahren);
Verfügung des BFM vom 18. Juni 2014 / N (…).


D-3629/2014
Seite 2
Sachverhalt:
A.
A.a Gemäss eigenen Angaben verliess der Beschwerdeführer seinen
Heimatstaat im September 2013; er suchte am 4. Februar 2014 in der
Schweiz um Asyl nach.
A.b Ein Abgleich der Fingerabdrücke des Beschwerdeführers mit der
EURODAC-Datenbank vom 7. Februar 2014 ergab, dass ihm am 28. Ok-
tober 2013 in Bulgarien die Fingerabdrücke abgenommen worden waren.
A.c Bei der Befragung zur Person (BzP) im Empfangs- und Verfahrens-
zentrum Basel vom 19. Februar 2014 gab der Beschwerdeführer an, er
sei am (…) geboren worden. Er sei (…) und werde sich aus Pakistan eine
Kopie seiner Identitätskarte faxen lassen. Er sei über verschiedene Län-
der nach Bulgarien gelangt, wo ihm die Fingerabdrücke abgenommen
worden seien. Dort habe er sich etwa einen Monat lang in einem Asyl-
heim aufgehalten, ohne indessen einen Asylantrag gestellt zu haben.
A.d Am 27. Februar 2014 wurde der Beschwerdeführer im Beisein der
ihm beigeordneten Vertrauensperson vom BFM zu seinen Asylgründen
angehört. Er machte im Wesentlichen geltend, er sei zusammen mit sei-
nen Eltern im Alter von zwei Jahren nach Pakistan gezogen und dort sie-
ben Jahre lang zur Schule gegangen. Zudem habe er danach ein Jahr
lang eine Schule besucht, an der er Englisch gelernt habe. Sein Vater sei
vor etwa fünf Jahren nach B._______ (Afghanistan) gegangen, um dort
für ihn eine Identitätskarte zu besorgen. Gemäss den Angaben seiner
Familie sei er am (…) geboren worden.
A.e Das BFM liess von Dr. med. C._______ am 7. März 2014 eine Alters-
bestimmung via Knochenanalyse durchführen, gemäss der sein Alter bei
18 Jahren liege. Am 20. März 2014 liess Dr. med. C._______ dem BFM
einen ergänzenden Bericht zukommen.
A.f Am 19. März 2014 übermittelte der Beschwerdeführer dem BFM seine
afghanische Identitätskarte und seinen Schülerausweis.
A.g Das BFM gewährte dem Beschwerdeführer am 24. März 2014 das
rechtliche Gehör zur Altersbestimmung und im Hinblick auf ein allfälliges
Dublin-Verfahren.
D-3629/2014
Seite 3
B.
Am 27. März 2014 ersuchte das BFM die bulgarischen Behörden um
Rückübernahme des Beschwerdeführers gemäss Art. 13 Abs. 1 Dublin-
III-VO. Diesem Gesuch wurde seitens der bulgarischen Behörden am
26. Mai 2014 entsprochen.
C.
Mit Schreiben vom 31. März 2014 zeigte der Rechtsvertreter dem BFM
die Mandatsübernahme an. Er wies darauf hin, dass vieles dafür spreche,
dass der Beschwerdeführer noch nicht volljährig sei.
D.
Mit Verfügung vom 18. Juni 2014 (eröffnet am 25. Juni 2014) trat das
BFM in Anwendung von Art. 31a Abs. 1 Bst. b AsylG (SR 142.31) auf das
Asylgesuch des Beschwerdeführers nicht ein und verfügte die Überstel-
lung nach Bulgarien, das gemäss Dublin-III-VO für die Behandlung seines
Asylgesuches zuständig sei. Gleichzeitig verfügte das BFM den Vollzug
der Wegweisung nach Bulgarien und stellte fest, eine allfällige Beschwer-
de gegen den Entscheid habe keine aufschiebende Wirkung.
E.
Mit Eingabe vom 30. Juni 2014 an das Bundesverwaltungsgericht
beantragte der Beschwerdeführer durch seinen Rechtsvertreter, die ange-
fochtene Verfügung sei aufzuheben und das BFM sei anzuweisen, sich
für das vorliegende Asylverfahren als zuständig zu erachten. Im Sinne
vorsorglicher Massnahmen sei die aufschiebende Wirkung zu erteilen
und die Vollzugsbehörden seien anzuweisen, von einer Überstellung
nach Bulgarien abzusehen, bis das Bundesverwaltungsgericht über die
Beschwerde entschieden habe. Es sei auf die Erhebung eines Kosten-
vorschusses zu verzichten und die unentgeltliche Prozessführung zu ge-
währen.
F.
Mit Zwischenverfügung vom 2. Juli 2014 setzte der Instruktionsrichter den
Vollzug der Wegweisung aus. Das Gesuch um Gewährung der unentgelt-
lichen Rechtspflege gemäss Art. 65 Abs. 1 VwVG hiess er gut. Die Akten
überwies er zur Vernehmlassung an das BFM.
G.
Mit Schreiben vom 9. Juli 2014 übermittelte der Beschwerdeführer eine
"Gefährdungsmeldung" der ihn betreuenden Sozialarbeiterin.
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Seite 4
H.
Mit Vernehmlassung vom 31. Juli 2014 hielt das Bundesamt an seiner
Verfügung vollumfänglich fest und beantragte die Abweisung der Be-
schwerde.
I.
Der Beschwerdeführer hielt in seiner Stellungnahme vom 13. August
2014 an seinen Anträgen fest.

Das Bundesverwaltungsgericht zieht in Erwägung:
1.
1.1 Gemäss Art. 31 VGG beurteilt das Bundesverwaltungsgericht Be-
schwerden gegen Verfügungen nach Art. 5 VwVG. Das BFM gehört zu
den Behörden nach Art. 33 VGG und ist daher eine Vorinstanz des Bun-
desverwaltungsgerichts. Eine das Sachgebiet betreffende Ausnahme im
Sinne von Art. 32 VGG liegt nicht vor. Das Bundesverwaltungsgericht ist
daher zuständig für die Beurteilung der vorliegenden Beschwerde und
entscheidet auf dem Gebiet des Asyls in der Regel – und so auch vorlie-
gend – endgültig (Art. 105 AsylG; Art. 83 Bst. d Ziff. 1 BGG). Das Verfah-
ren richtet sich nach dem VwVG, dem VGG und dem BGG, soweit das
AsylG nichts anderes bestimmt (Art. 37 VGG und Art. 6 AsylG).
1.2 Die Beschwerde ist frist- und formgerecht eingereicht. Der
Beschwerdeführer hat am Verfahren vor der Vorinstanz teilgenommen, ist
durch die angefochtene Verfügung besonders berührt und hat ein
schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung beziehungsweise Ände-
rung. Er ist daher zur Einreichung der Beschwerde legitimiert (Art. 105
und 108 Abs. 2 AsylG; Art. 37 VGG i.V.m. Art. 48 Abs. 1 sowie Art. 52
VwVG). Auf die Beschwerde ist einzutreten.
2.
2.1 Mit Beschwerde kann die Verletzung von Bundesrecht (einschliesslich
Missbrauch und Überschreiten des Ermessens) sowie die unrichtige oder
unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gerügt
werden (Art. 106 Abs. 1 AsylG).
2.2 Bei Beschwerden gegen Nichteintretensentscheide, mit denen es das
BFM ablehnt, das Asylgesuch auf seine Begründetheit hin zu überprüfen
(Art. 31a Abs. 1–3 AsylG), ist die Beurteilungskompetenz der Beschwer-
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deinstanz grundsätzlich auf die Frage beschränkt, ob die Vorinstanz zu
Recht auf das Asylgesuch nicht eingetreten ist (vgl. BVGE 2012/4 E. 2.2
m.w.H.).
3.
3.1 Das BFM begründete seinen Entscheid damit, der Beschwerdeführer
habe im Rahmen der BzP vage und teils widersprüchliche Aussagen zu
seinem Alter gemacht. So habe er gesagt, er werde dieses Jahr (…) Jah-
re alt, was nicht mit den Angaben auf der Tazkara in Übereinstimmung
stehe. Bei der Handknochenanalyse sei ein Knochenalter von mindestens
18 Jahren festgestellt worden. Bei der Gewährung des rechtlichen Ge-
hörs vom 24. März 2014 habe er sich lediglich dahingehend geäussert,
dass er die Tazkara abgegeben habe, die seine Minderjährigkeit beweise.
Er kenne sein Geburtsdatum nicht, sein Vater habe ihm das erwähnte Da-
tum genannt. Rechne man von (…) zum Jahr 2014, sei er (…) oder (…)
Jahre alt. Diese Erklärung überzeuge nicht. Gemäss dem Urteil des Bun-
desverwaltungsgerichts D-1755/2013 verfüge die Tazkara nicht über ei-
nen hohen Beweiswert, da sie in Afghanistan leicht käuflich erwerbbar
und einfach zu fälschen sei. Zudem seien nicht nur die Handknochenana-
lyse, sondern auch die widersprüchlichen und unsubstanziierten Angaben
zu seiner Identität bei der Beurteilung der Glaubhaftigkeit der geltend
gemachten Minderjährigkeit zu berücksichtigen. Schliesslich könne er das
geltend gemachte Alter mit keinen rechtsgenüglichen Identitätspapieren
belegen. Nach Angaben der bulgarischen Behörden habe er bei der dor-
tigen Registrierung ein anderes Geburtsdatum, nämlich den (…), ange-
geben. Obschon das BFM den bulgarischen Behörden mitgeteilt habe,
dass er sich in der Schweiz als minderjährig ausgegeben habe, hätten die
bulgarischen Behörden der Übernahme ausdrücklich zugestimmt. Der
Beschwerdeführer könne die Minderjährigkeit nicht beweisen oder glaub-
haft machen, weshalb davon ausgegangen werden müsse, er sei volljäh-
rig. Dementsprechend sei er im Verfahren als Erwachsener behandelt
worden. Seine Ausführungen könnten die Zuständigkeit Bulgariens für die
Durchführung des Asyl- und Wegweisungsverfahrens nicht widerlegen.
3.2
3.2.1 In der Beschwerde wird geltend gemacht, gemäss Art. 8 Abs. 4
Dublin-III-VO sei für unbegleitete Minderjährige derjenige Mitgliedstaat
zuständig, in dem der Minderjährige das Asylgesuch gestellt habe, sofern
es dem Wohl des Kindes diene.
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Seite 6
3.2.2 Der Beschwerdeführer habe im Verfahren immer geltend gemacht,
am (…) geboren worden zu sein. Er habe einmal Mühe bekundet, sein Al-
ter genau zu benennen. Er sei sich nicht im Klaren gewesen, dass noch
nicht August sei. Er habe gemeint, bereits (…)-jährig zu sein, obwohl er
es erst werde. Das BFM habe seine Angaben deshalb als vage und wi-
dersprüchlich bezeichnet, was nicht zu überzeugen vermöge, da er im-
mer wieder den (…) als Geburtsdatum angegeben habe. Unerwähnt blei-
be, dass das BFM selbst Mühe bekundet habe, sein Alter aufgrund der
Tazkara zu berechnen. Bei der Befragung vom 24. März 2014 habe ihm
das BFM vorgehalten, gemäss Tazkara müsse er dieses Jahr noch (…)
Jahre alt werden, was unmöglich wäre, da er gemäss Tazkara (…) gebo-
ren worden sei. Die eingereichte Tazkara habe immerhin einen geringen
Beweiswert und müsse zugunsten des Beschwerdeführers gewichtet
werden.
3.2.3 Der Beweiswert der Knochenaltersanalyse sei beschränkt. Die Ana-
lyse könne praxisgemäss als "anderes Beweismittel" gelten, sofern die
Abweichung zwischen dem festgestellten Knochenalter und dem behaup-
teten (chronologischen) Alter drei Jahre übersteige. Dies bedeute aller-
dings erst, dass über das echte Alter getäuscht worden sei. Hinsichtlich
der Frage, ob eine Person das 18. Altersjahr erreicht habe, seien keine
wissenschaftlich zuverlässigen Aussagen möglich. Ein Knochenalter von
19 Jahren könne deshalb lediglich ein schwaches Indiz für die Volljährig-
keit bilden. Bei einem ermittelten Skelettalter von 18 Jahren und weniger
könne festgestellt werden, dass sich der Beschwerdeführer noch im
Wachstum befinde (Urteil des Bundesverwaltungsgerichts E-2023/2010).
Gemäss der vorliegenden Analyse betrage das Knochenalter mindestens
18 Jahre, wobei der wichtige Hinweis auf die grosse Standartabweichung
fehle. Rechnerisch betrage die Wahrscheinlichkeit der Volljährigkeit 50
Prozent. Würde man sich für die Annahme der Volljährigkeit auf die Ana-
lyse stützen, würde man dies zu Ungunsten des Beschwerdeführers tun.
Gemäss der angefochtenen Verfügung sei eine Handknochenanalyse
durchgeführt worden, weil man der Ansicht gewesen sei, der Beschwer-
deführer sehe älter aus als angegeben. Dies vermöge nicht zu überzeu-
gen, weil bei der Anhörung vom 27. Februar 2014 eine beinahe vierstün-
dige Befragung in der Du-Form durchgeführt worden sei, was als seltsam
zu bezeichnen wäre, hätte man ihn aufgrund seines Äusseren als er-
wachsen eingeschätzt. Aufgrund der Akten erscheine es so, dass das
BFM von Anfang an von seiner Minderjährigkeit ausgegangen sei, ihm
hingegen nicht geglaubt habe, dass er noch nicht (…) Jahre alt sei.
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Seite 7
3.2.4 Gemäss der Knochenaltersanalyse könnte der Beschwerdeführer
sowohl voll- als auch minderjährig sein, weshalb das Gutachten nicht wei-
terhelfe. Aufgrund seiner Angaben und der Tazkara, der immerhin ein ge-
ringer Beweiswert zukomme, sei davon auszugehen, dass er minderjäh-
rig sei. Selbst wenn man davon ausginge, er täusche über sein Alter hin-
weg, bliebe die Frage der Volljährigkeit offen. Würde er dieses Jahr nicht
erst (…), sondern (…) oder (…) Jahre alt, könnte er deswegen nicht als
Erwachsener behandelt werden. Auch das Wohl eines täuschenden Kin-
des müsse geschützt werden.
3.3 Das BFM führt in seiner Vernehmlassung aus, in der angefochtenen
Verfügung seien eine Ansammlung von Widersprüchen aufgezeigt wor-
den, die zur Einschätzung geführt habe, dem Beschwerdeführer sei es
nicht gelungen, seine Minderjährigkeit glaubhaft zu machen. Daran ver-
möge die persönliche Einschätzung der Sozialberaterin des Beschwerde-
führers nichts zu ändern.
3.4 In der Stellungnahme wird entgegnet, von einer Ansammlung von Wi-
dersprüchen könne keine Rede sein.
4.
4.1 Auf Asylgesuche wird in der Regel nicht eingetreten, wenn Asylsu-
chende in einen Drittstaat ausreisen können, der für die Durchführung
des Asyl- und Wegweisungsverfahrens staatsvertraglich zuständig ist
(Art. 31a Abs. 1 Bst. b AsylG). Zur Bestimmung des staatsvertraglich zu-
ständigen Staates prüft das BFM die Zuständigkeitskriterien gemäss Dub-
lin-III-VO. Führt diese Prüfung zur Feststellung, dass ein anderer Mit-
gliedstaat für die Prüfung des Asylgesuchs zuständig ist, tritt das BFM,
nachdem der betreffende Mitgliedstaat einer Überstellung oder Rück-
überstellung zugestimmt hat, auf das Asylgesuch nicht ein.
4.2 Gemäss Art. 3 Abs. 1 Dublin-III-VO wird jeder Asylantrag von einem
einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III
(Art. 8–15 Dublin-III-VO) als zuständiger Staat bestimmt wird. Jedes die-
ser Kriterien wird nur angewendet, wenn das vorangehende Kriterium im
spezifischen Fall nicht anwendbar ist (Prinzip der Hierarchie der Zustän-
digkeitskriterien; vgl. Art. 7 Abs. 1 Dublin-III-VO).
Erweist es sich als unmöglich, einen Antragsteller in den eigentlich zu-
ständigen Mitgliedstaat zu überstellen, weil es wesentliche Gründe für die
Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für
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Seite 8
Antragsteller in jenem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufwei-
sen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Be-
handlung im Sinne von Artikel 4 der Charta der Grundrechte der Europäi-
schen Union (2012/C 326/02, nachfolgend: EU-Grundrechtecharta) mit
sich bringen, ist zu prüfen, ob aufgrund dieser Kriterien ein anderer Mit-
gliedstaat als zuständig bestimmt werden kann. Kann kein anderer Mit-
gliedstaat als zuständig bestimmt werden, wird der die Zuständigkeit prü-
fende Mitgliedstaat zum zuständigen Mitgliedstaat (Art. 3 Abs. 2 Dublin-
III-VO).
4.3 Der nach dieser Verordnung zuständige Mitgliedstaat ist verpflichtet,
einen Antragsteller, der in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag ge-
stellt hat, nach Massgabe der Art. 21, 22 und 29 Dublin-III-VO aufzuneh-
men (Art. 18 Abs. 1 Bst. a Dublin-III-VO).
Jeder Mitgliedstaat kann abweichend von Art. 3 Abs. 1 beschliessen, ei-
nen bei ihm von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gestell-
ten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er nach den
in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zustän-
dig ist (Art. 17 Abs. 1 Satz 1 Dublin-III-VO; sog. Selbsteintrittsrecht).
5.
5.1 Den vorliegenden Akten ist zu entnehmen, dass sich der Beschwer-
deführer vor seiner Einreise in die Schweiz in Bulgarien aufgehalten hat-
te. Anlässlich seiner Befragung zur Person im Empfangs- und Verfah-
renszentrum (EVZ) Basel vom 19. Februar 2014 führte er aus, die bulga-
rischen Behörden hätten ihm die Fingerabdrücke abgenommen und er
habe einen Monat lang in Bulgarien gelebt. Das BFM ersuchte die bulga-
rischen Behörden am 27. März 2014 um Aufnahme des Beschwerde-
führers gestützt auf Art. 21 Dublin-III-VO. Die bulgarischen Behörden
stimmten dem Gesuch um Übernahme am 26. Mai 2014 zu.
Die grundsätzliche Zuständigkeit Bulgariens ist somit gegeben.
5.2 Vorab ist durch das Bundesverwaltungsgericht zu prüfen, ob das BFM
aufgrund der Aktenlage berechtigterweise davon ausgehen durfte, dem
Beschwerdeführer sei es nicht gelungen, die von ihm geltend gemachte
Minderjährigkeit glaubhaft zu machen.
5.2.1 Auf dem Personalienblatt (act. A1/2) gab der Beschwerdeführer an,
er sei am (…) in B._______ geboren worden. Bei der BzP wiederholte er
diese Angabe (act. A4/11 S. 2). Die Frage, wie alt er sei, beantworte er
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Seite 9
dahingehend, dass er (…) beziehungsweise (…) Jahre alt sei; er habe ei-
ne Identitätskarte, die er kommen lassen werde. Er räumte ein, es könne
sein, dass er mit dem Ausrechnen Probleme habe, sein Alter stehe auf
seiner Identitätskarte (act. A3/9 S. 3). Im Rahmen der Anhörung wieder-
holte der Beschwerdeführer, seine Familie habe ihm gesagt, er sei am
(…) geboren worden (act. A7/13 S. 5).
5.2.2 Das BFM gelangte im Rahmen einer vorfrageweisen Überprüfung
der Minderjährigkeit des Beschwerdeführers am 19. Februar 2014 zur
Einschätzung, diese sei aufgrund seiner Aussagen – obschon diese nicht
mit dem Geburtsdatum übereinstimmten – und seines Aussehens als
glaubhaft anzusehen (act. A5/1). Bei der Anhörung vom 27. Februar 2014
wurde dem Beschwerdeführer folgerichtig eine Vertrauensperson (Art. 17
Abs. 3 AsylG) beigeordnet. In der Beschwerde wird berechtigterweise
darauf hingewiesen, dass der Beschwerdeführer vom Befrager des BFM
während der gesamten Anhörung geduzt wurde, was zweifellos darauf
hinweist, dass das BFM im damaligen Zeitpunkt von seiner Minderjährig-
keit ausging. Der bei der Anhörung anwesende Hilfswerksvertreter hielt
auf dem Unterschriftenblatt (act. A7/13 S.13) fest, der UMA (unbegleiteter
minderjähriger Asylbewerber) habe während der Anhörung geweint, was
darauf hindeutet, dass auch er von der Minderjährigkeit des Angehörten
ausging. Die Sozialberaterin des Beschwerdeführers teilte der Gemeinde
D._______ in einer E-Mail vom 4. Juli 2014 mit, sie habe bereits beim
Eintritt des Beschwerdeführers grosse Zweifel an seiner Volljährigkeit ge-
hegt. Es sei offensichtlich, dass der Junge mit der aktuellen Situation völ-
lig überfordert sei. Sie könne in den ihr zur Verfügung stehenden Struktu-
ren nicht diejenige Begleitung gewährleisten, die er dringend benötigen
würde. Ihrer Meinung nach sei der Junge allerhöchstens 16 Jahre alt und
benötige dringend einen Beistand, der eine alters- und bedarfsgerechte
Betreuung sowie Vertretung gewährleisten könne. Die Sozialberaterin
reichte bei der Gemeinde dementsprechend eine Gefährdungsmeldung
ein.
5.2.3 Der vom BFM mit der Durchführung einer Handknochenanalyse be-
auftragte Dr. C._______ gelangte in seinem Bericht vom 20. März 2014
zum Schluss, es könne beim Beschwerdeführer von einem Alter von min-
destens 18 Jahren ausgegangen werden.
Nach Praxis des Bundesverwaltungsgerichts lassen Ergebnisse einer ra-
diologischen Knochenaltersbestimmung keine sicheren Schlüsse auf die
Voll- oder Minderjährigkeit zu und weisen generell nur einen beschränk-
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Seite 10
ten Aussagewert zur Bestimmung des tatsächlichen Alters auf, wobei sich
diese Aussagen insbesondere auf die Situation beziehen, wonach das
behauptete Alter im Vergleich zum festgestellten Knochenalter innerhalb
der normalen Abweichung von zweieinhalb bis drei Jahren liegt. Die
Handknochenanalyse gilt nur unter bestimmten Voraussetzungen – näm-
lich dann, wenn der Unterschied zwischen dem angegebenen Alter und
dem festgestellten Knochenalter mehr als drei Jahre beträgt – trotz des
beschränkten Aussagewertes als Beweismittel, wobei an solche "Gutach-
ten" zur Altersbestimmung gewisse formale und inhaltliche Anforderungen
zu stellen sind (vgl. zum Ganzen: Urteil des Bundesverwaltungsgerichts
E-5860/2013 vom 6. Januar 2014 E. 5.2 mit weiteren Hinweisen). Die vor-
liegend durchgeführte Analyse genügt im Wesentlichen den inhaltlichen
Anforderungen an Knochenaltersanalysen; aus ihr können zwar keine
annäherungsweise verlässlichen Schlüsse auf das tatsächliche Alter des
Beschwerdeführers gezogen werden, sie bildet aber ein – wenngleich
schwaches – Indiz für die Volljährigkeit des Beschwerdeführers (vgl. Ent-
scheidungen und Mitteilungen der Schweizerischen Asylrekurskommissi-
on [EMARK] 2004 Nr. 30 E. 6.2 S. 210 f.).
5.2.4 Der Beschwerdeführer machte übereinstimmend geltend, von sei-
nen Eltern beziehungsweise seinem Vater erfahren zu haben, dass er am
(…) geboren worden sei. Er bezeugte indessen Mühe, sein genaues Alter
zu benennen. Über seinen Schulbesuch befragt, gab er an, im Alter von
(…) Jahren eingeschult worden und (…) Jahre zur Schule gegangen zu
sein. Die Schule habe er vor (…) Jahren beendet (act. A4/11 S. 4). Die-
sen Aussagen folgend, wäre er zum Zeitpunkt der BzP zwischen (…) und
(…) Jahre alt gewesen. Gemäss der vom BFM angefertigten Übersetzung
der vom Beschwerdeführer eingereichten Tazkara war er zum Zeitpunkt
der Ausstellung des Dokuments (afghanischer Kalender: (…), gregoriani-
scher Kalender: (…) oder (…)) (…) Jahre alt. Die auf der Tazkara ange-
fügte Fotografie des Beschwerdeführers und das Erscheinungsbild der
Taskara lassen sein Alter zum Ausstellungszeitpunkt und das Ausstel-
lungsjahr des Dokuments als nachvollziehbar erscheinen. Die Angaben
auf der Tazkara ergeben, dass der Beschwerdeführer heute zwischen (…)
und (…) Jahre alt ist. Sowohl die Mitarbeiter des BFM bei der BzP und
der Anhörung zu den Asylgründen, als auch der Hilfswerksvertreter und
die Sozialberaterin gingen beziehungsweise gehen davon aus, dass es
sich beim Beschwerdeführer um einen unbegleiteten Minderjährigen han-
delt. Dieser übereinstimmenden Einschätzung wurde vom BFM bei der
Beurteilung der Frage des Alters des Beschwerdeführers nicht ausrei-
chend Rechnung getragen.
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Seite 11
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Aussagen des Beschwerde-
führers und die eingereichte Tazkara Indizien sind, die für die Minderjäh-
rigkeit des Beschwerdeführers sprechen. Sowohl die Einschätzung der
am Verfahren beteiligten Personen, als auch diejenige der Sozialberaterin
des Beschwerdeführers, die mit ihm persönlich zu tun hatten bezie-
hungsweise haben, sind weitere Indizien, die auf die Minderjährigkeit des
Beschwerdeführers schliessen lassen.
5.2.5 Das Bundesverwaltungsgericht gelangt aufgrund der gesamten Ak-
tenlage zum Schluss, dass im Rahmen einer Gesamtwürdigung aller Um-
stände (vgl. EMARK 2004 Nr. 30 E. 5.3.4 S. 210) überwiegende Hinweise
auf eine Minderjährigkeit des Beschwerdeführers bestehen.
5.3 Gemäss Art. 8 Abs. 4 Dublin-III-VO ist bei Abwesenheit eines Famili-
enangehörigen eines seiner Geschwister oder eines Verwandten (…) für
unbegleitete Minderjährige derjenige Mitgliedstaat zuständig, in dem der
Minderjährige seinen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, so-
fern es dem Wohl des Minderjährigen dient. Den Akten ist zu entnehmen,
dass sich die Eltern des Beschwerdeführers in Pakistan aufhalten sollen
(act. A4/11 S. 6), Anzeichen dafür, dass sich in Bulgarien Verwandte auf-
halten, sind keine ersichtlich. Eigenen Angaben gemäss suchte er in Bul-
garien nicht um Asyl nach, es seien ihm dort lediglich die Fingerabdrücke
abgenommen worden (act. A4/11 S. 5 und 7); diese Darstellung wird vom
BFM nicht in Frage gestellt, führt es doch in der angefochtenen Verfü-
gung aus, es stehe dem Beschwerdeführer offen, nach einer Überstellung
in Bulgarien ein Asylgesuch zu stellen. Seinen Angaben gemäss wurde er
nach seiner Ankunft in Bulgarien im Oktober 2013 in ein Flüchtlingslager
gebracht, das eher wie ein Gefängnis als wie ein Lager gewesen sei. Er
habe nach dem Verlassen dieses Lagers unter Brücken schlafen müssen
und nachts sei man von Gruppen angegriffen und geschlagen worden
(act. A12/4). Aufgrund vorstehender Erwägungen ergibt sich, dass die
Schweiz zuständig für die Behandlung des Asylgesuchs des Beschwerde-
führers ist, da er hier einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat
und davon auszugehen ist, es diene seinem Wohl, weiterhin in den ihm
mittlerweile bekannten hiesigen Strukturen verbleiben zu können.
6.
Die Beschwerde ist somit gutzuheissen und die angefochtene Verfügung
aufzuheben. Das BFM ist anzuweisen, das Asylverfahren in der Schweiz
durchzuführen.
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Seite 12
7.
7.1 Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten aufzuerlegen
(Art. 63 Abs. 1 und 2 VwVG).
7.2 Die Beschwerdeinstanz kann der ganz oder teilweise obsiegenden
Partei von Amtes wegen oder auf Begehren eine Entschädigung für ihr
erwachsene notwendige und verhältnismässig hohe Kosten zusprechen
(Art. 64 Abs. 1 VwVG i.V.m. Art. 7 Abs. 1 und 2 des Reglements vom
21. Februar 2008 über die Kosten und Entschädigungen vor dem Bun-
desverwaltungsgericht [VGKE, SR 173.320.2]). Da der Rechtsvertreter
keine Kostennote eingereicht hat, sind die notwendigen Parteikosten auf-
grund der Akten zu bestimmen (Art. 14 Abs. 2 in fine VGKE). Gestützt auf
die in Betracht zu ziehenden Bemessungsfaktoren (Art. 9–13 VGKE) ist
dem Beschwerdeführer zulasten der Vorinstanz eine Parteientschädigung
von insgesamt Fr. 1'000.– (inkl. Auslagen und MwSt) zuzusprechen.

(Dispositiv nächste Seite)
D-3629/2014
Seite 13
Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:
1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen.
2.
Die Verfügung des BFM vom 18. Juni 2014 wird aufgehoben. Das BFM
wird angewiesen, das Asylverfahren des Beschwerdeführers in der
Schweiz durchzuführen.
3.
Es werden keine Verfahrenskosten erhoben.
4.
Das BFM wird angewiesen, dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor
dem Bundesverwaltungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 1'000.–
(inkl. Auslagen und MwST) auszurichten.
5.
Dieses Urteil geht an den Beschwerdeführer, das BFM und die kantonale
Migrationsbehörde.

Der vorsitzende Richter: Der Gerichtsschreiber:

Hans Schürch Christoph Basler


Versand: