D-3556/2006 - Abteilung IV - Asyl und Wegweisung - Verfügung vom 18. Februar 2004 i.S. Asyl und Wegwe...
Karar Dilini Çevir:
D-3556/2006 - Abteilung IV - Asyl und Wegweisung - Verfügung vom 18. Februar 2004 i.S. Asyl und Wegwe...
Abtei lung IV
D-3556/2006
{T 0/2}
U r t e i l v o m 1 1 . S e p t e m b e r 2 0 0 9
Richter Daniel Schmid (Vorsitz), Richter Kurt Gysi,
Richter Gérald Bovier,
Gerichtsschreiberin Milva Franceschi.
A._______, geboren (...),
Türkei,
vertreten durch Peter Frei, Rechtsanwalt,
Beschwerdeführerin,
gegen
Bundesamt für Migration (BFM),
vormals Bundesamt für Flüchtlinge (BFF),
Quellenweg 6, 3003 Bern,
Vorinstanz.
Asyl und Wegweisung; Verfügung des BFF vom
18. Februar 2004 / N (...).
B u n d e s v e r w a l t u n g s g e r i c h t
T r i b u n a l a d m i n i s t r a t i f f é d é r a l
T r i b u n a l e a m m i n i s t r a t i v o f e d e r a l e
T r i b u n a l a d m i n i s t r a t i v f e d e r a l
Besetzung
Parteien
Gegenstand
D-3556/2006
Sachverhalt:
A.
A.a
Die Beschwerdeführerin – eine Kurdin mit alevitischer Religionszuge-
hörigkeit aus B._______ – verliess ihre Heimat am 12. März 2003 und
gelangte am 17. März 2003 in die Schweiz, wo sie selbentags ein
Asylgesuch stellte. Am 21. März 2003 wurde die Beschwerdeführerin
im Empfangs- und Verfahrenszentrum (ehemals Empfangsstelle)
C._______ summarisch zum Reiseweg und zu den Asylgründen
befragt. Am 30. September 2003 führte die kantonale Behörde eine
Anhörung durch.
A.b
Zur Begründung ihres Asylgesuchs machte die Beschwerdeführerin im
Wesentlichen geltend, sie habe von 1992 bis 1994 die PKK ("Partiya
Karkerên Kurdistan") in ihrem ehemaligen Wohnort in D._______
(I._______) mit Essen versorgt, weshalb die Spezialeinheit der
türkischen Polizei (Özeltim) ihr Haus durchsucht und ihre Tiere getötet
habe. In diesem Zusammenhang sei sie im Jahr 1994 festgenommen
und ein Strafverfahren sei gegen sie eingeleitet worden. Während der
sechsmonatigen Haft sei sie sehr schlecht behandelt beziehungsweise
vergewaltigt worden. Ihre Schultern und die Sehnen an den
Handgelenken seien vom Aufhängen schwer beschädigt worden. Nach
ihrer Entlassung sei sie von der Spezialeinheit der türkischen Polizei
aus C._______ vertrieben worden, weswegen sie nach B._______
umgezogen sei. Dort sei sie Mitglied der HADEP ("Halkin Demokrasi
Partisi") geworden, habe zuerst als Sekretärin und dann – ab
2002/2003 – im Vorstand ("Exekutive") der Partei des Distrikts von
E._______ (B._______) gearbeitet, wobei sie Treffen und
Arbeitsgruppen organisiert respektive Pressekonferenzen vorbereitet
habe. Seitdem sei sie immer wieder in Gewahrsam genommen
worden. Im Weiteren sei sie im Jahr 1997 bei der "F._______", einer
der HADEP nahestehenden Zeitung, tätig gewesen, welche später von
den türkischen Behörden geschlossen worden sei. Anfang des Jahres
2003, nachdem sie an einer Pressekonferenz in E._______ bezie-
hungsweise in G._______ teilgenommen habe, sei sie von Personen,
welche sich als Polizisten ausgewiesen hätten, in einem Auto abge-
führt, einvernommen und belästig worden. Dies habe bei ihr die Erin-
nerungen an die Vergewaltigung von 1994 wachgerufen und ihre Angst
vor neuen Verhaftungen habe stark zugenommen. Aus diesem Grund
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habe sie in der Türkei einen Arzt konsultiert, welcher eine schwere De-
pression und ein Trauma diagnostiziert habe. Sie sei ebenfalls Mitglied
des türkischen Menschenrechtsvereins IHD ("Insan Haklari Dernegi").
Die Beschwerdeführerin hat verschiedene Beweismittel ins Recht ge-
legt: Unter anderem ein Arztrezept vom 6. Februar 2003, je eine be-
glaubigte Kopie der Anklageschrift des DG H._______ vom 13. Ju-
ni 1994 beziehungsweise eines Befragungsprotokolls des Friedens-
strafgerichtes I._______ vom 16. Mai 1994 und eines Urteils des DG
H._______ vom 6. Juni 1995 sowie eine Kopie der Kanditatenliste für
die Wahl in die Distriktverwaltung der HADEP. Diese Unterlagen liegen
alle in türkisch vor (vgl. Beweismittelumschlag A1).
A.c Das Bundesamt verzichtete in der Folge auf die Vornahme weite-
rer Abklärungen respektive einer ergänzenden Anhörung der Be-
schwerdeführerin.
B.
Mit Verfügung vom 18. Februar 2004 lehnte das BFF das Asylgesuch
vom 17. März 2003 ab, verfügte die Wegweisung aus der Schweiz und
ordnete den Wegweisungsvollzug an.
C.
Mit Eingabe vom 20. März 2004 erhob die Beschwerdeführerin bei der
damals zuständigen Schweizerischen Asylrekurskommission (ARK)
Beschwerde gegen die vorinstanzliche Verfügung und beantragte de-
ren vollumfängliche Aufhebung (Ziff. 1 der Rechtsbegehren) und die
Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziff. 2) beziehungsweise die
Gewährung von Asyl (Ziff. 3). In formeller Hinsicht stellte sie das Ge-
such um Verzicht der Erhebung eines Kostenvorschusses (Ziff. 4). Der
Beschwerde wurde eine Fürsorgebestätigung des Freiburgischen Ro-
ten Kreuzes vom 18. März 2004 beigelegt. Zudem wurden Unterlagen
betreffend der Behandlung der Folterfolgen und ein Arztbericht in Aus-
sicht gestellt.
D.
Mit Zwischenverfügung der damals zuständigen Instruktionsrichterin
der ARK vom 2. April 2004 wurde auf die Erhebung eines Kostenvor-
schusses verzichtet. Gleichzeitig wurde die Beschwerdeführerin aufge-
fordert, ein aktuelles ärztliches Zeugnis einzureichen.
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E.
Am 5. April 2004 (Poststempel) reichte die Beschwerdeführerin einen
medizinischen Bericht von Dr. _______ der türkischen Stiftung für
Menschenrechte ("Human Rights Foundation of Turkey [HRFT]"),
Sektion B._______, in türkischer Sprache zu den Akten (Original). Sie
ersuchte um amtliche Übersetzung des Berichts.
F.
Am 13. April 2004 reichte die Beschwerdeführerin je ein Arztzeugnis
vom 7. April 2004 von Dr. med. _______ und von Dr. med. _______
ein.
G.
Mit Zwischenverfügung vom 22. April 2004 wies die damals zuständige
Instruktionsrichterin der ARK das Gesuch um amtliche Übersetzung
ab und setzte der Beschwerdeführerin Frist zur Übersetzung des me-
dizinischen Berichts an.
H.
Mit Schreiben vom 29. April 2004 wies die Beschwerdeführerin zum
einen darauf hin, dass sie sich gegenwärtig in Spitalpflege befinde,
zum andern reichte sie eine französische Übersetzung des ärztlichen
Berichts der HRFT ein (siehe oben Bst. E.), welcher gestützt auf eine
schriftliche Anfrage der Beschwerdeführerin vom 22. März 2004 er-
stellt worden sei.
I.
Am 1. Juli 2005 legte die Beschwerdeführerin ein Arztzeugnis von
Dr. _______, Kantonales Psychiatrisches Spital des Kantons Freiburg,
vom 9. Juni 2005 ins Recht. Diesem Arztzeugnis ist zu entnehmen,
dass sie nach einem Suizidversuch vom 16. März bis 18. April 2005
hospitalisiert gewesen sei.
J.
Am 14. November 2005 wurde ein Referenzschreiben vom 9. Novem-
ber 2005 von J._______, welcher im Zentralkomitee des IHD gear-
beitet habe, in türkischer Sprache mit Übersetzung zu den Akten ge-
reicht.
K.
Am 20. Dezember 2005 ersuchte der neu mandatierte Rechtsvertreter
um Ergänzung seiner Verfahrensakten. Die damals zuständige Instruk-
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tionsrichterin stellte dem Rechtsvertreter die entsprechenden Unterla-
gen zu.
L.
Am 21. März 2006 wurde ein medizinischer Kurzbericht von Dr. med.
_______ vom 20. März 2006 zu den Akten gereicht.
M.
Am 14. Juni 2007 wurde das BFM zu einem Schriftenwechsel eingela-
den.
N.
In der Vernehmlassung vom 27. Juni 2007 hielt die Vorinstanz vollum-
fänglich an ihren Erwägungen fest und beantragte die Abweisung der
Beschwerde. Auf den Inhalt der vorinstanzlichen Stellungnahme wird –
soweit entscheidwesentlich – in den Erwägungen eingegangen.
O.
Am 28. Juni 2007 erhielt die Beschwerdeführerin Gelegenheit, zur Ver-
nehmlassung des BFM vom 27. Juni 2007 Stellung zu nehmen.
P.
Die Beschwerdeführerin liess sich am 13. Juli 2007 vernehmen und
reichte gleichzeitig einen Zeitungsartikel aus der "Öszür Ülke" von
1994 samt französischer Übersetzung ein. Auf die Begründung der
Replik wird – soweit entscheidwesentlich – in den Erwägungen einge-
gangen.
Q.
Am 19. Juli 2007 reichte die Beschwerdeführerin ein Schreiben in tür-
kischer Sprache von K._______ vom IHD in B._______ datiert vom 7.
Juli 2007 mit deutscher Übersetzung, das Zustellkuvert und ein Arzt-
zeugnis von Dr. med. _______ vom 5. Juli 2007 zu den Akten.
R.
Die Beschwerdeführerin ersuchte am 16. Juni 2004, 1. Juli 2005,
28. Juli 2005, 3. November 2005, 16. November 2005, 2. Mai 2006 und
am 15. März 2009 um einen baldigen Entscheid oder um die Mittei-
lung, wann mit dem Abschluss des Verfahrens gerechnet werden kön-
ne.
Seite 5
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Das Bundesverwaltungsgericht zieht in Erwägung:
1.
1.1 Gemäss Art. 31 des Verwaltungsgerichtsgesetzes vom
17. Juni 2005 (VGG, SR 173.32) beurteilt das Bundesverwaltungsge-
richt Beschwerden gegen Verfügungen nach Art. 5 des Bundesge-
setzes vom 20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren
(VwVG, SR 172.021). Das BFM gehört zu den Behörden nach Art. 33
VGG und ist daher eine Vorinstanz des Bundesverwaltungsgerichts.
Eine das Sachgebiet betreffende Ausnahme im Sinne von Art. 32 VGG
liegt nicht vor. Das Bundesverwaltungsgericht ist daher zuständig für
die Beurteilung der vorliegenden Beschwerde und entscheidet in die-
sem Bereich endgültig (Art. 105 des Asylgesetzes vom 26. Juni 1998
[AsylG, SR 142.31]; Art. 83 Bst. d Ziff. 1 des Bundesgerichtsgesetzes
vom 17. Juni 2005 [BGG, SR 173.110]).
1.2 Das Bundesverwaltungsgericht hat am 1. Januar 2007 die Beurtei-
lung der bei der ARK hängigen Rechtsmittel übernommen. Das neue
Verfahrensrecht ist anwendbar (vgl. Art. 53 Abs. 2 VGG).
1.3 Die Beschwerde ist form- und fristgerecht eingereicht. Die Be-
schwerdeführerin ist durch die angefochtene Verfügung berührt und
hat ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung beziehungswei-
se Änderung. Die Beschwerdeführerin ist daher zur Einreichung der
Beschwerde legitimiert (Art. 6 AsylG i.V.m. Art. 48 Abs. 1 und 50 und
52 VwVG). Auf die Beschwerde ist einzutreten.
2.
Mit Beschwerde kann die Verletzung von Bundesrecht, die unrichtige
oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts
und die Unangemessenheit gerügt werden (Art. 106 Abs. 1 AsylG).
3.
3.1 Gemäss Art. 2 Abs. 1 AsylG gewährt die Schweiz Flüchtlingen
grundsätzlich Asyl. Als Flüchtling wird eine ausländische Person aner-
kannt, wenn sie in ihrem Heimatstaat oder im Land, in dem sie zuletzt
wohnte, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu
einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen An-
schauungen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt ist oder begründete
Furcht hat, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden. Als ernsthafte
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Nachteile gelten namentlich die Gefährdung von Leib, Leben oder
Freiheit sowie Massnahmen, die einen unerträglichen psychischen
Druck bewirken; den frauenspezifischen Fluchtgründen ist Rechnung
zu tragen (Art. 3 AsylG).
3.2 Wer um Asyl nachsucht, muss die Flüchtlingseigenschaft nachwei-
sen oder zumindest glaubhaft machen. Diese ist glaubhaft gemacht,
wenn die Behörde ihr Vorhandensein mit überwiegender Wahrschein-
lichkeit für gegeben hält. Unglaubhaft sind insbesondere Vorbringen,
die in wesentlichen Punkten zu wenig begründet oder in sich wider-
sprüchlich sind, den Tatsachen nicht entsprechen oder massgeblich
auf gefälschte oder verfälschte Beweismittel abgestützt werden (Art. 7
AsylG).
3.3 Die Flüchtlingseigenschaft gemäss Art. 3 AsylG erfüllt eine asylsu-
chende Person nach Lehre und Rechtsprechung dann, wenn sie Nach-
teile von bestimmter Intensität erlitten hat bzw. mit beachtlicher Wahr-
scheinlichkeit und in absehbarer Zukunft begründeterweise befürchten
muss, welche ihr gezielt und aufgrund bestimmter Verfolgungsmotive
durch Organe des Heimatstaates oder durch nichtstaatliche Akteure
zugefügt worden sind bzw. zugefügt zu werden drohen (vgl. Entschei-
de des Schweizerischen Bundesverwaltungsgerichts [BVGE] 2008/4
E. 5.2 S. 37; Entscheidungen und Mitteilungen der Schweizerischen
Asylrekurskommission [EMARK] 2006 Nr. 18 E. 7 und 8 S. 190 ff.;
EMARK 2005 Nr. 21 E. 7 S. 193). Aufgrund der Subsidiarität des
flüchtlingsrechtlichen Schutzes setzt die Zuerkennung der Flüchtlings-
eigenschaft ausserdem voraus, dass die betroffene Person in ihrem
Heimatland keinen ausreichenden Schutz finden kann (vgl. BVGE
2008/4 E. 5.2 S. 37 f.; EMARK 2006 Nr. 18 E. 10 S. 201 ff.; EMARK
2005 Nr. 21 E. 7.3 S. 194 und E. 11.1 S. 201 f.). Ausgangspunkt für die
Beurteilung der Flüchtlingseigenschaft ist die Frage nach der im Zeit-
punkt der Ausreise vorhandenen Verfolgung oder begründete Furcht
vor einer solchen. Die Situation im Zeitpunkt des Asylentscheides ist
jedoch im Rahmen der Prüfung nach der Aktualität der Verfolgungs-
furcht ebenfalls wesentlich. Veränderungen der objektiven Situation im
Heimatstaat zwischen Ausreise und Asylentscheid sind deshalb zu-
gunsten und zulasten der das Asylgesuch stellenden Person zu be-
rücksichtigen (vgl. BVGE 2008/4 E. 5.4 S. 38 f.; EMARK 2000 Nr. 2
E. 8a S. 20; Walter Stöckli, Asyl, in: Uebersax/Rudin/Hugi Yar/Geiser
[Hrsg.], Ausländerrecht, Basel/Bern/Lausanne 2009, Rz. 11.17 und
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11.18; Walter Kälin, Grundriss des Asylverfahrens, Basel/Frankfurt
a.M. 1990, S. 135 ff.).
4.
4.1 Die Vorinstanz führte in ihrer Verfügung aus, dass die Haft von fünf
Monaten im Jahr 1994 und die schlechte Behandlung während dieser
Zeit mehr als acht Jahre zurücklägen, weshalb sie in zeitlicher und
sachlicher Hinsicht nicht mehr kausal für die Flucht sein könnten. Im
Weiteren könne zwar nicht völlig ausgeschlossen werden, dass die
Beschwerdeführerin zweimal im Jahr 2003 aufgrund der von ihr gel-
tend gemachten Aktivitäten bei der HADEP kurz angehalten worden
sei. Jedoch genügten diese Tätigkeiten und ihre Position in der ehe-
maligen HADEP – aus ihren Angaben gehe hervor, dass sie in der
ehemaligen HADEP keine Position bekleidet habe, welche sie einer
Verfolgungsgefahr ausgesetzt hätte – nicht, dass sich die Behörden
grundsätzlich für sie interessierten beziehungsweise die Beschwerde-
führerin eine begründete Furcht haben müsse, allenfalls künftig ernst-
haften Nachteilen ausgesetzt zu werden. Ihre Vorbringen seien nicht
asylrelevant, weshalb die Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen nicht geprüft
werden müssten.
4.2 Die Beschwerdeführerin machte in der Beschwerdeeingabe gel-
tend, dass ihr durch die polizeilichen Anhaltungen vom Januar und
Februar 2003 die intensiven – von staatlichen Organen begangenen –
Demütigungen vom Jahr 1994 wieder in Erinnerung gerufen worden
seien (Flashbacks). Damals habe sie noch an eine innerstaatliche
Fluchtalternative geglaubt, weshalb sie ihre Herkunftsregion verlassen
und sich in B._______ niedergelassen habe. Im Zeitpunkt der Ausreise
aus der Türkei habe sie sich jedoch vor einer Wiederholung der
traumatisierenden Erlebnisse dermassen gefürchtet, dass für sie
lediglich eine Flucht ins Ausland in Frage gekommen sei. Weiter sei bis
zum März 2003 die HADEP der legale Arm der PKK gewesen. Ein
grosser Teil ihres Engagements habe Frauenanliegen gegolten.
Darüber hinaus sei sie im Jahr 2003 in die Exekutive der HADEP
gewählt worden. Aus diesen Gründen sei der Kausalzusammenhang
zwischen den Geschehnissen im Jahr 1994 und der Flucht im Frühjahr
2003 nicht unterbrochen worden. Da sie in einem gerichtlichen
Verfahren der PKK involviert gewesen sei, bestehe zudem eine grosse
Wahrscheinlichkeit, dass sie trotz Freispruch noch immer in der Türkei
registriert sei beziehungsweise bei einer Rückkehr nach wie vor
Repressalien zu befürchten habe.
Seite 8
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4.3 Die Vorinstanz hielt in ihrer Vernehmlassung vom 27. Juni 2007 im
Wesentlichen fest, dass den eingereichten Referenzschreiben, welche
die Verfolgung der Beschwerdeführerin belegen sollen, keine Beweis-
kraft zukomme. Obwohl die Beschwerdeführerin Mitglied der HADEP
und des IHD gewesen sei und für diese gewisse Funktionen
("certaines fonctions") ausgeübt habe, gehe aus den eingereichten Be-
weismitteln nicht hervor, dass sie eine derart führende Stellung einge-
nommen habe, welche sie der Gefahr einer asylrelevanten Verfolgung
ausgesetzt hätte. Die Beschwerdeführerin habe – wie sie selber bestä-
tige – (lediglich) Pressekonferenzen organisiert, anlässlich welcher sie
keine besonderen Aufgaben wahrgenommen habe. Im Übrigen sei ge-
gen die Beschwerdeführerin, die wegen ihrer Teilnahmen an Presse-
konferenzen und anderen Veranstaltungen mehrere Male für kurze Zeit
mitgenommen worden sei, kein Verfahren wegen diesen Aktivitäten er-
öffnet worden. Die diagnostizierte Posttraumatische Belastungsstörung
(PTBS) könne zudem in der Türkei behandelt werden.
4.4 Die Beschwerdeführerin erklärte in ihrer Stellungnahme vom
13. Juli 2007 im Wesentlichen, dass die Mitgliederlisten der HADEP
und der IHD den staatlichen Organen bekannt seien. Weder eine förm-
liche Mitgliedschaft noch die formelle Stellung innerhalb der Organisa-
tionshierarchie sei ein verlässliches Kriterium für die Beurteilung des
Verfolgungsrisikos einer Person. Es könne davon ausgegangen wer-
den, dass die türkischen Behörden solche Personen bevorzugt über-
wachten, weil diese häufig Kontakte zu den illegalen Parteigruppen
oder zu den bewaffneten Kämpfern pflegten. Im Jahr 1994 sei ihr Dorf
D._______ vollständig vom türkischen Militär niedergebrannt worden.
Ausserdem sei im Jahr 1993 ihre Cousine _______ der PKK bei-
getreten, weshalb sie (die Beschwerdeführerin) beschuldigt worden
sei, auch Beziehungen zur PKK zu haben. Ihre Cousine sei im
Jahr 1994 vom türkischen Militär getötet worden. Aufgrund der Offi-
zialmaxime sei die Vorinstanz verpflichtet, ihre Situation konkret am
Ort ihrer Rückkehr abzuklären. Zudem benötige sie eine ständige und
intensive psychotherapeutische Behandlung.
5.
5.1 Im Asylverfahren ist der Sachverhalt grundsätzlich von Amtes we-
gen festzustellen (Art. 12 VwVG i.V.m. Art. 6 AsylG). Die Asylbehörden
haben aufgrund dieser Untersuchungspflicht von Amtes wegen für die
richtige und vollständige Abklärung des Sachverhalts zu sorgen. Un-
vollständig ist die Sachverhaltsfeststellung, wenn nicht alle für den
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Entscheid rechtserheblichen Sachumstände berücksichtigt wurden; un-
richtig, wenn dem Entscheid ein falscher und aktenwidriger Sachver-
halt zugrunde gelegt wurde, wie dies etwa auch dann der Fall ist, wenn
die Rechtserheblichkeit einer Tatsache zu Unrecht verneint wurde und
diese gar nicht erst zum Gegenstand eines Beweisverfahrens gemacht
wurde. Die behördliche Untersuchungspflicht wird durch die den
Asylsuchenden gestützt auf Art. 8 AsylG auferlegte Mitwirkungspflicht
eingeschränkt, wobei sie insbesondere bei der Anhörung vollständig
anzugeben haben, weshalb sie um Asyl nachsuchen (vgl. Art. 8 Abs. 1
Bst. c AsylG). Die Asylsuchenden trifft indessen nicht nur eine
Mitwirkungspflicht, sie haben vielmehr auch einen Anspruch auf Mit-
wirkung, was sich unmittelbar aus dem Anspruch auf rechtliches Ge-
hör (Art. 29 Abs. 2 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidge-
nossenschaft vom 18. April 1999 [BV, SR 101]; Art. 29 ff. VwVG i.V.m.
Art. 6 AsylG) ergibt (vgl. Entscheidungen und Mitteilungen der
Schweizerischen Asylrekurskommission [EMARK] 2004 Nr. 30 E. 5.3.1
S. 209). Zunächst – und für die Prozessparteien regelmässig im
Vordergrund stehend – gehört dazu das Recht auf vorgängige
Äusserung und Anhörung, welches den Betroffenen einen Einfluss auf
die Ermittlung des wesentlichen Sachverhaltes sichert. Dabei kommt
der von einem Verfahren betroffenen Person der Anspruch zu, sich
vorgängig einer behördlichen Anordnung zu allen wesentlichen
Punkten, welche die Feststellung des rechtserheblichen Sachverhaltes
(nicht aber dessen rechtliche Würdigung, welche Sache des Gerichts
ist) betreffen, zu äussern und von der betreffenden Behörde alle dazu
notwendigen Informationen zu erhalten. Unerlässliches Gegenstück
der Mitwirkungsrechte der Parteien bildet ausserdem als weiterer
Teilgehalt des rechtlichen Gehörs die Pflicht der Behörden, die
Vorbringen der Betroffenen sorgfältig und ernsthaft zu prüfen und in
der Entscheidfindung zu berücksichtigen; daraus folgt schliesslich
auch die grundsätzliche Pflicht der Behörden, ihren Entscheid zu
begründen (vgl. BVGE 2007/21 E. 10.2 S. 248 f.).
5.2 Im Rahmen der unmittelbar aus Art. 29 Abs. 2 BV folgenden be-
hördlichen Begründungspflicht (vgl. auch Art. 35 Abs. 1 VwVG) hat die
verfügende Behörde zudem die Überlegungen substanziiert zu nen-
nen, von denen sie sich leiten lässt und auf die sich der Entscheid
stützt. Eine hinreichende Begründung bildet die Grundlage für eine
sachgerechte Anfechtung der Verfügung durch die Betroffenen und
stellt gleichzeitig eine unabdingbare Voraussetzung für die Beurteilung
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ihrer Rechtmässigkeit durch die Beschwerdeinstanz dar (vgl. auch
EMARK 2004 Nr. 38).
5.3 Wie bereits dargelegt, ging das Bundesamt zweifelsfrei von der
Glaubhaftigkeit der Vorbringen der Beschwerdeführerin aus, erachtete
diese jedoch als nicht relevant im Sinne von Art. 3 AsylG. Es bezeich-
nete die Geschehnisse aus dem Jahr 1994 – namentlich die fünfmona-
tige Inhaftierung der Beschwerdeführerin und die schlechte Behand-
lung während dieser Zeit – mangels zeitlicher und sachlicher Nähe als
nicht kausal und somit flüchtlingsrechtlich nicht beachtlich. Die späte-
ren politischen Tätigkeiten der Beschwerdeführerin für die damalige
HADEP, welchen sie bis zu ihrer Ausreise nachging, respektive die gel-
tend gemachten Festnahmen im Jahr 2003 betrachtete die Vorinstanz
unabhängig von den vorgenannten Ereignissen und kam zum Schluss,
dass die Beschwerdeführerin keine begründete Furcht vor künftiger
Verfolgung habe, zumal gegen sie aufgrund der geltend gemachten
Aktivitäten seitens der türkischen Behörden kein Verfahren eröffnet
worden sei.
5.3.1 Zunächst ist festzuhalten, dass die Vorinstanz die Vorbringen der
Beschwerdeführerin zeitlich strikte trennte (Ereignis 1994/95 und Mit-
nahmen im Jahr 2003), obwohl die Beschwerdeführerin geltend mach-
te, sie habe auch nach ihrer Entlassung im Jahr 1995 fortan keine
Ruhe gehabt und sei dauernd unter Druck gestanden, wenn auch
"eher" in Form verbaler Belästigungen (A2 S. 6) respektive sie sei
auch während ihrer Tätigkeit als Layouterin bei der an sich legalen
prokurdischen Zeitung "F._______" im Jahr 1996/97 staatlichen
Druckmassnahmen ausgesetzt gewesen (A7 S. 6); seit sie bei der
HADEP-Verwaltung gearbeitet habe, sei sie öfters in Gewahrsam ge-
nommen worden (A2 S. 4). Diese Behelligungsvorbringen der Be-
schwerdeführerin für die Zeitspanne von 1994/95 bis 2003 wurden von
der Vorinstanz weder anlässlich der Anhörungen mittels vertiefendem
Nachfragen näher ergründet (vgl. beispielsweise A2 S. 5 und A7 S. 10)
noch bei ihrem Entscheid miterwogen. Dieses Vorgehen ist im vorlie-
genden Fall – nicht zuletzt auch aufgrund der nachfolgenden Erwägun-
gen – in sachverhaltlicher Hinsicht unsorgfältig respektive nicht sach-
gerecht.
5.3.2 Das Bundesamt hat den Aktivitäten der Beschwerdeführerin für
die HADEP sodann eine "exponierte Funktion" in dem Sinne abge-
sprochen, als dass ihr gestützt darauf eine staatliche Verfolgung ge-
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droht hätte. Es trifft zwar zu, wie das BFM in seiner Vernehmlassung
zutreffend ausführte, dass die Beschwerdeführerin selber ihre Stellung
und Funktion eher als untergeordnet bezeichnete ("Je n'avais pas de
tâche spéciale, j'étais dans la foule avec mes camarades", A7 S. 9).
Nichtsdestotrotz geht aus den Akten hervor, dass die
Beschwerdeführerin nicht "nur" einfaches Mitglied bei der HADEP war,
sondern für diese Partei zunächst auch als Sekretärin gearbeitet hat,
wofür sie offenbar zumindest eine Zeit lang auch entlöhnt worden war
(A7 S. 7 f.), sie war mithin für die Verwaltung der HADEP tätig (A2 S. 2
und 4). Später wurde sie gemäss ihren Angaben in den Parteivorstand
der Sektion B._______/E._______ gewählt (A2 S. 6 und A7 S. 5) – ein
Vorbringen, welches sie mit der Abgabe einer Kopie der Liste mit den
Kandidatinnen und der Kandidaten, auf welcher tatsächlich auch ihr
Name aufgeführt ist, untermauerte (vgl. Beweismittelumschlag A1
Nr. 8). In diesem Zusammenhang hat sie weiter angegeben, sie sei
Delegierte der HADEP für die Stadt (E._______) gewesen
("Personnellement j'étais déléguée du parti pour la ville", A7 S. 9)
Weiter hat die Beschwerdeführerin angegeben, sie habe zusammen
mit anderen Frauen die Frauenarbeit der Partei organisiert respektive
frauenspezifische Arbeiten betreut (A2 S. 4). Die Beschwerdeführerin
dürfte somit aufgrund der geschilderten Tätigkeiten während einigen
Jahren als Sekretärin für die Parteiverwaltung wohl täglich im HADEP-
Gebäude ein- und ausgegangen sein und in der letzten Zeit ihres
Aufenthalts als Vorstandsmitglied der HADEP des Distrikts E._______
eine Art (zumindest lokale) politische Führungsrolle bekleidet haben.
Vor diesem Hintergrund greift jedenfalls die Schlussfolgerung des
Bundesamtes, "la position occupée par l'intéressée ne peut être
considérée comme une position dirigeante l'exposant à des risques de
persécutions déterminantes en matière d'asile" eindeutig zu kurz. Die
obige Darstellung der Aktivitäten der Beschwerdeführerin für die
HADEP lässt zwar per se noch nicht auf ein aktives Mittun bei
wichtigen politischen Geschäften innerhalb der Partei schliessen.
Festzustellen ist indessen, dass die Beschwerdeführerin anlässlich der
Befragungen in diesem Zusammenhang zu wenig spezifische und
konkret befragt worden ist.
5.3.3 Die Vorinstanz führt in ihrem Entscheid in diesem Zusammen-
hang weiter aus, das türkische Verfassungsgericht in Ankara habe am
13. März 2003 das Verbot der HADEP verfügt und über 46 Führungs-
mitglieder der Partei ein fünfjähriges politisches Betätigungsverbot ver-
hängt; einfache Mitglieder ("des simples membres") seien nicht Opfer
Seite 12
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von Verfolgungshandlungen seitens der türkischen Behörden gewor-
den. Wie vorstehend dargelegt, kann die Beschwerdeführerin aufgrund
des bisher festgestellten Sachverhalts kaum als "einfaches Mitglied
der HADEP" bezeichnet werden. Diesbezüglich mitentscheidend sein
könnte sodann der Umstand, dass die Beschwerdeführerin ihren
Angaben zufolge am 12. März 2003 – mithin ein Tag bevor das
Parteiverbot der HADEP verfügt wurde – aus der Türkei ausgereist ist
und in der letzten Zeit der Partei vor dem Verbot (in der Phase
2002/2003), während welcher von einer erhöhten
Überwachungsintensität durch die türkischen Behörden auszugehen
ist, zumindest eine lokale Führungsposition eingenommen haben
dürfte. Nach Kenntnissen des Gerichts sind nämlich nicht nur nationale
Kaderpersonen der HADEP ins Visier der Behörden gelangt, sondern
in Einzelfällen auch solche, welche auf Kreisebene aktiv waren.
5.3.4 Hinsichtlich der Frage, ob die Beschwerdeführerin begründete
Furcht vor künftigen asylrelevanten Behelligungen haben muss, ist
weiter zu berücksichtigen, dass sie Mitte der 1990er Jahren in Unter-
suchungshaft – mutmasslich wegen des Verdachts der Unterstützung
der PKK (vgl. A2 S. 6) – und 1995 freigesprochen worden war. Sie hat
in diesem Zusammenhang Kopien der Anklageschrift vom 13. Ju-
ni 1994, eines Befragungsprotokolls vom 16. Mai 1994 und des Urteils
des DG H._______ vom 6. Juni 1995 zu den Akten gereicht
(Beweismittelumschlag A1 Nrn. 5-7). Die Vorinstanz hat weder diese
Gerichtsdokumente übersetzt noch die Beschwerdeführerin näher zu
den ihr von den türkischen Behörden vorgeworfenen Taten befragt.
Aus nachfolgend aufgeführten Überlegungen ist dem BFM auch in
diesem Punkt eine unsorgfältige respektive mangelnde
Sachverhaltsabklärung vorzuwerfen.
5.3.5 Nach dem bisher Gesagten ist zusammenfassend davon auszu-
gehen, dass die Beschwerdeführerin Mitte der 1990er Jahren in ein
Gerichtsverfahren – mutmasslich wegen Unterstützung der PKK – ver-
wickelt war und somit erstmals ins Visier der türkischen Behörden ge-
langt war. In der Folge wurde sie Mitglied der HADEP, wo sie unter an-
derem als Sekretärin tätig war und die Parteibelange in Sachen
Frauenanliegen betreut hat. Während dieser Zeit sei sie eigenen Anga-
ben zufolge immer wieder unter behördlichem Druck gestanden. Im
Zeitraum 2002/2003 – mithin kurz bevor die HADEP verboten wurde –
ist sie in den Parteivorstand des Distrikts B._______/E._______
gewählt worden und, was die Vorinstanz nicht in Zweifel zieht, zwei
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Mal von den Behörden mitgenommen, bedroht und dann wieder
freigelassen worden. Aufgrund dieser beiden letzten Vorkommnisse ist
die Beschwerdeführerin aus der Türkei ausgereist.
Die sich nunmehr stellende entscheidende Frage in Bezug auf den re-
levanten Sachverhalt ist, ob die türkischen Behörden über die Be-
schwerdeführerin möglicherweise bereits Mitte der 1990er Jahre
und/oder später, als sie in den Distriktsvorstand der HADEP gewählt
worden war, ein politisches Datenblatt erstellt haben (vgl. auch Be-
schwerde vom 20. März 2004 S. 3 Ziff. 2). Nach Erkenntnissen des
Bundesverwaltungsgerichts ist es bei einer solchen Sachlage durch-
aus denkbar, wenn nicht sogar naheliegend, dass die Beschwerdefüh-
rerin tatsächlich fichiert wurde. Kriterien für die Fichierung können un-
ter anderen eine erfolgte Verhaftung aus politischen Gründen sein,
dies auch, wenn das Verfahren nicht mit einer Verurteilung abge-
schlossen wurde. Gemäss weiterhin Gültigkeit beanspruchendem Ur-
teil der ARK (EMARK 2005 Nr. 11 E. 5 S. 94 f. sowie exemplarisch Ur-
teil des Bundesverwaltungsgerichts E-3247/2006 vom 6. Mai 2009
E. 5.2 S. 9 f.) ist in der Regel bereits aufgrund einer Fichierung mittels
eines politischen Datenblattes von einer begründeten Furcht vor künfti-
ger asylrechtlich relevanter Verfolgung auszugehen. Eine Abklärung
hinsichtlich der Frage der Existenz solcher Datenblätter ist praxisge-
mäss einzig im Rahmen einer Botschaftsabklärung möglich, was das
Bundesamt jedoch unterlassen hat.
6.
Das Bundesverwaltungsgericht kommt zum Schluss, dass die Vorins-
tanz den rechtserheblichen Sachverhalt in Missachtung der behördli-
chen Untersuchungspflicht unvollständig feststellte. Es fehlt deshalb
vorliegend an der erforderlichen Entscheidreife.
6.1 Zwar kann die Missachtung entsprechender Verfahrensvorschrif-
ten durch das BFM aufgrund der umfassenden Kognition des Bundes-
verwaltungsgerichts (vgl. Art. 106 AsylG) in bestimmten Schranken ge-
heilt werden. Eine sachgerechte Lösung im Sinne einer Heilung oder
Kassation muss sich aber unter anderem an Art und Umfang der noch
erforderlichen Abklärungsmassnahmen orientieren. Dies wäre – um
die Entscheidreife nachträglich herzustellen – vorliegend spätestens
im Rahmen des laufenden Beschwerdeverfahrens, beispielsweise im
Rahmen des Vernehmlassungsverfahrens, nachzuholen gewesen. Ob
die klare Missachtung von elementaren Verfahrensvorschriften durch
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die Vorinstanz erheblichen Einfluss auf das Ergebnis hatte, kann bei
einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör angesichts sei-
ner formellen Natur praxisgemäss von vornherein keine Rolle spielen
(vgl. EMARK 2004 Nr. 38 E. 7.1 S. 265 mit weiteren Hinweisen).
Schliesslich ist es auch nicht Sinn eines Beschwerdeverfahrens, für
eine vollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts zu
sorgen, wenn sich eine ergänzende Untersuchung wegen un-
sorgfältiger Verfahrensführung aufdrängt, die nur mit umfassenden Er-
mittlungen von Amtes wegen beseitigt werden können. Die Vorinstanz
hätte sich nach einer ersten korrekten Würdigung der erfolgten
Hinweise und eingereichten Beweismittel mit der Frage auseinan-
dersetzen müssen, ob über die Beschwerdeführerin in der Türkei – sei
es aufgrund des Gerichtsverfahrens Mitte der 1990er Jahre oder im
Zusammenhang mit ihrem, von der Vorinstanz verkannten, nicht
unbedeutenden Engagement für die HADEP – ein politisches
Datenblatt angelegt worden ist.
6.2 Da eine Heilung der erwähnten Verfahrensmängel im Rahmen des
Beschwerdeverfahrens nicht angebracht ist, ist die angefochtene Ver-
fügung aufzuheben und die Angelegenheit an die Vorinstanz zur Vor-
nahme der erforderlichen Abklärungen im Sinne der Erwägungen und
zur Neubeurteilung zurückzuweisen.
6.3 Lediglich der Vollständigkeit halber ist im Weiteren an dieser Stelle
anzufügen, dass die Vorinstanz – wie in der Beschwerde ebenfalls zu-
treffend eingewandt wurde – zu erörtern haben wird, ob die Beschwer-
deführerin angesichts ihrer Vorbringen und namentlich des mittels
Arztzeugnissen belegten schlechten psychischen Zustands im Zeit-
punkt ihrer Ausreise aus der Türkei allenfalls einem unerträglichen
psychischen Druck unterlag (vgl. hierzu EMARK 2005 Nr. 21 E. 10.3
S. 200 ff.).
7.
Nach dem Gesagten ist die Beschwerde insoweit gutzuheissen, als
beantragt wurde, dass die vorinstanzliche Verfügung vom 18. Febru-
ar 2004 aufzuheben sei (Ziff. 1 der Rechtsbegehren). Die Vorinstanz ist
anzuweisen, in der Sache neu zu entscheiden.
8.
8.1 Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Verfahrenskosten
aufzuerlegen (Art. 63 Abs. 1 VwVG i.V.m. Art. 37 VGG).
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8.2 Der ganz oder teilweise obsiegenden Partei ist eine Parteient-
schädigung für die ihr notwendigerweise erwachsenen Parteikosten
zuzusprechen (Art. 64 Abs. 1 VwVG sowie Art. 7 des Reglements vom
11. Dezember 2006 über die Kosten und Entschädigungen vor dem
Bundesverwaltungsgericht [VGKE, SR 173.320.2]). Weder die
vormalige Rechtsvertreterin noch der derzeitige Rechtsvertreter der
Beschwerdeführerin haben für dieses Verfahren eine Kostennote zu
den Akten gereicht. Auf die Nachforderung einer solchen kann indes
verzichtet werden, da sich die Vertretungskosten aufgrund der für das
Verfahren ausschlaggebenden Akten zuverlässig abschätzen lassen.
Demnach ist die Parteientschädigung unter Berücksichtigung aller
massgeblicher Faktoren auf insgesamt Fr. 2000.-- (inkl. Auslagen und
MWST) festzusetzen (vgl. Art. 16 Abs. 1 Bst. a VGG i.V.m. Art. 8 und
14 Abs. 2 VGKE).
(Dispositiv nächste Seite)
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Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:
1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen.
2.
Die Verfügung des BFM vom 18. Februar 2004 wird aufgehoben und
die Sache wird zur Durchführung der notwendigen Sachverhaltsabklä-
rungen im Sinne der Erwägungen sowie neuer Entscheidfindung an
die Vorinstanz zurückgewiesen.
3.
Es werden keine Verfahrenskosten auferlegt.
4.
Die Vorinstanz wird angewiesen, eine Parteientschädigung im Betrag
von Fr. 2000.-- (inkl. Auslagen und MWST) an die Beschwerdeführerin
zu entrichten.
5.
Dieses Urteil geht an:
- den Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin (Einschreiben)
- das BFM, Abteilung Aufenthalt, mit den Akten Ref.-Nr. N (...) (per
Kurier; in Kopie)
- (zuständige kantonale Behörde) (in Kopie)
Der vorsitzende Richter: Die Gerichtsschreiberin:
Daniel Schmid Milva Franceschi
Versand:
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