BVGE 2014/12 - Abteilung V - Asyl und Wegweisung - Asyl und Wegweisung. Staatsangehörigkeit von Pers...
Karar Dilini Çevir:
BVGE 2014/12 - Abteilung V - Asyl und Wegweisung - Asyl und Wegweisung. Staatsangehörigkeit von Pers...
Asyl und Wegweisung 2014/12


BVGE / ATAF / DTAF 191

LANDESRECHT — DROIT NATIONAL —
DIRITTO NAZIONALE
1 Staat – Volk – Behörden
Etat – Peuple – Autorités
Stato – Popolo – Autorità
12
Auszug aus dem Urteil der Abteilung V
i.S. A. gegen Bundesamt für Migration
E‒2981/2012 vom 20. Mai 2014
Asyl und Wegweisung. Staatsangehörigkeit von Personen tibetischer
Ethnie. Situation in Nepal und Indien in Bezug auf den Erwerb der
Staatsangehörigkeit und die Möglichkeit des legalen Aufenthalts in
diesen Ländern. Aktualisierung und Präzisierung von EMARK 2005
Nr. 1.
Art. 3, Art. 7 und Art. 31a Abs. 1 Bst. c AsylG.
1. Situation der Exil-Tibeterinnen und -Tibeter in Nepal (E. 5.6)
und Indien (E. 5.7), insbesondere in Bezug auf den Erwerb der
jeweiligen Staatsangehörigkeit und die Möglichkeit eines legalen
Aufenthaltes in diesen beiden Staaten.
2. Prüfschema für Personen tibetischer Ethnie, welche unglaub-
hafte Angaben über ihren angeblichen Sozialisierungsraum in
China machen, hinsichtlich ihrer Staatsangehörigkeit und der
Möglichkeit des legalen Aufenthalts in Nepal und Indien (E. 5.8).
3. Präzisierung der Rechtsprechung gemäss EMARK 2005 Nr. 1
E. 4.3: Bei Personen tibetischer Ethnie, die ihre wahre Herkunft
verschleiern oder verheimlichen, ist vermutungsweise davon aus-
zugehen, dass keine flüchtlings- oder wegweisungsrelevanten
Gründe gegen eine Rückkehr an ihren bisherigen Aufenthaltsort
bestehen (E. 5.10).
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4. Tibeterinnen und Tibeter, die die chinesische Staatsbürgerschaft
besitzen, haben in Bezug auf China zumindest subjektive Nach-
fluchtgründe und besitzen die Flüchtlingseigenschaft (vgl. BVGE
2009/29). Entsprechend ist für alle Exil-Tibeterinnen und
-Tibeter ein Wegweisungsvollzug nach China auszuschliessen, da
ihnen dort gegebenenfalls Verfolgung droht (E. 5.11).
5. Durch die Verletzung der Mitwirkungspflicht (Verschleierung
der wahren Herkunft) wird die Prüfung der Drittstaatenregelung
im Sinne von Art. 31a Abs. 1 Bst. c AsylG verunmöglicht. Die be-
treffenden Asylsuchenden haben die Folgen der Verletzung ihrer
Mitwirkungspflicht insofern zu tragen, als seitens der Asylbe-
hörden der Schluss gezogen wird, es spreche nichts gegen eine
Rückkehr an den bisherigen Aufenthaltsort (E. 6).
Asile et renvoi. Citoyenneté des personnes d'ethnie tibétaine. Acqui-
sition de la citoyenneté et possibilité de séjour légal au Népal et en
Inde. Actualisation et précision de la JICRA 2005 n
o
1.
Art. 3, art. 7 et art. 31a al. 1 let. c LAsi.
1. Situation des Tibétains en exil au Népal (consid. 5.6) et en Inde
(consid. 5.7), plus particulièrement en lien avec l'acquisition de la
citoyenneté de ces pays et la possibilité d'y séjourner légalement.
2. Marche à suivre pour les demandes de personnes d'ethnie tibé-
taine, dont les déclarations sur leur prétendue socialisation en
Chine sont invraisemblables. Il est tenu compte de la citoyenneté
et de la possibilité de séjourner légalement au Népal et en Inde
des requérants (consid. 5.8).
3. Précision de la JICRA 2005 no 1 consid. 4.3: pour les personnes
d'ethnie tibétaine qui dissimulent leur véritable lieu de prove-
nance, il faut retenir l'absence de motifs pertinents sous l'angle
de la qualité de réfugié et du renvoi qui les empêcheraient
de retourner dans l'Etat où elles ont séjourné auparavant
(consid. 5.10).
4. Les Tibétains disposant de la citoyenneté chinoise peuvent au
moins faire valoir à l'égard de la Chine des motifs subjectifs sur-
venus après la fuite et possèdent la qualité de réfugié (cf. ATAF
2009/29). En conséquence, le renvoi en Chine est exclu pour tous
les Tibétains en exil, du fait des menaces de persécution aux-
quelles ils pourraient y être exposés (consid. 5.11).
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5. La violation du devoir de collaborer (dissimulation du véritable
lieu de provenance) empêche l'examen de la possibilité de retour
dans un Etat tiers au sens de l'art. 31a al. 1 let. c LAsi. Les requé-
rants d'asile concernés doivent assumer les conséquences de la
violation de leur devoir de collaborer si les autorités en matière
d'asile concluent que rien ne s'oppose à leur retour dans l'Etat où
ils ont séjourné auparavant (consid. 6).
Asilo e allontanamento. Cittadinanza delle persone di etnia tibetana.
Situazione in Nepal e in India in merito all'acquisizione della cittadi-
nanza e alla possibilità di soggiornare legalmente in questi paesi.
Aggiornamento e precisazione della GICRA 2005 n. 1.
Art. 3, art. 7 e art. 31a cpv. 1 lett. c LAsi.
1. Situazione dei tibetani in esilio in Nepal (consid. 5.6) e in India
(consid. 5.7), in particolare riguardo alla possibilità di acquisire
la nazionalità di questi paesi e di soggiornarvi legalmente.
2. Schema per l'esame della nazionalità e della possibilità di
soggiorno legale in Nepal e India per delle persone di etnia
tibetana che forniscono indicazioni inverosimili sulla loro pretesa
area di socializzazione in Cina (consid. 5.8).
3. Precisazione della giurisprudenza pubblicata nella GICRA 2005
n. 1 consid. 4.3: nel caso di tibetani che non dichiarano o dissimu-
lano la loro reale origine occorre presumere l'assenza di per-
tinenti motivi ostativi al rinvio verso il luogo dove hanno
soggiornato in precedenza (consid. 5.10).
4. In rapporto alla Cina, i tibetani di nazionalità cinese possono
quantomeno prevalersi di motivi soggettivi posteriori alla fuga e
può quindi essergli riconosciuta la qualità di rifugiato (cfr. DTAF
2009/29). Di conseguenza, l'esecuzione dell'allontanamento verso
la Cina è esclusa per tutti i tibetani in esilio, poiché rischiano di
essere oggetto di persecuzioni in loco (consid. 5.11).
5. La violazione dell'obbligo di collaborare (dissimulazione della
reale origine) rende impossibile l'esame del principio dello Stato
terzo ai sensi dell'art. 31a cpv. 1 lett. c LAsi. I richiedenti l'asilo
in questione devono sopportare le conseguenze della violazione
del loro obbligo di collaborare qualora le competenti autorità in
materia di asilo giungano alla conclusione che non sussistono
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motivi a sfavore di un ritorno al precedente luogo di soggiorno
(consid. 6).

Der Beschwerdeführer ‒ ein Mann tibetischer Ethnie, seinen Angaben
zufolge ein Staatsangehöriger der Volksrepublik China ‒ ersuchte am
5. Juni 2011 um Asyl in der Schweiz.
Im Rahmen des erstinstanzlichen Verfahrens gab er an, er sei in Tibet
(China) geboren und habe bis zu seiner Ausreise im Dezember 2010 dort
als Hirte gelebt.
Am 10. Dezember 2010 habe er auf der Weide zwei Mönche getroffen,
welche ihm Fotografien des Dalai Lama sowie religiöse Texte gegeben
hätten, die er anschliessend zusammen mit ihnen zum Nonnenkloster L.
gebracht habe. Er habe Tibet verlassen, weil er im Zusammenhang mit
diesen Dalai-Lama-Bildern und religiösen Texten behördliche Behelli-
gungen befürchtet habe. Im Auftrag des Bundesamts für Migration
(BFM) wurde am 28. Juni 2011 mittels eines Telefon-Interviews eine
Sprach- und Herkunftsanalyse mit dem Beschwerdeführer durchgeführt
(sog. Lingua-Analyse). Der Sachverständige kam in seinem landeskund-
lich-kulturellen sowie linguistischen Herkunftsgutachten vom 2. Septem-
ber 2011 zum Schluss, beim Beschwerdeführer handle es sich zwar um
einen ethnischen Tibeter, seine Hauptsozialisation habe jedoch sehr
wahrscheinlich nicht in Tibet stattgefunden; dennoch könne nicht ausge-
schlossen werden, dass er eventuell eine frühe Erstsozialisation dort
erfahren habe. Das aufgezeichnete Gespräch wurde einem weiteren
Tibet-Experten vorgelegt, welcher in seiner Aktennotiz vom 2. Septem-
ber 2011 das Ergebnis des ersten Sachverständigen bestätigte. Anlässlich
der Anhörung vom 3. November 2011 gewährte das BFM dem Be-
schwerdeführer zum Abklärungsergebnis der Lingua-Analyse das recht-
liche Gehör. Der Beschwerdeführer hielt dabei an seinen Aussagen fest,
in Tibet (China) aufgewachsen zu sein und bis zu seiner Ausreise dort
gelebt zu haben.
Mit Verfügung vom 10. Mai 2012 wies das BFM das Asylgesuch des
Beschwerdeführers vom 5. Juni 2011 ab und ordnete die Wegweisung
aus der Schweiz sowie den Vollzug der Wegweisung an. Zur Begründung
führte das Bundesamt im Wesentlichen aus, die seitens des Beschwerde-
führers geltend gemachten Vorbringen vermöchten den Anforderungen
an die Glaubhaftigkeit gemäss Art. 7 AsylG (SR 142.31) nicht standzu-
halten. Zusammenfassend und übereinstimmend seien die beiden sach-
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verständigen Gutachter zum Schluss gekommen, dass die landeskund-
lichen Kenntnisse des Beschwerdeführers nicht genügend detailliert
seien, um die Herkunft aus Tibet und aus der von ihm behaupteten
Region zu belegen. Zwar entspreche die Phonologie des Beschwerde-
führers derjenigen eines « native speaker » beziehungsweise derjenigen
einer Person, welche Tibetisch als Erstsprache erlernt habe. Der dürftige,
einfache tibetische Wortschatz kennzeichne ihn jedoch als Sprecher einer
zweiten, wichtigeren Sprache, was namentlich bei jungen Exil-Tibetern
oft der Fall sei. Obwohl er erklärt habe, aus einem entlegenen Dorf zu
stammen, keine Schulen besucht zu haben sowie als Hirte tätig gewesen
zu sein, hätten Kenntnisse einiger Basisbezeichnungen und der Gebrauch
diverser chinesischer Lehnwörter respektive rudimentärste Chinesisch-
kenntnisse erwartet werden können. Der Beschwerdeführer habe jedoch
selber angegeben, über keine Chinesischkenntnisse zu verfügen. Zudem
kenne er die tibetischen Wörter für diverse tibetische Begriffe nicht und
habe gewisse Alltagslebens-Sachverhalte nicht beschreiben können, was
eine bedeutende Wissenslücke für jemanden darstelle, der behaupte, bis
vor einigen Monaten in Tibet als Hirte gelebt zu haben respektive Sohn
von Nomaden zu sein. Somit würden ‒ auch wenn gemäss Lingua-Gut-
achten eine frühe Erstsozialisation in Tibet nicht gänzlich auszuschlies-
sen sei ‒ die aus der Lingua-Analyse gezogenen Schlüsse, wonach die
Hauptsozialisation des Beschwerdeführers mit überwiegender Wahr-
scheinlichkeit nicht im behaupteten Lebensraum stattgefunden habe und
sein Tibetisch nicht wie das eines Tibeters klinge, welcher noch vor
einigen Monaten in der autonomen Region Tibet gelebt habe, seinen
geltend gemachten Ausreise- und Asylvorbringen die Grundlage ent-
ziehen. Ohnehin seien die protokollierten Aussagen des Beschwerde-
führers teilweise nachgeschoben sowie widersprüchlich ausgefallen und
würden der allgemeinen Erfahrung und Logik zuwiderlaufen. Nach dem
Gesagten sei davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer zum geltend
gemachten Zeitpunkt nicht aus Tibet ausgereist sei respektive sich
keinesfalls auf chinesischem Territorium aufgehalten habe und den
chinesischen Behörden als Staatsangehöriger auch nicht bekannt sei.
Der Beschwerdeführer erhebt am 31. Mai 2012 gegen diese Verfügung
Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht.
Das Bundesverwaltungsgericht weist die Beschwerde ab.

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Aus den Erwägungen:
4.
4.1 Das Bundesverwaltungsgericht teilt die von der Vorinstanz ver-
tretene Auffassung, wonach sich die Sachverhaltsdarstellung des Be-
schwerdeführers zum angeblichen Vorfall in Tibet in unplausiblen Schil-
derungen erschöpft und in wesentlichen Punkten zu wenig begründet
oder in sich widersprüchlich ausgefallen ist. Insbesondere konnte der
Beschwerdeführer nicht erklären, aus welchem Grund er die Fotografien
des Dalai Lama und die religiösen Texte entgegengenommen und zum
Nonnenkloster gebracht habe. Ferner widerspricht es der allgemeinen
Erfahrung und mutet unglaubhaft an, dass zwei Mönche, deren Namen
der Beschwerdeführer gemäss eigenen Angaben nicht einmal kennt (…),
einem Fremden heilige religiöse Sachen anvertrauen. Weiter lässt seine
Aussage, er wisse nicht, wie der Vorsteher des Klosters heisse, welcher
dem Händler mitgeteilt habe, dass der Beschwerdeführer Tibet verlassen
solle (…), Zweifel am Wahrheitsgehalt der geltend gemachten Gesuchs-
vorbringen aufkommen, zumal der Beschwerdeführer Tibet lediglich
gestützt auf den angeblichen Rat dieses Abtes verlassen haben will. Im
Übrigen behauptete der Beschwerdeführer, nie eine Schule besucht zu
haben; auf die Frage, wie er dann das Personalienblatt habe selber
ausfüllen können, erwiderte er, in Nepal ein wenig schreiben gelernt zu
haben (…). Diese Erklärung trägt jedoch angesichts der erforderlichen
Lese- und Schreibfähigkeit zum Ausfüllen eines Personalienblatts nicht
zur Stärkung seiner Glaubwürdigkeit bei.
4.2
4.2.1 Auch die aus der vorgenommenen Lingua-Analyse (vgl. dazu
die nach wie vor Gültigkeit beanspruchende Rechtsprechung der
[früheren] Schweizerischen Asylrekurskommission [ARK], publiziert in
Entscheidungen und Mitteilungen der ARK [EMARK] 1998 Nr. 34,
EMARK 1999 Nr. 18‒20 sowie EMARK 2003 Nr. 14) gewonnenen Er-
kenntnisse fügen sich in das unglaubhafte Gesamtbild der vorgetragenen
Sachverhaltsschilderung ein. Bei der vom BFM in Auftrag gegebenen
Sprach- und Herkunftsanalyse wurden sowohl die sprachlichen Fähigkei-
ten als auch landeskundlich-kulturelle Kenntnisse des Beschwerdeführers
geprüft. Bei einer solchen Lingua-Analyse handelt es sich zwar nicht um
ein Sachverständigengutachten im Sinne von Art. 12 Bst. e VwVG (vgl.
hierzu Art. 57‒61 BZP [SR 273] i.V.m. Art. 19 VwVG), sondern um eine
schriftliche Auskunft einer Drittperson im Sinne von Art. 12 Bst. c
VwVG. Das Bundesverwaltungsgericht misst einer Lingua-Analyse
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jedoch erhöhten Beweiswert zu, sofern bestimmte Anforderungen an die
fachliche Qualifikation, Objektivität und Neutralität des Experten sowie
die inhaltliche Schlüssigkeit und Nachvollziehbarkeit erfüllt sind, denen
eine solche Prüfung zu entsprechen hat (vgl. EMARK 2003 Nr. 14 E. 7;
EMARK 1998 Nr. 34; statt vieler: Urteile des BVGer E‒163/2012 vom
7. August 2012 sowie E‒6979/2011 vom 23. Januar 2012).
4.2.2 Die vorliegend zu beurteilende Lingua-Analyse ist fundiert und
mit einer überzeugenden sowie ausgewogenen Begründung versehen, die
zu keinen Beanstandungen Anlass gibt. Zudem bestehen an der fachli-
chen Qualifikation des Sachverständigen keine Zweifel, weshalb der vor-
liegenden Sprach- und Herkunftsanalyse nach den erwähnten Kriterien
erhöhter Beweiswert zugemessen und von ihrer inhaltlichen Richtigkeit
und Vollständigkeit ausgegangen wird. Auch die zusätzlich eingeholte
Beurteilung durch einen weiteren Sachkundigen, welcher die Ergebnisse
der ersten Einschätzung bestätigt hat, lässt keine Mängel erkennen.
Der mit der Erstellung der Lingua-Analyse beauftragte Experte sowie der
mit der Zweitmeinung beauftragte Sachkundige gelangten aufgrund un-
genügender geografischer und sprachlicher Kenntnisse des Beschwerde-
führers unabhängig voneinander zum Schluss, dass jener hauptsächlich
ausserhalb Tibets sowie Chinas und nicht in der von ihm angegebenen
Region ([C.], Provinz [D.]) sozialisiert worden sei. Die Experten legten
überzeugend dar, dass der Beschwerdeführer Tibet nicht auf dem von
ihm angegebenen Reiseweg verlassen haben kann. Diese Schlussfol-
gerung wird, wie das BFM zutreffend erkannte, dadurch bestätigt, dass es
dem Beschwerdeführer nicht gelungen ist, die Gründe, welche für die
Richtigkeit des von ihm geltend gemachten Hauptausreisegrunds spre-
chen, glaubhaft zu machen (vgl. E. 4.1). Schliesslich werden auch in der
Beschwerdeeingabe keine stichhaltigen Entgegnungen vorgebracht,
welche die obigen Erwägungen umzustossen vermögen.
4.3 Zusammenfassend ist somit im Sinne eines ersten Zwischen-
ergebnisses festzuhalten, dass der Beschwerdeführer zwar tibetischer
Ethnie ist, seine geltend gemachten Vorbringen hinsichtlich des Ortes
seiner hauptsächlichen Sozialisation, der illegalen Ausreise aus Tibet im
Dezember 2010 und der ihm drohenden Verhaftung respektive des ihm
drohenden Todes jedoch insgesamt der Glaubhaftigkeit entbehren.
Folglich ist es ihm mangels glaubhafter Hinweise nicht gelungen, für den
Zeitpunkt seiner Ausreise eine individuelle asylrechtlich relevante
Verfolgung, die er in seiner Heimat vor seiner Ausreise erlitten habe oder
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in begründeter Weise zukünftig habe befürchten müssen, nachzuweisen
oder glaubhaft zu machen.
5.
5.1 Das BFM schliesst aus dem Umstand, dass vorliegend keine
Identitätspapiere eingereicht wurden und die Angaben des Beschwerde-
führers in Bezug auf den Ort seiner Hauptsozialisation sowie seine Aus-
reise im Rahmen der Sprach- und Herkunftsanalyse als unglaubhaft zu
beurteilen sind, der Beschwerdeführer sei unbekannter Staatsangehörig-
keit. Dass er Tibetisch spreche ‒ gemäss eigenen Angaben Zentraltibe-
tisch, gemäss Lingua-Gutachten primär im Exil verwendetes Standard-
Tibetisch (…) ‒ und vermutlich tibetischer Ethnie sei, bilde dabei keinen
ausreichenden Hinweis dafür, dass er die chinesische Staatsangehörigkeit
besitze. Im Übrigen obliege es den Asylsuchenden im Rahmen ihrer Mit-
wirkungspflicht gemäss Art. 8 AsylG, ihre Staatsangehörigkeit offenzu-
legen, andernfalls sie die Folgen der Beweislosigkeit zu tragen hätten.
5.2 Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts
ist es nicht Sache der Asylbehörden, nach allfälligen Herkunftsstaaten
oder nach Wegweisungshindernissen bezüglich hypothetischer Her-
kunftsstaaten zu forschen, wenn eine asylsuchende Person ihre Herkunft
verschleiert und keine eindeutigen Hinweise auf die tatsächliche Staats-
angehörigkeit vorliegen. Die Vorinstanz verkennt jedoch, dass vorliegend
gewisse Hinweise auf die tatsächliche Staatsangehörigkeit bestehen (vgl.
Urteil des BVGer C‒1048/2006 vom 21. Juli 2010).
5.3 Vorab ist festzuhalten, dass die sprach- und länderkundliche
Herkunftsanalyse der BFM-internen Fachstelle « Lingua » einzig eine
Aussage darüber erlaubt, welchem Land beziehungsweise welcher Re-
gion die asylsuchende Person aufgrund ihrer sprachlichen und kulturellen
Sozialisation zuzuordnen ist. Eine Zuordnung der Staatsangehörigkeit ist
indes nicht möglich, da der Ort der Sozialisation mit demjenigen der
Staatsangehörigkeit nicht gleichzusetzen ist (vgl. dazu: EMARK 2005
Nr. 1 E. 3.2.1).
Aufgrund des ausführlich und schlüssig begründeten Lingua-Gutachtens
und der wenig überzeugenden Erklärungsversuche des Beschwerde-
führers, ist seine angebliche Herkunft aus der Provinz D. nicht glaubhaft
gemacht. Vielmehr ist mit überwiegender Wahrscheinlichkeit davon
auszugehen, dass er vor seiner Ankunft in der Schweiz nicht in der
Volksrepublik China ‒ eine eventuelle frühe Erstsozialisation in Tibet ist
allerdings nicht gänzlich ausgeschlossen ‒, sondern in der exiltibetischen
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Diaspora gelebt hat. Namhafte exil-tibetische Gemeinschaften gibt es
‒ nebst der Schweiz und Nordamerika ‒ lediglich in Indien und Nepal.
Dass der Beschwerdeführer aus Nordamerika stammt und ein Asylgesuch
in der Schweiz einreicht, hält das Gericht für unplausibel, zumal er dort
ohnehin die Staatsangehörigkeit erwerben könnte, weshalb vermutungs-
weise anzunehmen ist, dass er in Indien oder Nepal aufgewachsen ist
beziehungsweise gelebt hat. Aufgrund seiner Sprachkenntnisse kann
ausgeschlossen werden, dass er ausserhalb einer grösseren tibetischen
Gemeinschaft sozialisiert wurde. Gemäss Lingua-Analyse handelt es sich
beim Beschwerdeführer aber um einen ethnischen Tibeter und Mutter-
sprachler, der mithin Tibetisch als Erstsprache gelernt hat; aufgrund
seines Standard-Tibetisch ist allerdings anzunehmen, dass er zudem eine
Fremdsprache als Zweitsprache beherrscht, was bei im Exil lebenden
Tibetern und Tibeterinnen oft vorkommt.
Aus diesen Überlegungen ergeben sich allerdings noch keine schlüssigen
Erkenntnisse hinsichtlich der Staatsangehörigkeit des Beschwerdefüh-
rers. Es kann jedoch ‒ wie nachstehend aufgezeigt wird ‒ nicht gänzlich
ausgeschlossen werden, dass er aufgrund seiner tibetischen Ethnie die
chinesische Staatsangehörigkeit besitzt (vgl. Urteil C‒1048/2006).
5.4 Die ARK hat sich bereits 2005 mit der Frage der Staatsange-
hörigkeit von Personen, die tibetischer Ethnie sind, auseinandergesetzt.
In EMARK 2005 Nr. 1 hielt die ARK nämlich fest, auf eine chinesische
Staatsangehörigkeit sei zu schliessen, wenn im Einzelfall als erstellt
gelte, dass eine asylsuchende Person tibetischer Ethnie sei. Dies sei
selbst dann anzunehmen, wenn Hinweise dafür bestehen würden, dass
die asylsuchende Person in den exil-tibetischen Gemeinden in Indien
oder Nepal gelebt habe, da in der Regel nicht davon ausgegangen werden
könne, Exil-Tibeterinnen und -Tibeter würden in diesen Ländern die
Staatsangehörigkeit erwerben. Ohne triftige Anhaltspunkte könne eine
andere als die chinesische Staatsangehörigkeit weder als erwiesen noch
überhaupt als wahrscheinlich erachtet werden (EMARK 2005 Nr. 1
E. 4.1‒4.3).
Im Übrigen sieht die chinesische Gesetzgebung vor, dass eine Person ihre
chinesische Staatsangehörigkeit verliert, sobald sie eine andere Nationa-
lität erwirbt. Eine im Ausland geborene Person, welche zumindest einen
chinesischen Elternteil hat, wird ‒ wenigstens solange sie nicht durch
Geburt oder Einbürgerung eine andere Staatsangehörigkeit erwirbt ‒ als
chinesischer Staatsangehöriger betrachtet (vgl. Australian Government
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Refugee Review Tribunal, RRT- Nepal - Country Advice, unter E. 5.5
aufgeführte Quelle 2).
5.5 Im Nachfolgenden werden in einem ersten Schritt die der
erwähnten Rechtsprechung (EMARK 2005 Nr. 1) zugrunde liegenden
länderspezifischen Begebenheiten überprüft respektive aktualisiert. In
einem zweiten Schritt wird der Frage nachgegangen, ob beziehungsweise
inwiefern diese Rechtsprechung zu präzisieren ist.
Zunächst ist die Situation der Exil-Tibeterinnen und -Tibeter in Nepal
(E. 5.6) und Indien (E. 5.7) ‒ insbesondere im Bezug auf den Erwerb der
jeweiligen Staatsangehörigkeit und die Möglichkeiten eines legalen
Aufenthalts ‒ zu skizzieren. Für die Analyse wurde im Wesentlichen auf
die nachfolgend alphabetisch aufgeführten Quellen zurückgegriffen.
Sofern weitere Quellen in die Analyse einbezogen wurden, sind diese im
Text benannt.
- Asia Pacific Human Rights Network, Tibetan Refugees in India,
Declining Sympathies, Diminishing Rights, 30.04.2008, /sahrdc/hrfeatures/HRF183.htm >, abgerufen am
24.02.2014 (Quelle 1);
- Australian Government Refugee Review Tribunal vom 14. Mai
2010, RRT ‒ Nepal ‒ Country Advice NPL36609 ‒ Tibetans ‒
Citizenship ‒ False documents ‒ Passports ‒ Chinese citizenship ‒
Right of entry ‒ Residence ‒ India, 14.05.2010, net/file_upload-/1997_1294233-654_npl36609.pdf >, abgerufen am
08.04.2014; (Quelle 2), mit Verweis auf weitere Quellen: US
Department of State (Country Reports on Human Rights Practices
for 2009 - India; März 2010), das US Committee for Refugees and
Immigrants USCRI (« World Refugee Survey 2009 ‒ India, von
2009 »), das Asia Pacific Human Rights Network (« Tibetan
Refugees in India: Declining Sympathies, Diminishing Rights »,
30. April 2008), BBC News (« Spotlight falls on India's Tibetans »,
vom 17. April 2008), Bericht von S. MacPherson, A. Bentz und D.
Ghoso von September 2008 (« Global Nomads: The Emergence of
the Tibetan Diaspora », Migration Information Source, Migration
Policy Institute), das UK Home Office (Country of Origin
Information Report ‒ China, Januar 2010) sowie das Immigration
and Refugee Board of Canada (« China/India: Residency rights of
Tibetans residing in India; requirements for Tibetans to obtain and
retain permanent residence in India », 7. Juli 2009);
- Australian Refugee Review Tribunal, 1001501 (2010) RRTA 481,
24.05.2010, 481.html >, abgerufen am 24.02.2014 (Quelle 3);
Asyl und Wegweisung 2014/12


BVGE / ATAF / DTAF 201

- BCIS Resource Information Center, India Information on Tibetan
Refugees and Settlements, Response to Information Request
Number: IND03002.NZY, 30.05.2003, asylumresour-ces/ric-query-india-30-may-2003 >, abgerufen am
24.02.2014 (Quelle 4);
- Bureau of His Holiness the Dalai Lama (New Delhi),Ten Questions
for Sikyong Dr. Lobsang Sangay - What is CTA's stand on Tibetans
applying for Indian or other foreign citizenship?, 23.08.2013,
article&id=684%3Aten-questions-forsikyong-dr-lobsang-sangay&
catid=41-%3Ainterview&limitstart=5 >, abgerufen am 24.02.2014
(Quelle 5);
- Government of Nepal, Nepal Citizenship Act 2063 (2006), Act No.
25 of the year 2063 (2006), 26.11.2006, do-cid/4bbca97e2.html >, abgerufen am 08.04.2014 (Quelle 6);
- Government of India, Bureau of Immigration, Registration Require-
ments for Foreign Nationals, (ohne Datum), content/registration-requirements-foreign-national >, abgerufen am
24.02.2014 (Quelle 7);
- Human Rights Watch, World Report 2013, 24.01.2013, /sites/default/files/wr2013_web.pdf >, abgerufen am
24.02.2014 (Quelle 8);
- Human Rights Watch, Appeasing China, Restricting the Rights of
Tibetans in Nepal, vom 24. Juli 2008, reports/2008/07/23/appeasing-china-0 >, abgerufen am 08.04.2014,
(Quelle 9);
- Immigration and Refugee Board of Canada, India/China: Whether a
Tibetan whose birth in India between 1950 and 1987 was not
registered with the authorities would be recognized as a citizen;
whether the Indian government accepts birth certificates issued by
the Tibetan government-in-exile; whether the Indian government
issues birth certificates to Tibetans born in India, ZZZ100699.E,
06.02.2006, india/ZZZ100699.E.pdf >, abgerufen am 24.02.2014 (Quelle 10);
- Immigration and Refugee Board of Canada, China/India: Residency
rights of Tibetans residing in India; requirements for Tibetans to
obtain and retain permanent residence in India, ZZZ103171.E,
07.07.2009, index.aspx?-doc=452443 >, abgerufen am 24.02.2014 (Quelle 11);
- Immigration and Refugee Board of Canada, India/China: Whether
Tibetans can obtain Indian citizenship, ZZZ103335.E, 08.12.2009,
2014/12 Asyl und Wegweisung


202 BVGE / ATAF / DTAF

, abgerufen am
08.04.2014 (Quelle 12);
- Immigration and Refugee Board of Canada, India: Citizenship
recognition for Indian-born children of Tibetan refugees in the
context of the 22 December 2010 Delhi High Court Ruling; whether
it has become procedural or if it requires legal action (2011-August
2013) IND104530.E, 15.08.2013, RirRdi/Pa-ges/index.aspx?doc=454755&pls=1 >, abgerufen am
24.02.2014 (Quelle 13);
- Integrated Regional Information Networks (IRIN), Tibetan
Refugees crying out for Documentation, 04.06.2013, /re-port/98158/tibetan-refugees-in-nepal-crying-out-for-
documentation >, abgerufen am 11.03.2014 (Quelle 14);
- International Campaign for Tibet, Dangerous Crossing Update 2011,
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Asyl und Wegweisung 2014/12


BVGE / ATAF / DTAF 203

- SFH: China/Indien: Situation tibetischer Flüchtlinge in Indien;
Auskunft der SFH-Länderanalyse; Adrian Schuster, 9. September
2013 (Quelle 21);
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- United States Department of State, 2012 Country Reports on Human
Rights Practices - Nepal, 19.04.2013, /rls/hrrpt/humanrightsreport/index.htm?year=2012&dlid=204407 >,
abgerufen am 24.02.2014 (Quelle 31);
- United States Department of State, 2012 Country Reports on Human
Rights Practices - India, 19.04.2013, 2014/12 Asyl und Wegweisung


204 BVGE / ATAF / DTAF

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abgerufen 24.02.2014 (Quelle 32);
- United States Department of State, India - 2013 Human Rights
Report, Executive Summary, organization/220604.pdf >, abgerufen am 24.02.2014 (Quelle 33).
5.6 Zur Situation von Tibeterinnen und Tibetern in Nepal ist Folgen-
des festzuhalten:
5.6.1 Heute leben geschätzte 15 000 bis 20 000 tibetische Flüchtlinge
in Nepal (vgl. Quellen 14 und 24). Mehrere sonstige Quellen berichten
zudem, dass eine grosse Anzahl Tibeter ohne legalen Status in Nepal lebt
(Quelle 31).
Wie bereits in EMARK 2005 Nr. 1 E. 4.1 festgehalten wurde, halten sich
zwei Kategorien von Tibetern in Nepal auf: jene, die vor 1989 eingereist
sind (und ihre Nachkommen), und jene, die nach 1989 eingereist sind.
Hierzu ist Folgendes festzustellen:
5.6.2 Vor 1989/1990 eingereiste Tibeterinnen und Tibeter dürfen sich
zwar grundsätzlich in Nepal aufhalten, ihre Situation muss jedoch als
prekär bezeichnet werden. Bis 1989 war es den Tibetern möglich, sich
legal in Nepal niederzulassen (Quellen 23 und 24). Bis 1994 stellten
ihnen die nepalesischen Behörden die sogenannte « Tibetan Refugee
Card » aus, die jedes Jahr erneuert werden muss (Quellen 14 und 15).
Aus diesen « refugee identity cards » lassen sich aber kein Status oder
Rechte ableiten, da Nepal das Abkommen vom 28. Juli 1951 über die
Rechtsstellung der Flüchtlinge (FK, SR 0.142.30) nicht unterzeichnet
hat. Das UNHCR geht davon aus, dass über die Hälfte der vor 1989 ein-
gereisten Tibeter keine Dokumente besitzt (Quelle 14).
5.6.3 Nach 1989 eingereiste Tibeter werden von den nepalesischen
Behörden nicht mehr als Flüchtlinge anerkannt und sie erhalten keine
Dokumente. Nach 1989 eingereiste Tibeter werden vom UNHCR bei
ihrer Weiterreise nach Indien unterstützt (Quelle 25), da sie sich nicht
legal in Nepal aufhalten können. Die Unterstützung durch das UNHCR
und die Zusammenarbeit mit den nepalesischen Behörden ist gemäss
einem Bericht des US Department of State mehr oder weniger standar-
disiert (Quelle 31). Human Rights Watch berichtet, dass Nepal im Jahr
2012 auf Druck von China die sichere Überstellung der neu ankommen-
den Tibeter nach Indien verhinderte (Quelle 8).
Asyl und Wegweisung 2014/12


BVGE / ATAF / DTAF 205

5.6.4 Aufgrund dieser aktuellen Länderinformationen können die in
EMARK 2005 Nr. 1 E. 4.1.1 gezogenen Schlussfolgerungen bestätigt
werden:
Viele der vor 1989/1990 in Nepal eingereisten Tibeterinnen und Tibeter
verfügen über keine Papiere. Diejenigen, die über Papiere verfügen,
können aus diesen Ausweisen keinerlei Status oder Rechte hinsichtlich
eines Aufenthaltsrechtes ableiten, da Nepal die FK nicht unterzeichnet
hat. Die nach 1989 eingereisten Tibeter werden von den nepalesischen
Behörden nicht mehr als Flüchtlinge anerkannt und erhalten keine
Dokumente. Ohne Ausweis verfügen Tibeterinnen und Tibeter in Nepal
allerdings über keine Möglichkeit, ihr Aufenthaltsrecht zu beweisen, und
sie können Nachstellungen und Übergriffen von Seiten der Sicherheits-
kräfte nichts entgegensetzen. Zudem sind Bewegungsfreiheit innerhalb
des Landes oder Reisen ausser Landes eingeschränkt. Jene, welche über
einen Ausweis verfügen, benötigen für Reisen ausser Landes ein « refu-
gee travel document », welches zwar grundsätzlich erhältlich ist, jedoch
ein eher schwieriges Verfahren mit sich bringt. Die Behörden entscheiden
von Fall zu Fall unterschiedlich.
5.6.5 Es stellt sich diesbezüglich die Anschlussfrage, ob Tibeter und
Tibeterinnen ohne Aufenthaltstitel in Nepal befürchten müssen, nach
China zurückgeführt zu werden. Hierzu ist Folgendes festzuhalten:
Neuankömmlingen (etwa 800 pro Jahr), welche keinerlei Aufenthalts-
recht in Nepal haben und bei einem Verbleib im Lande mit behördlichen
Massnahmen rechnen müssen, ist lediglich eine Durchreise nach Indien
erlaubt.
Nepal bietet neu eingereisten Tibeterinnen und Tibetern grundsätzlich
Refoulement-Schutz. Dabei gehen die nepalesischen Behörden jedoch
davon aus, dass diese Neuankömmlinge vom UNHCR an einen Drittstaat
weitergeleitet werden (Quelle 28).
In der Vergangenheit ist es allerdings bereits vorgekommen, dass die
nepalesischen Behörden Personen nach China zurückgeschickt oder die
Festnahme auf ihrem Territorium erlaubt haben. Diese letztgenannte
Feststellung scheint die tibetischen Flüchtlinge im Augenblick ihres
Betretens von nepalesischem Boden zu betreffen, da in der Tat in
mehreren Quellen die Festnahme von aus Tibet herkommenden Personen
in den Grenzgebieten und ihre Auslieferung nach China erwähnt ist.
Mehrere Quellen berichten von Verhaftungen durch die nepalesischen
Behörden in Grenznähe und einer Rückschiebung nach China (Quel-
2014/12 Asyl und Wegweisung


206 BVGE / ATAF / DTAF

len 16, 18, 19 und 28). Im Jahr 2011 haben die nepalesischen Behörden
davon abgesehen, eine Gruppe von 23 Tibeterinnen und Tibetern, welche
an der Grenze festgenommen wurde, nach China zurückzuschicken; dies
jedoch als Folge der internationalen Reaktion, welche diese Meldung der
drohenden Rückschaffung hervorgerufen hat (Quelle 17). In den konsul-
tierten Quellen ist jedoch kein konkreter Fall erwähnt, dass Tibeterinnen
und Tibeter, welche sich ausserhalb des Grenzgebietes aufhalten, seit
2005 an die chinesischen Behörden ausgeliefert wurden. Hingegen seien
gemäss Zeugenmeldungen Drohungen, zurückgeschickt zu werden,
ausgesprochen worden, welche der Einschüchterung politisch aktiver Ti-
beter und Tibeterinnen in Nepal dienen würden (Quelle 9).
5.6.6 In Bezug auf den Erwerb der nepalesischen Staatsangehörigkeit
ist Folgendes festzuhalten: Die Interims-Verfassung von 2007 sowie das
Bürgerrechtsgesetz von 2006 (« Nepal Citizenship Act 2063 [2006] »)
erlauben es tibetischen Flüchtlingen nicht, die nepalesische Staatsbürger-
schaft zu erwerben, ausser sie erfüllen die folgenden drei Voraussetzun-
gen (Quelle 2 und 20).
- Geburt vor dem 13. April 1990 in Nepal,
- seitheriger, permanenter Aufenthalt in Nepal, und
- Antragsstellung auf Erwerb der nepalesischen Staatsbürgerschaft,
die zwischen dem 26. November 2006 und dem 26. November 2008
erfolgt sein muss.
In den Quellen wird nicht erwähnt, wie viele Tibeter sich innerhalb
dieser Zweijahresfrist haben einbürgern lassen.
Laut Art. 3 des Nepal Citizenship Act erhalten Kinder die Staatsbürger-
schaft automatisch, wenn ein Elternteil Nepalese ist. Frauen können nach
Art. 5 dieses Gesetzes nach der Heirat mit einem Nepalesen die Staats-
bürgerschaft erwerben; Männer sind von dieser Regelung ausgeschlossen
(Quelle 6).
Laut SFH-Bericht zu Nepal gibt es zwei weitere Wege, die nepalesische
Staatsbürgerschaft zu erwerben: Einerseits verweist die SFH auf die so-
genannte « Angrikta », eine Staatsbürgerschaft, welche 1974 rund 1 500
tibetischen Guerilla-Kämpferinnen und -Kämpfern in Nepal gewährt
wurde. Deren Kinder erlangten danach durch Geburt die nepalesische
Staatsbürgerschaft. Zweitens besteht die Möglichkeit der sogenannten
« Nagrikta ». Dabei handelt es sich um ein Einbürgerungsprogramm der
nepalesischen Regierung der späten 1970er Jahre für hunderttausende
von Bewohnern der Himalaya-Region. Tibetische Flüchtlinge ausserhalb
Asyl und Wegweisung 2014/12


BVGE / ATAF / DTAF 207

der tibetischen Flüchtlingslager konnten damals die Staatsbürgerschaft
bei lokalen Behörden beantragen, da es nicht notwendig war, dafür ein
Identitätspapier vorzuweisen. Die meisten tibetischen Flüchtlinge
nahmen diese Gelegenheit damals aber nicht wahr, da die
Staatsbürgerschaft nicht notwendig schien (Quelle 20).
5.7 Zur Situation von Tibeterinnen und Tibetern in Indien ist Fol-
gendes festzuhalten:
5.7.1 In Indien leben derzeit zwischen 100 000 und 110 000 tibetische
Flüchtlinge (Quellen 26 und 32).
Gemäss UK Home Office können bezüglich Aufenthaltsstatus und
Staatsbürgerschaft drei Gruppen von eingewanderten Tibetern in Indien
unterschieden werden (Quelle 27).
- Die Mehrheit der in Indien ansässigen Tibeter hat das Land im Jahre
1959 erreicht; dem Dalai Lama folgten damals 80 000 bis 85 000
Personen ins Exil. Tibeter, die bis 1959 nach Indien gereist sind,
haben einen « Temporary Refugee » Status. Dazu gehören auch
deren Kinder, wenn sie vor 1987 geboren wurden; sie haben
theoretisch Anrecht auf die indische Staatsbürgerschaft;
- Tibeter, die nach 1959, aber vor dem 30. Mai 2003 ‒ im Jahr 2003
wurde das Special Entry Permit Programm (SEP-Programm)
eingeführt ‒ eingereist sind, fallen in die Kategorie « Long Time
Stay »;
- Tibeter, die nach dem 30. Mai 2003 eingereist sind.
Der Aufenthalt der tibetischen Flüchtlinge in Indien fällt unter den
Foreigners Act von 1946 und den Registration of Foreigner Act von
1939. Für den legalen Aufenthalt müssen sich eingereiste Tibeter bei den
indischen Behörden registrieren und ein « Registration Certificate »
beantragen (Quelle 7).
Bezüglich der für die Registrierung erforderlichen Vorweisung von
Dokumenten wird zwischen Tibetern, die mit einer Sondereinreise-
bewilligung einreisen (« Tibetan entering on Special Entry Permit »), und
Tibetern, die in Indien geboren wurden, unterschieden. Das erwähnte
SEP wird seit 2003 ausgestellt und kann auf der indischen Botschaft in
Katmandu beantragt werden (Quelle 27). Diese Sondereinreisebewilli-
gung wird in drei Kategorien ausgestellt: « Pilgrimage », « Education »
und « Other ». Tibeter mit einem « Pilgrimage-SEP » sind nicht berech-
tigt, ein Registration Certificate zu erhalten, können sich jedoch bis zu
sechs Monate lang in Indien aufhalten. Jene Tibeter mit einem « Edu-
2014/12 Asyl und Wegweisung


208 BVGE / ATAF / DTAF

cation-SEP » können ein einjähriges Registration Certificate beantragen,
das verlängerbar ist. Tibeter im Besitz eines « Other-SEP » können ein
Registration Certificate für einen längeren Aufenthalt beantragen. Mit
dem Start des SEP-Programmes ab 2003 soll sich die Ausstellung des
Registration Certificate für tibetische Neuankömmlinge aus Nepal
vereinfacht haben, der Aufenthalt in Indien ist jedoch zeitlich begrenzt
(Quelle 21).
Nebst den Registration Certificates gibt es in Indien die Möglichkeit
eines legalen Aufenthaltes im Land gestützt auf ein Residence Permit.
Viele Quellen unterscheiden nicht zwischen Registration Certificate und
Residence Permit. Es gibt unterschiedliche Berichte über die Ausstellung
von Registration Certificates und Residence Permits für Tibeter in
Indien. Bis 1979 eingereiste Tibeter sollen gemäss Migration Information
Source ein Residence Permit erhalten haben (Migration Information
Source, Global Nomads: The Emergence of the Tibetan Diaspora,
02.09.2008, emergence-tibetan-diaspora-part-i/ >, abgerufen am 08.04.2014; und
BBC News, Spotlight falls on India's Tibetans, 17.04.2008,
, abgerufen am
08.04.2014). Danach eingereiste Tibeter seien von der indischen
Regierung nicht als Flüchtlinge anerkannt und erhielten nicht direkt ein
Residence Permit (Quelle 10). Die Tibeter seien aber in Indien toleriert,
solange sie sich nicht politisch betätigen (Quelle 1). Die BBC berichtete
2008, dass es weiterhin möglich sei, ein Residence Permit zu erlangen,
der Prozess sei jedoch langwierig, bürokratisch und oft mit Bestechung
verbunden (BBC News, Spotlight falls on India's Tibetans, 17.04.2008:
). Gemäss Be-
richt des US Committee for Refugees and Immigrants von 2009 haben
die indischen Behörden weiterhin Dokumente für tibetische Flüchtlinge
ausgestellt. Das UNHCR stellt den von ihm anerkannten Mandatsflücht-
lingen Zertifikate aus, diese werden aber von den indischen Behörden
nicht als rechtmässige Aufenthaltstitel anerkannt und schützen die Be-
troffenen nicht vor einer Deportation wegen illegalen Aufenthaltes
(Quelle 29).
Seit der Einführung des SEP-Programmes im Jahr 2003 ist es für Tibeter
schwierig geworden, ein Residence Permit zu erhalten (Quellen 3, 4 und
30). Welchen legalen Status ein Residence Permit und/oder ein Registra-
tion Certificate verleihen, lässt sich aus den konsultierten Quellen nicht
genau eruieren. Das UNHCR geht davon aus, dass die von ihm ausge-
Asyl und Wegweisung 2014/12


BVGE / ATAF / DTAF 209

stellten Dokumente die tibetischen Flüchtlinge vor der Rückschiebung
nach China schützen. Das UNHCR weist 2012 darauf hin, dass alle vom
UNHCR registrierten Flüchtlinge Langzeit- und Arbeits-Visen erhalten,
die Aushandlung mit den indischen Behörden jedoch noch nicht ab-
geschlossen sei (Quelle 26). Auch die Central Tibetan Administration
(CTA) geht davon aus, dass ein Registration Certificate den Aufenthalt
der Tibeter in Indien legalisiere (Quelle 11).
5.7.2 Die Staatsbürgerschaft wird in der indischen Verfassung und
durch die « Citizenship Rules » von 1958 (angepasst 1998) und den
« Citizenship Act » von 1955 (angepasst 1986 und 2003) geregelt.
Gemäss Citizenship Act sind alle Personen, die zwischen dem 26. Januar
1950 und dem 1. Juli 1987 in Indien geboren sind, indische Staatsan-
gehörige durch Geburt. Personen, die mehr als elf Jahre in Indien gelebt
haben, können in der Periode des zwölften Aufenthaltsjahres die Einbür-
gerung verlangen. Nachkommen mit einem indischen Elternteil erhalten
zum Zeitpunkt ihrer Geburt die indische Staatsangehörigkeit, wenn sie
zwischen dem 1. Juli 1987 und dem 3. Dezember 2004 geboren sind.
Personen, die am oder nach dem 3. Dezember 2004 geboren wurden,
erhalten die Staatsbürgerschaft, wenn ein Elternteil über die indische
Staatsbürgerschaft verfügt und der andere Elternteil nicht illegal migriert
ist. Um die Staatsbürgerschaft zu erlangen, müssen tibetische Flüchtlinge
neben der Geburtsurkunde zudem ein « No Objection Certificate »
einreichen, das durch die tibetische Zentralbehörde ausgestellt wird
(Quelle 12). In Beantwortung einer Anfrage des Immigration and Refu-
gee Board of Canada an einen Rechtsprofessor und Experten für indi-
sches Recht gibt dieser im Dezember 2009 zu verstehen, dass viele
Tibeter nicht über die benötigten Dokumente verfügten; er bezeichnet es
als höchst aussergewöhnlich, dass ein Tibeter die indische Staatsbürger-
schaft erlange. Die wahrscheinlichste Erklärung hierfür liefere der
Umstand, dass es für zwischen 1950 und 1986 in Indien geborene
Tibeterinnen und Tibeter nicht möglich gewesen sei, sich im indischen
Geburtenregister zu registrieren, weshalb sie keine Geburtsurkunde
besitzen würden, welche jedoch für den Erhalt des indischen Passes
unabdingbar sei (Correspondence with Professor of Law, Touro College,
Central Islip, New York, vom 2. Dezember 2009, in: Immigration and
Refugee Board of Canada, India/China: Whether Tibetans can obtain
Indian citizenship, vom 8. Dezember 2009, org/cgi-bin/texis/vtx/rwmain?docid=4dd11ac12 >, abgerufen am
18.03.2014).
2014/12 Asyl und Wegweisung


210 BVGE / ATAF / DTAF

In Bezug auf den Erwerb der indischen Staatsangehörigkeit erlangte
allerdings das Urteil des High Court of Delhi vom 22. Dezember 2010
(vgl. High Court Delhi: NAMGYAL DOLKAR v. Government of India,
Ministry of External Affairs, W.P.(C) 12179/2009, India: High Courts,
22.12.2010, , abgeru-
fen am 24.02.2014) Bekanntheit, mit welchem das Gericht einen Präze-
denzfall schaffte, indem es den Aussenminister erstmals aufforderte,
einer im Jahr 1986 in Indien geborenen Frau, deren Eltern aus Tibet
stammten, einen indischen Pass auszustellen. Das Gericht hielt dabei
fest, dass jede Person, welche am oder nach dem 26. Januar 1950, aber
vor dem 1. Juli 1987 in Indien geboren sei, die indische Staatsangehörig-
keit von Geburt an erhalten solle. Dass seitdem allerdings weitere ver-
gleichbare Fälle ergangen wären, ist nicht bekannt. Aus den konsultierten
Quellen lassen sich keine Angaben darüber machen, wie viele Tibeter
nach diesem Urteil die indische Staatsbürgerschaft beantragt haben.
Gemäss einer Auskunft der tibetischen Zentralbehörde von August 2013
hat es seit August 2011 nur 14 Anfragen für ein « No Objection
Certificate » gegeben (Quelle 5). In einer Aufdatierung zum Urteil des
High Court verweist das Immigration and Refugee Board of Canada auf
einen Vertreter des Tibet Justice Center, wonach sich seit diesem
Gerichtsurteil für Tibeter in Bezug auf das Staatsbürgerrecht nichts
geändert habe (Quelle 13). Auch das US Department of State weist in
seinem Country Report for Human Rights Practices vom 19. April 2013
darauf hin, dass sich ethnische Tibeter bei der Erlangung des Bürger-
rechts mit Schwierigkeiten konfrontiert sehen, selbst wenn die hierzu
gesetzlich geforderten Bedingungen erfüllt seien (Quelle 32).
5.7.3 Was die Rückweisung von Exil-Tibetern nach China durch
indische Behörden anbelangt, ist Folgendes festzuhalten:
Indien ist nicht Signatarstaat der Flüchtlingskonvention von 1951 oder
des Zusatzprotokolls von 1967. Indien hat aber in den vergangenen Jahr-
zehnten tibetische Flüchtlinge grosszügig aufgenommen. Gemäss den
Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichts werden Tibeter in Indien
nicht mit einer Wegweisung bedroht, und es kann grundsätzlich von
einem effektiven Schutz vor Rückschiebung in Indien gesprochen
werden. Selbst Tibeter, die sich nicht an die Aufforderung der indischen
Behörden, politische Aktivitäten zu unterlassen, gehalten haben, sind in
der Vergangenheit nicht nach China weggewiesen worden. Dem Gericht
liegen aus jüngeren Länderlageanalysen keine Anhaltspunkte dafür vor,
Asyl und Wegweisung 2014/12


BVGE / ATAF / DTAF 211

dass Indien seine bisherige grosszügige Praxis der Aufnahme von
Tibetern geändert hätte (vgl. Quelle 2 und die dort zitierten Quellen).
Das US State Department hält auch in seinen letzten Berichten der Jahre
2012 und 2013 fest, dass keine Fälle bekannt geworden seien, wonach
Flüchtlinge aus Indien deportiert worden wären (Quellen 32 und 33).
Dem zitierten Bericht des Australian Government Refugee Review
Tribunal ist zu entnehmen, dass Indien ‒ trotz Nicht-Ratifizierung der
FK ‒ den Flüchtlingen aus Tibet (und Sri Lanka) den Schutz vor
Refoulement garantiere. Indien beherberge seit 1960 circa 110 000
tibetische Flüchtlinge (« de facto refugees ») aus Tibet; gemäss Aussagen
tibetischer Führungspersönlichkeiten im Lande würden die Tibeter von
Indien sehr gut behandelt. Gemäss UNHCR werde auch heute Neuan-
kommenden der Aufenthalt in Indien erlaubt, solange sie sich nicht in
politische Aktivitäten involvieren würden.
In den vom Australian Government Refugee Review Tribunal ausge-
werteten Quellen wird die Grosszügigkeit Indiens bei der Aufnahme
tibetischer Flüchtlinge unterstrichen und es wird nicht von bekannt ge-
wordenen Fällen von Rückschiebungen aus Indien nach China berichtet.
Bekannt wurden hingegen im Vorfeld der olympischen Spiele von Peking
im Jahr 2008 Festnahmen tibetischer Demonstranten in Indien, die
anlässlich des Fackellaufs mit der olympischen Flamme demonstriert
hatten; dass hieraus Rückschiebungen und eine Verletzung des Refoule-
ment-Verbots erwachsen wären, geht aus den Berichten aber nicht hervor.
Einzig das Tibet Justice Center berichtet von vereinzelten, seit den
1990er Jahren erfolgten Rückführungen (Quelle 22). Hievon abgesehen,
sind dem Bundesverwaltungsgericht keine Rückschaffungen von tibeti-
schen Flüchtlingen von Indien nach China bekannt.
5.8 Nach dem Gesagten ist zusammenfassend festzustellen, dass für
Angehörige der tibetischen Ethnie sowohl in Nepal als auch in Indien die
Möglichkeit besteht, unter gewissen Bedingungen eine Aufenthaltsbewil-
ligung zu erhalten, beziehungsweise dass es unter engen Voraussetzun-
gen auch möglich ist, die entsprechende Staatsangehörigkeit zu erwer-
ben, womit die chinesische Staatsangehörigkeit ‒ durch den Erwerb einer
neuen Staatsangehörigkeit ‒ wegfällt. Daneben muss aber davon ausge-
gangen werden, dass ein grosser Teil der in Nepal und Indien lebenden
Exil-Tibeterinnen und -Tibeter keine neue Staatsangehörigkeit erworben
haben und nach wie vor die chinesische Staatsangehörigkeit besitzen.
2014/12 Asyl und Wegweisung


212 BVGE / ATAF / DTAF

Für asylsuchende Personen tibetischer Ethnie, welche unglaubhafte An-
gaben über ihren angeblichen Sozialisierungsraum in China machen,
bestehen grundsätzlich folgende mögliche Konstellationen bezüglich der
Staatsangehörigkeit:
a. Besitz der chinesischen Staatsangehörigkeit ohne Aufenthaltsbewil-
ligung in Nepal oder Indien (blosse Duldung im betreffenden Dritt-
staat);
b. Besitz der chinesischen Staatsangehörigkeit mit entsprechender
Aufenthaltsbewilligung im Drittstaat Nepal oder Indien;
c. Besitz der Staatsangehörigkeit von Nepal oder von Indien (und
damit einhergehendem Verlust der chinesischen Staatsangehörig-
keit).
Daraus ergibt sich folgendes Prüfschema:
Besitzt die betreffende Person die chinesische Staatsangehörigkeit und
verfügt sie gleichzeitig über eine Aufenthaltsberechtigung im Drittstaat
Nepal oder Indien (Konstellation b) oder wird die Person im betreffenden
Drittstaat zumindest geduldet (Konstellation a), wäre eine Prüfung der
Drittstaatenregelung im Sinne von Art. 31a Abs. 1 Bst. c AsylG durch die
Asylbehörden möglich, vorausgesetzt die asylsuchende Person legt den
schweizerischen Behörden alle Fakten im Verfahren dar. Bei der
Konstellation b) dürften im Regelfall die Voraussetzungen der Dritt-
staatenregelung gegeben sein.
Hat der tibetische Asylsuchende die Staatsangehörigkeit von Nepal oder
Indien erlangt (Konstellation c), hat die betreffende Person die chine-
sische Staatsangehörigkeit nicht respektive nicht mehr, zumal sie gemäss
chinesischer Rechtsprechung durch den Erwerb einer anderweitigen
Staatsbürgerschaft die chinesische Nationalität verliert. Diesfalls wäre
die Flüchtlingseigenschaft in Bezug auf Nepal beziehungsweise Indien
zu prüfen. Vermutungsweise gilt, dass die asylsuchende Person im Land
ihrer (neu erlangten) Staatsangehörigkeit keine asylrelevante Gefährdung
zu befürchten hat, wenn sie keine entsprechenden Vorbringen glaubhaft
vorträgt.
5.9 Die Abklärungspflicht der Asylbehörden findet ihre Grenze an
der Mitwirkungspflicht der asylsuchenden Person. Verunmöglicht ein
tibetischer Asylsuchender durch die Verletzung seiner Mitwirkungs-
pflicht die Abklärung, welchen effektiven Status er in Nepal respektive in
Indien innehat, kann namentlich keine Drittstaatenabklärung im Sinne
von Art. 31a Abs. 1 Bst. c AsylG stattfinden. Durch die Verheimlichung
Asyl und Wegweisung 2014/12


BVGE / ATAF / DTAF 213

und Verschleierung der wahren Herkunft wird auch die Prüfung der
Flüchtlingseigenschaft der betreffenden Person in Bezug auf ihr effek-
tives Heimatland verunmöglicht.
5.10 Nach dem Gesagten ist die Rechtsprechung des Bundesverwal-
tungsgerichts, wie sie im bis heute Gültigkeit beanspruchenden Entscheid
in EMARK 2005 Nr. 1 E. 4.3 publiziert wurde, wie folgt zu präzisieren:
Bei Personen tibetischer Ethnie, die ihre wahre Herkunft verschleiern
oder verheimlichen, ist vermutungsweise davon auszugehen, dass keine
flüchtlings- oder wegweisungsbeachtlichen Gründe gegen eine Rückkehr
an ihren bisherigen Aufenthaltsort bestehen.
5.11 Nachdem diejenigen Tibeterinnen und Tibeter, die die chine-
sische Staatsbürgerschaft besitzen, in Bezug auf China zumindest subjek-
tive Nachfluchtgründe haben, weil sie als Unterstützer des Dalai Lama
und damit als separatistisch gesinnte Oppositionelle betrachtet werden
und ‒ wiederum in Bezug auf China ‒ die Flüchtlingseigenschaft erfüllen
(vgl. BVGE 2009/29), ist für alle Exil-Tibeterinnen und -Tibeter ein
Vollzug nach China auszuschliessen, da ihnen dort gegebenenfalls eine
Refoulement-Verletzung droht.
6. Vorliegend hat der Beschwerdeführer, welcher unbestrittener-
massen tibetischer Ethnie ist, unglaubhafte Angaben zu seiner Soziali-
sierung, zu seiner wahren Herkunft und zu seinen bisherigen Auf-
enthaltsorten vor der Einreise in die Schweiz gemacht. Aufgrund dieser
unglaubhaften Angaben kann seitens der Asylbehörden nicht eruiert
werden, welche der in E. 5.8 genannten Fallkonstellationen auf ihn
zutrifft. Dadurch hat er die ihm obliegende Mitwirkungspflicht verletzt.
Die Abklärungspflicht der Asylbehörden findet ‒ wie bereits festgehal-
ten ‒ ihre Grenze an der Mitwirkungspflicht der asylsuchenden Person.
Vorliegend verunmöglicht der Beschwerdeführer durch die Verletzung
seiner Mitwirkungspflicht die Abklärung, welchen effektiven Status er in
Nepal respektive in Indien innehat, beziehungsweise die Prüfung, welche
Staatsangehörigkeit er besitzt. Durch dieses Verhalten verunmöglicht der
Beschwerdeführer eine Prüfung der Drittstaatenregelung im Sinne von
Art. 31a Abs. 1 Bst. c AsylG beziehungsweise eine Prüfung seiner allfäl-
ligen Flüchtlingseigenschaft in Bezug auf Nepal oder Indien.
Der Beschwerdeführer hat durch die Verheimlichung respektive Ver-
schleierung seiner wahren Herkunft die ihm obliegende Mitwirkungs-
pflicht verletzt. Er hat die Folgen seiner fehlenden Mitwirkung insofern
zu tragen, als seitens der Asylbehörden der Schluss gezogen werden
2014/12 Asyl und Wegweisung


214 BVGE / ATAF / DTAF

muss, es spreche nichts gegen eine Rückkehr an den bisherigen Aufent-
haltsort, da der Beschwerdeführer keine konkreten, glaubhaften Hinweise
geliefert hat, die gegen eine entsprechende Rückkehr sprechen würden.
Da der Beschwerdeführer unbestrittenermassen tibetischer Ethnie ist und
dadurch auch die Möglichkeit nicht auszuschliessen ist, dass er die
chinesische Staatsangehörigkeit besitzt, ist vorliegend der Wegweisungs-
vollzug nach China auszuschliessen, da ihm dort gegebenenfalls eine
Refoulement-Verletzung droht.