D-200/2016 - Abteilung IV - Nichteintreten auf Asylgesuch und Wegweisung (Dublin-Verfahren) - Nichteintreten auf Asylgesuch und Wegweisung (Dubl...
Karar Dilini Çevir:
D-200/2016 - Abteilung IV - Nichteintreten auf Asylgesuch und Wegweisung (Dublin-Verfahren) - Nichteintreten auf Asylgesuch und Wegweisung (Dubl...
A.
B u n d e s v e rw a l t u ng s g e r i ch t
T r i b u n a l ad m i n i s t r a t i f f éd é r a l
T r i b u n a l e am m in i s t r a t i vo f e d e r a l e
T r i b u n a l ad m i n i s t r a t i v fe d e r a l








Abteilung IV
D-200/2016



Ur t e i l vom 2 . J un i 2 0 1 6
Besetzung
Richter Thomas Wespi (Vorsitz),
Richter Daniele Cattaneo, Richter Bendicht Tellenbach,
Gerichtsschreiberin Regula Frey.


Parteien

A._______, geboren am (…), Eritrea,
B._______, geboren am (…), Eritrea,
beide vertreten durch lic. iur. Patricia Müller,
Rechtsberatungsstelle für Asylsuchende Aargau,
(…),
Beschwerdeführerinnen,


gegen


Staatssekretariat für Migration (SEM),
Quellenweg 6, 3003 Bern,
Vorinstanz.


Gegenstand

Nichteintreten auf Asylgesuch und Wegweisung
(Dublin-Verfahren);
Verfügung des SEM vom 29. Dezember 2015 / N (…).


D-200/2016
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Sachverhalt:
A.
Die Beschwerdeführerin und ihre C._______ Tochter verliessen ihr Heimat-
land Eritrea gemäss eigenen Angaben im Januar 2015 auf dem Landweg
Richtung D._______. Später hätten sie ihre Reise fortgesetzt und seien auf
dem Seeweg am 26. oder 27. Juli 2015 nach Italien gelangt. Am 9. August
2015 seien sie illegal in die Schweiz eingereist, wo sie am gleichen Tag im
Empfangs- und Verfahrenszentrum (EVZ) E._______ um Asyl nachsuch-
ten.
Am 19. August 2015 wurde der Beschwerdeführerin anlässlich der Befra-
gungen zur Person (BzP) zu einem allfälligen Nichteintretensentscheid auf-
grund der mutmasslichen Verfahrenszuständigkeit Italiens gemäss der
Verordnung (EU) 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates
vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestim-
mung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaats-
angehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags
auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. L180/31 vom 29.6.2013;
nachfolgend Dublin-III-VO) und zur Überstellung nach Italien das rechtliche
Gehör gewährt. Dabei erklärte die Beschwerdeführerin, zum einen seien
sie in Italien unerwünscht und zum anderen habe sie von Betroffenen er-
fahren, dass Asylsuchende in Italien auf der Strasse leben würden.
Mit Entscheid des SEM vom 19. August 2015 wurde der Beschwerdefüh-
rerin und ihrer Tochter für den Aufenthalt während des Verfahrens der Kan-
ton F._______ zugewiesen.
B.
Am 31. August 2015 ersuchte das SEM die italienischen Behörden um
Übernahme der Beschwerdeführerinnen gestützt auf Art. 13 Abs. 1 Dublin-
III-VO.
Die italienischen Behörden nahmen innerhalb der festgelegten Frist zum
Übernahmeersuchen des SEM keine Stellung. Am 21. Dezember 2015
stimmten die italienischen Behörden der Übernahme der Beschwerdefüh-
rerin und deren Tochter nachträglich explizit zu.
C.
Mit Verfügung vom 29. Dezember 2015 – eröffnet am 6. Januar 2016 – trat
das SEM in Anwendung von Art. 31a Abs. 1 Bst. b AsylG (SR 142.31) auf
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die Asylgesuche der Beschwerdeführerinnen nicht ein, ordnete die Weg-
weisung aus der Schweiz nach Italien sowie den Vollzug der Wegweisung
an und forderte sie auf, die Schweiz spätestens am Tag nach Ablauf der
Beschwerdefrist zu verlassen. Es hielt fest, dass den Beschwerdeführerin-
nen die editionspflichtigen Verfahrensakten ausgehändigt würden und ei-
ner allfälligen Beschwerde keine aufschiebende Wirkung zukomme.
Zur Begründung führte das SEM im Wesentlichen aus, die italienischen
Behörden hätten innerhalb der festgelegten Frist zum Übernahmeersu-
chen des SEM keine Stellung genommen, womit die Zuständigkeit gemäss
dem Abkommen vom 26. Oktober 2004 zwischen der Schweizerischen
Eidgenossenschaft und der Europäischen Gemeinschaft über die Kriterien
und Verfahren zur Bestimmung der zuständigen Staates für die Prüfung
eines in einem Mitgliedstaat oder in der Schweiz gestellten Asylantrags
(DAA, SR 0.142.392.68) und unter Anwendung von Art. 22 Abs. 7 Dublin-
III-VO auf Italien übergegangen sei.
Der Umstand, wonach sie in Italien zum Weitergehen aufgefordert worden
seien, vermöge nichts an der Zuständigkeit Italiens zur Durchführung des
Asyl- und Wegweisungsverfahrens zu ändern. Nach ihrer Rückführung
nach Italien hätten sie die Möglichkeit, ein Asylgesuch einzureichen. Es
obliege sodann den italienischen Behörden, das Asylgesuch zu prüfen und
anschliessend ihren Aufenthaltsstatus zu regeln oder gegebenenfalls die
Wegweisung in ihr Heimatland anzuordnen. Während eines hängigen Asyl-
verfahrens würden sie nicht als illegal anwesende Personen gelten. Die
Ausführungen der Beschwerdeführerinnen vermöchten die Zuständigkeit
Italiens zur Durchführung des Asyl- und Wegweisungsverfahrens nicht zu
widerlegen.
Sodann sei festzuhalten, dass Italien die Richtlinien 2013/32/EU (Verfah-
rensrichtlinie), 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie) und 2013/33/EU (Auf-
nahmerichtlinie) umgesetzt habe. Zudem würden keine systemischen
Mängel im Aufnahme- und Asylsystem vorliegen.
Mit dem Urteil Tarakhel gegen Schweiz vom 4. November 2014,
Nr. 29217/12, habe der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
(EGMR) die Überstellung von Familien mit minderjährigen Kindern nach
Italien im Rahmen eines Dublin-Verfahrens – ohne vorhergehende Zusi-
cherungen Italiens bezüglich einer altersgerechten Unterbringung unter
Wahrung der Familieneinheit – als Verstoss gegen Art. 3 EMRK erachtet.
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In einem Grundsatzurteil E-6629/2014 vom 12. März 2015 habe das Bun-
desverwaltungsgericht erläutert, dass die Zusicherung der italienischen
Behörden bezüglich einer dem Alter der Kinder entsprechenden Unterbrin-
gung unter Wahrung der Familieneinheit eine materielle Voraussetzung für
die Zulässigkeit des Wegweisungsvollzuges nach Italien darstelle. Dem-
entsprechend wäre eine Wegweisung ohne konkrete Zusicherungen unter
Nennung der Namen und des Alters aller betroffenen Personen völker-
rechtlich unzulässig. In einem Kreisschreiben vom 2. Februar 2015 habe
Italien den Mitgliedstaaten zugesichert, dass jede im Rahmen eines Dub-
lin-Verfahrens nach Italien überstellte Familie in einer kindsgerechten Un-
terbringungsstruktur und unter Wahrung der Familieneinheit aufgenommen
werde. Eine Liste mit Aufnahmeprojekten des Sistema per Richiedenti Asilo
e Rifugiati (SPRAR) sei der Europäischen Kommission am 15. April 2015
von Präfekt Morcone, Vorsteher des Departements für Bürgerfreiheiten
und Immigration im italienischen Innenministerium, übermittelt worden. In
den aufgeführten Projekten seien Aufnahmeplätze für Familien reserviert
worden, welche im Rahmen eines Dublin-Verfahrens nach Italien überstellt
würden. Diese Liste sei den Mitgliedstaaten in einem Rundschreiben vom
8. Juni 2015 zugänglich gemacht worden. Die genannten Projekte würden
nebst Unterkunft und Verpflegung eine engmaschige Betreuung der Asyl-
suchenden vorsehen, bei der sie bei der wirtschaftlichen und gesellschaft-
lichen Eingliederung individuell begleitet würden. Je nach Auslastung der
einzelnen Projekte würden die für Familien reservierten Aufnahmeplätze
fortlaufend ergänzt. Das konkrete SPRAR-Projekt, in dem eine Familie un-
tergebracht werde, werde bei der Ankunft festgelegt. Zusammen mit ihren
holländischen und deutschen Kollegen habe die Verbindungsperson des
SEM im italienischen Innenministerium zwei der aufgeführten SPRAR-Pro-
jekte besucht. Ein ausführlicher Bericht über die beiden Zentren habe auf-
gezeigt, dass die dort untergebrachten Familien eine vollumfängliche Be-
treuung erfahren würden, welche insbesondere auf eine wirtschaftliche und
gesellschaftliche Eingliederung der betroffenen Personen abziele.
Das SEM habe in seinem Übernahmeersuchen die italienischen Behörden
bereits darauf hingewiesen, dass die Beschwerdeführerinnen eine Familie
bilden würden. Italien habe dem Ersuchen um Aufnahme am 21. Dezember
2015 zugestimmt. Ihre Überstellung solle nach G._______ erfolgen.
In einem kürzlich ergangenen Urteil (D-4394/2015) sei das Bundesverwal-
tungsgericht zum Schluss gelangt, die von den italienischen Behörden er-
stellte Liste der eigens für Familien reservierten SPRAR-Projekte stelle be-
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reits an sich eine Garantie dar, dass Italien eine kindsgerechte Unterbrin-
gung unter Wahrung der Familieneinheit gewährleiste. Das Gericht habe
weiter ausgeführt, dass es den italienischen Behörden zukomme, die kon-
krete Unterkunft festzulegen, in der die Familie nach ihrer Rückkehr nach
Italien untergebracht werde. Angesichts der konkreten, überprüfbaren und
somit justiziablen Informationen hinsichtlich der Unterbringung der Be-
schwerdeführerinnen in Italien würden dem SEM keine konkreten Hinweise
vorliegen, dass Italien – trotz merklicher Probleme im Bereich der Aufnah-
mebedingungen für Asylsuchende – nicht in der Lage sein werde, sie und
ihr Kind gemeinsam und in einer dem Alter ihres Kindes gerecht werden-
den Struktur aufzunehmen. Abschliessend sei zu bemerken, dass Italien
Signatarstaat der des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstel-
lung der Flüchtlinge (FK, SR 0.142.30), der EMRK sowie des Übereinkom-
mens vom 10. Dezember 1984 gegen Folter und andere grausame, un-
menschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (FoK, SR 0.105)
sei. Vorliegend gebe es keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass sich
Italien nicht an die daraus resultierenden Verpflichtungen halten und den
Beschwerdeführerinnen insbesondere keinen effektiven Schutz vor Rück-
schiebung (Non-Refoulement-Gebot) gewähren würde. Somit sei festzu-
halten, dass nicht davon auszugehen sei, dass sie bei einer Überstellung
nach Italien im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-VO und Art. 3 EMRK gra-
vierenden Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt würden, in eine exis-
tenzielle Notlage gerieten oder ohne Prüfung ihrer Asylgesuche und unter
Verletzung des Non-Refoulement-Gebots in ihren Heimatstaat überstellt
würden. Zudem lägen keine systemischen Mängel in Italiens Asyl- und Auf-
nahmesystems vor. Insgesamt würden sich auch keine Gründe ergeben,
die die Anwendung der Souveränitätsklausel im Sinne von Art. 29a Abs. 3
der Asylverordnung 1 vom 11. August 1999 (AsylV 1, SR 142.311) in Ver-
bindung mit Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO anzeigten.
D.
Mit an das Bundesverwaltungsgericht gerichteter Beschwerde vom 11. Ja-
nuar 2016 (Poststempel) beantragte die Beschwerdeführerin, die ange-
fochtene Verfügung sei aufzuheben und die Vorinstanz sei anzuweisen, ihr
Recht zum Selbsteintritt auszuüben und sich für das vorliegende Asylge-
such für zuständig zu erachten. In verfahrensrechtlicher Hinsicht wurde be-
antragt, der Beschwerde sei im Sinne vorsorglicher Massnahmen die auf-
schiebende Wirkung zu erteilen und die Vollzugsbehörden seien anzuwei-
sen, von einer Überstellung nach Italien abzusehen, bis das Bundesver-
waltungsgericht über den Suspensiveffekt der eingereichten Beschwerde
entschieden habe. Sodann sei ihnen die unentgeltliche Prozessführung zu
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gewähren und auf die Erhebung eines Kostenvorschusses sei zu verzich-
ten.
Zur Begründung wurde im Wesentlichen vorgebracht, bei den Beschwer-
deführerinnen handle es sich um eine besonders verletzliche Familie. So
könne der Beschwerdeführerin der sich in H._______ befindende Ehe-
mann nicht zur Seite stehen, womit sie alleine für ihre Tochter verantwort-
lich sei. Unter diesen Umständen müsse das SEM bei den italienischen
Behörden detaillierte Garantien über den zukünftigen Aufenthalt der Be-
schwerdeführerinnen einholen. Unter Verweis auf einen nicht näher be-
zeichneten Bericht der SFH wurde sodann auf die Unterbringungs- und
Aufnahmebedingungen in Italien sowie auf die Rechtsprechung in
Deutschland verwiesen, wonach in mehreren Fällen die Abschiebung von
Asylsuchenden nach Italien gestoppt worden sei, da die Mindestnormen
für Flüchtlinge in Italien „in grossen Teilen nicht erfüllt“ seien. Auch würden
verletzliche Personen, die, wie die Beschwerdeführerin, (…), riskieren, we-
der eine Unterkunft noch Zugang zu medizinischer Versorgung zu erhalten.
Es sei davon auszugehen, dass die Beschwerdeführerin mit ihrer Tochter
in Italien wieder auf der Strasse leben müsste. Es sei bekannt, dass in Ita-
lien Flüchtlinge, welche obdachlos seien oder in besetzten Häusern lebten,
den ganzen Tag mit der Deckung ihrer elementaren Bedürfnisse beschäf-
tigt seien (stundenlanges Anstehen in Suppenküchen, Suchen nach einem
Schlafplatz für die nächste Nacht, Suchen nach Dusch- und Waschmög-
lichkeiten etc.). Dabei müssten oftmals grosse Distanzen zurückgelegt
werden, was enorm anstrengend sei und vor allem für eine Frau mit einem
jungen Kind eine grosse Belastung darstelle. Unter Berücksichtigung der
traumatischen Erlebnisse, welche die Beschwerdeführerin und ihre Tochter
auf der Reise von Eritrea nach Italien sowie insbesondere während der (…)
hätten erdulden müssen, sei eine solch prekäre Lebenssituation umso
mehr als absolut ungeeignet zu betrachten. Sowohl die Beschwerdeführe-
rin wie auch ihre Tochter würden, nebst den (…), unter (…) leiden und be-
nötigten dringend eine familienfreundliche und gesicherte Unterbringung.
Die Beschwerdeführerin sei Opfer (…) geworden. Sie sei (…) und drohe
damit, sich bei einer Wegweisung nach Italien „etwas anzutun“. Die Be-
schwerdeführerin habe in der aktuellen wirtschaftlichen Situation auch
keine Chance, einer Arbeit nachzugehen und den Lebensunterhalt für sich
und ihre Tochter zu sichern.
E.
Am 13. Januar 2016 setzte das Bundesverwaltungsgericht den Vollzug der
Überstellung einstweilen aus.
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Das Bundesverwaltungsgericht zieht in Erwägung:
1.
1.1 Gemäss Art. 31 VGG beurteilt das Bundesverwaltungsgericht Be-
schwerden gegen Verfügungen nach Art. 5 VwVG. Das SEM gehört zu den
Behörden nach Art. 33 VGG und ist daher eine Vorinstanz des Bundesver-
waltungsgerichts. Eine das Sachgebiet betreffende Ausnahme im Sinne
von Art. 32 VGG liegt nicht vor. Das Bundesverwaltungsgericht ist daher
zuständig für die Beurteilung der vorliegenden Beschwerde und entschei-
det auf dem Gebiet des Asyls in der Regel – und so auch vorliegend –
endgültig (Art. 105 AsylG; Art. 83 Bst. d Ziff. 1 BGG). Das Verfahren richtet
sich nach dem VwVG, dem VGG und dem BGG, soweit das AsylG nichts
anderes bestimmt (Art. 37 VGG und Art. 6 AsylG).
1.2 Die Beschwerde ist frist- und formgerecht eingereicht. Die Beschwer-
deführerinnen haben am Verfahren vor der Vorinstanz teilgenommen, sind
durch die angefochtene Verfügung besonders berührt und haben ein
schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung beziehungsweise Ände-
rung. Sie sind daher zur Einreichung der Beschwerde legitimiert (Art. 105
und 108 Abs. 2 AsylG; Art. 48 Abs. 1 sowie Art. 52 VwVG). Auf die Be-
schwerde ist einzutreten.
1.3 Mit Beschwerde kann die Verletzung von Bundesrecht (einschliesslich
Missbrauch und Überschreiten des Ermessens) sowie die unrichtige oder
unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gerügt
werden (Art. 106 Abs. 1 AsylG).
1.4 Bei Beschwerden gegen Nichteintretensentscheide, mit denen es das
SEM ablehnt, das Asylgesuch auf seine Begründetheit hin zu überprüfen
(Art. 31a Abs. 1–3 AsylG), ist die Beurteilungskompetenz der Beschwer-
deinstanz grundsätzlich auf die Frage beschränkt, ob die Vorinstanz zu
Recht auf das Asylgesuch nicht eingetreten ist (vgl. BVGE 2012/4 E. 2.2
m.w.H.).
1.5 Die Abteilungen des Bundesverwaltungsgerichts entscheiden in der
Regel in der Besetzung mit drei Richtern oder Richterinnen (vgl. Art. 21
Abs. 1 VGG). Das Bundesverwaltungsgericht kann auch in solchen Fällen
auf die Durchführung des Schriftenwechsels verzichten (Art. 111a Abs. 1
AsylG).


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Seite 8
2.
2.1 Auf Asylgesuche wird in der Regel nicht eingetreten, wenn Asylsu-
chende in einen Drittstaat ausreisen können, der für die Durchführung des
Asyl- und Wegweisungsverfahrens staatsvertraglich zuständig ist (Art. 31a
Abs. 1 Bst. b AsylG). Zur Bestimmung des staatsvertraglich zuständigen
Staates prüft das SEM die Zuständigkeitskriterien gemäss Dublin-III-VO.
Führt diese Prüfung zur Feststellung, dass ein anderer Mitgliedstaat für die
Prüfung des Asylgesuchs zuständig ist, tritt das SEM, nachdem der betref-
fende Mitgliedstaat einer Überstellung oder Rücküberstellung zugestimmt
hat, auf das Asylgesuch nicht ein.
2.2 Gemäss Art. 3 Abs. 1 Dublin-III-VO wird jeder Asylantrag von einem
einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III
(Art. 8–15 Dublin-III-VO) als zuständiger Staat bestimmt wird. Jedes dieser
Kriterien wird nur angewendet, wenn das vorangehende Kriterium im spe-
zifischen Fall nicht anwendbar ist (Prinzip der Hierarchie der Zuständig-
keitskriterien; vgl. Art. 7 Abs. 1 Dublin-III-VO).
2.3 Jeder Mitgliedstaat kann abweichend von Art. 3 Abs. 1 Dublin-III-VO
beschliessen, einen bei ihm von einem Drittstaatsangehörigen oder Staa-
tenlosen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn
er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prü-
fung zuständig ist (Art. 17 Abs. 1 Satz 1 Dublin-III-VO; sog. Selbsteintritts-
recht).
3.
3.1 Vorliegend ersuchte die Vorinstanz die italienischen Behörden – inner-
halb der in Art. 21 Dublin-III-VO festgelegten Frist – in Anwendung von
Art. 13 Abs. 1 Dublin-III-VO um Übernahme der Beschwerdeführerinnen.
Die italienischen Behörden nahmen innerhalb der festgelegten Frist zum
Übernahmeersuchen des SEM keine Stellung, womit die Zuständigkeit ge-
mäss DAA und unter Anwendung von Art. 22 Abs. 7 Dublin-III-VO auf Italien
übergegangen ist. Am 21. Dezember 2015 hiessen die italienischen Behör-
den das Übernahmeersuchen des SEM nachträglich gut und teilten mit, die
Überstellung habe nach G._______ zu erfolgen.
3.2 Die grundsätzliche Zuständigkeit Italiens wird von den Beschwerdefüh-
rerinnen nicht bestritten. Die Zuständigkeit Italiens ist somit gegeben.
3.3 Die Beschwerdeführerinnen rügen auf Beschwerdeebene im Wesentli-
chen, es liege keine genügende individuelle Zusicherung der italienischen
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Behörden für das Vorhandensein einer konkreten Unterkunft für sie und
ihre Tochter vor.
Das Bundesverwaltungsgericht ging in BVGE 2015/4 ausführlich auf den
Entscheid des EGMR Tarakhel gegen Schweiz vom 4. November 2014,
Grosse Kammer, Nr. 29217/12, ein und führte darin unter anderem aus, es
müsse im Zeitpunkt der Verfügung der Vorinstanz eine konkretisierte indi-
viduelle Zusicherung ‒ insbesondere unter Namens- und Altersangaben
der betroffenen Personen ‒ vorliegen, mit welcher namentlich garantiert
werde, dass eine dem Alter des Kindes entsprechende Unterkunft bei der
Ankunft der Familie in Italien zur Verfügung stehe und die Familie bei der
Unterbringung nicht getrennt werde (ebd. E. 4.3). Aus dem Schreiben der
italienischen Behörden vom 21. Dezember 2015 geht hervor, dass die Be-
schwerdeführerinnen unter expliziter Namensnennung und Altersangabe
als Familiengemeinschaft (nucleo familiare) betrachtet werden. Diese An-
gaben entsprechen weitestgehend den in BVGE 2015/4 E. 4.3 S. 78 expli-
zit genannten Anforderungen an eine individuelle Zusicherung. Dieses
Schreiben stellt somit eine gemäss dem Entscheid Tarakhel und BVGE
2015/4 geforderte Garantieerklärung der italienischen Behörden dar.
Zwar äussert sich dieses Schreiben nicht zur konkreten Unterbringung,
sondern fügt lediglich an, dass die Überstellung nach G._______ zu ge-
schehen habe. Dem Schreiben ist ausdrücklich zu entnehmen, dass die
Familie in Übereinstimmung mit dem Rundschreiben vom 8. Juni 2015 un-
tergebracht werde. Die erwähnte individuelle Zusicherung muss demnach
im Zusammenhang mit den vom italienischen Staat abgegebenen allge-
meinen Garantien (Rundschreiben vom 2. Februar 2015 und vom 8. Juni
2015) gesehen werden, wonach sämtliche Familien, welche im Rahmen
des Dublin-Übereinkommens nach Italien überstellt würden, unter Wah-
rung der Einheit der Familie in einer familiengerechten Unterbringung – un-
ter Hinweis auf eine Liste von SPRAR-Projekten – aufgenommen würden.
Daraus wird deutlich, dass es Italien offenbar gelungen ist, familienge-
rechte Unterbringungsplätze zu schaffen. Mit der Formulierung "This family
will be accommodated in accordance to the circular letter of the 8th of June
2015." wird sodann der explizite Hinweis zur Aufnahme in die individuelle
Garantie angeführt. In seinem Koordinationsurteil D-6358/2015 vom 7. Ap-
ril 2016 E. 5.2 (zur Publikation vorgesehen) hielt das Bundesverwaltungs-
gericht nebst dem vorgenannten expliziten Hinweis fest, dass die Zusiche-
rung der italienischen Behörden darin bestehe, dass für familiengerechte
Unterbringungsplätze kontinuierlich gesorgt werde, es sich bei den
SPRAR-Projekten somit um ein bewirtschaftetes System handle, das sein
D-200/2016
Seite 10
Angebot aufgrund der bestehenden Bedürfnisse auszurichten versuche.
Da es sich bei Italien – trotz gewisser Probleme bei der Unterbringung von
Asylsuchenden – um einen funktionierenden Rechtsstaat handle, könnten
an die Zusicherung keine überhöhten Anforderungen gestellt werden, in-
dem etwa verlangt würde, dass die Unterkunft genau benannt werde, was
ohnehin kaum praktikabel wäre.
Im Lichte obiger Ausführungen ist demnach zusammenfassend festzuhal-
ten, dass das vorliegende System von konkreten Zusicherungen unter Na-
mens- und Altersangabe sowie Anerkennung der Familieneinheit, zusam-
men mit dem expliziten Hinweis, wonach die Familie in Übereinstimmung
mit dem Rundschreiben vom 8. Juni 2015 untergebracht werde, eine hin-
reichend konkretisierte und individualisierte Zusicherung im Sinne der An-
forderungen gemäss BVGE 2015/4 darstellt.
3.4 Hinsichtlich der Berufung der Beschwerdeführerin auf ihren Gesund-
heitszustand, wonach sie (…) und damit drohe, sich bei einer Wegweisung
nach Italien „etwas anzutun“, ist festzuhalten, dass die Mitgliedstaaten den
Antragstellern die erforderliche medizinische Versorgung, die zumindest
die Notversorgung und die unbedingt erforderliche Behandlung von Krank-
heiten und schweren psychischen Störungen umfasst, zugänglich machen
müssen (Art. 19 Abs. 1 Aufnahmerichtlinie), und den Antragstellern mit be-
sonderen Bedürfnissen die erforderliche medizinische oder sonstige Hilfe
(einschliesslich erforderlichenfalls einer geeigneten psychologischen Be-
treuung) zu gewähren haben (Art. 19 Abs. 2 Aufnahmerichtlinie). Vorlie-
gend bestehen keine Hinweise, dass Italien, das über eine gute medizini-
sche Infrastruktur verfügt, seinen diesbezüglichen Verpflichtungen nicht
nachkommen und damit gegen die Aufnahmerichtlinie verstossen würde.
Sodann ist festzuhalten, dass eine zwangsweise Rückweisung von Perso-
nen mit gesundheitlichen Problemen nur dann einen Verstoss gegen Art. 3
EMRK darstellen kann, wenn die betroffene Person sich in einem fortge-
schrittenen oder terminalen Krankheitsstadium und bereits in Todesnähe
befindet (vgl. BVGE 2011/9 E. 7 mit Hinweisen auf die Praxis des EGMR).
Der EGMR anerkennt grundsätzlich keinen durch die EMRK geschützten
Anspruch auf Verbleib in einem Konventionsstaat, um weiterhin in den Ge-
nuss medizinischer Unterstützung zu kommen (vgl. Urteil des EGMR D.
gegen Vereinigtes Königreich vom 2. Mai 1997, Nr. 30240/96). Hinsichtlich
der Gefahr einer Selbstgefährdung bei einer zwangsweisen Überstellung
ist der wegweisende Staat gemäss Praxis des EGMR nicht verpflichtet,
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vom Vollzug der Wegweisung Abstand zu nehmen, falls Ausländer mit Su-
izid drohen. Die Überstellung vermag nicht gegen Art. 3 EMRK zu verstos-
sen, wenn der wegweisende Staat Massnahmen ergreift, um die Umset-
zung einer entsprechenden Suiziddrohung zu verhindern (vgl. den Unzu-
lässigkeitsentscheid des EGMR D. und andere gegen Deutschland vom
7. Oktober 2004, Nr. 33743/03, angeführt in Entscheidungen und Mitteilun-
gen der [vormaligen] Schweizerischen Asylrekurskommission [EMARK]
2005 Nr. 23 E. 5.1 [S. 212]).
Vorliegend ist festzustellen, dass eine Überstellung der Beschwerdeführe-
rin in Begleitung ihrer Tochter nach Italien nicht gegen Art. 3 EMRK
verstösst. Weiterhin bestehenden oder sich gar akzentuierenden suizida-
len Tendenzen ist im Falle einer (zwangsweisen) Überstellung nach Italien
bei der Ausgestaltung der Modalitäten durch angemessene, sorgfältige
Vorbereitung Rechnung zu tragen, indem geeignete medizinische Mass-
nahmen getroffen werden und eine adäquate Betreuung (beispielsweise
durch medizinisches Fachpersonal) bei der Rückführung sichergestellt
wird. Es wird Sache der Vollzugbehörden sein, die italienischen Behörden
vorgängig detailliert über die spezifischen medizinischen Umstände und
den indizierten Behandlungsbedarf zu informieren (vgl. Art. 31 f. Dublin-III-
VO), worum die italienischen Behörden in ihrem Zustimmungsschreiben
vom 21. Dezember 2015 denn auch ausdrücklich ersucht haben. Unter die-
sen Voraussetzungen werden die italienischen Behörden in der Lage sein,
die notwendigen Vorkehrungen für eine adäquate Betreuung und allenfalls
notwendige Weiterbehandlung der Beschwerdeführerin zeitgerecht zu tref-
fen.
3.5 Nach dem Gesagten sind die Voraussetzungen eines Selbsteintritts ge-
mäss Art. 17 Abs. 1 Satz 1 Dublin-III-VO zu verneinen.
4.
4.1 Das SEM ist demnach zu Recht in Anwendung von Art. 31a Abs. 1
Bst. b AsylG auf die Asylgesuche der Beschwerdeführerinnen nicht einge-
treten. Da die Beschwerdeführerinnen nicht im Besitz einer gültigen Auf-
enthalts- oder Niederlassungsbewilligung sind, wurde die Überstellung
nach Italien in Anwendung von Art. 44 AsylG zu Recht angeordnet (Art. 32
Bst. a AsylV 1).
4.2 Da das Fehlen von Überstellungshindernissen bereits Voraussetzung
des Nichteintretensentscheides gemäss Art. 31a Abs. 1 Bst. b AsylG ist,
sind allfällige Vollzugshindernisse gemäss Art. 83 Abs. 3 und 4 AuG
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Seite 12
(SR 142.20) unter diesen Umständen nicht mehr zu prüfen (vgl. BVGE
2010/45 E. 10).
5.
Nach dem Gesagten ist die Beschwerde abzuweisen und die Verfügung
des SEM zu bestätigen.
6.
6.1 Bei diesem Ausgang des Verfahrens wären die Kosten grundsätzlich
den Beschwerdeführerinnen aufzuerlegen (Art. 63 Abs. 1 VwVG). Da die
Beschwerdebegehren zum Zeitpunkt deren Einreichung nicht als aus-
sichtslos erschienen, ist das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen
Prozessführung gemäss Art. 65 Abs. 1 VwVG gutzuheissen und es sind
keine Verfahrenskosten zu erheben.
6.2 Der Antrag auf Erteilung der aufschiebenden Wirkung und Verzicht auf
die Erhebung eines Kostenvorschusses erweist sich mit vorliegendem Ur-
teil als gegenstandslos.


(Dispositiv nächste Seite)
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Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
2.
In Gutheissung des Gesuchs um Gewährung der unentgeltlichen Prozess-
führung im Sinne von Art. 65 Abs. 1 VwVG werden keine Verfahrenskosten
auferlegt.
3.
Dieses Urteil geht an die Beschwerdeführerinnen, das SEM und die kanto-
nale Migrationsbehörde.

Der vorsitzende Richter: Die Gerichtsschreiberin:

Thomas Wespi Regula Frey


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