9 W (pat) 30/14  - 9. Senat (Techn.Beschw.)
Karar Dilini Çevir:

BUNDESPATENTGERICHT



9 W (pat) 30/14
_______________
(Aktenzeichen)



Verkündet am
31. Mai 2017





B E S C H L U S S

In der Beschwerdesache

betreffend das Patent 10 2007 037 346



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hat der 9. Senat (Technischer Beschwerdesenat) auf die mündliche Verhandlung
vom 31. Mai 2017 unter Mitwirkung des Vorsitzenden Richters Dipl.-Ing. Hilber
sowie der Richter Dr.-Ing. Baumgart, Schmid und Dr.-Ing. Geier

beschlossen:

1. Die Beschwerde der Beschwerdeführerin 1 (Einsprechende) wird
zurückgewiesen.

2. Die Beschwerde der Beschwerdeführerin 2 (Patentinhaberin) wird
zurückgewiesen, soweit sie über den Hilfsantrag hinausgeht.


G r ü n d e

I

Die Patentabteilung 21 des Deutschen Patent- und Markenamts hat nach Prüfung
eines Einspruchs das am 8. August 2007 angemeldete Patent 10 2007 037 346,
dessen Erteilung am 16. September 2010 veröffentlicht wurde, mit der Bezeich-
nung

„Steuergerät für eine Bremsanlage eines Nutzfahrzeugs und Verfahren
zum Steuern einer Bremsanlage“

durch den am Ende der mündlichen Anhörung vom 15. Juli 2014 verkündeten Be-
schluss im Umfang des in der Anhörung überreichten Hilfsantrags 1 beschränkt
aufrechterhalten.
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Die Beschlussbegründung wurde von den Unterzeichnenden am 30. Juli 2014
signiert, jeweils in einer separaten Beschlussausfertigung versandt und von bei-
den Beteiligten am 4. August 2014 laut jeweiligem Empfangsbekenntnis empfan-
gen.

Gegen diesen Beschluss richtet sich die mit Schriftsatz vom 18. August 2014
eingelegte Beschwerde der Einsprechenden, die am 19. August 2014 per Fax ein-
gegangen ist. Sie ist der Meinung, dass der Gegenstand des beschränkt aufrecht-
erhaltenen Patents unzulässig erweitert sei. Darüber hinaus sei der Gegenstand in
der beschränkt aufrechterhaltenen Fassung des Patentanspruchs 1 nicht erfinde-
risch ausgehend von einer der Druckschriften

D2: EP 1 541 437 A2 oder

D3: DE 10 2005 020 626 A1,

in Kombination mit einer der Druckschriften

D14: WO 96/30243 A1,

D15: DE 600 03 310 T2 oder

D19: WABCO-Firmenschrift „Anti-Blockier-Systeme (ABS) für Nutz-
fahrzeuge“, veröffentlicht im November 1990.

Mit Schriftsatz vom 27. August 2014, eingegangen am selben Tag per Fax, hat die
Patentinhaberin ebenfalls Beschwerde gegen den Beschluss der Patentabtei-
lung 21 des Deutschen Patent- und Markenamts eingelegt. Sie widerspricht dem
Vorbringen der Einsprechenden und Beschwerdeführerin 1 und verteidigt ihr Pa-
tentbegehren im Umfang der mit dem Schreiben vom 1. Juni 2014 eingereichten
Patentansprüche 1 bis 24 zum Hauptantrag im Einspruchsverfahren, hilfsweise
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beantragt sie die Beschwerde der Einsprechenden als unbegründet zurückzu-
weisen.

Die Einsprechende, Beschwerdeführerin 1 und Beschwerdegegnerin zu 2 führte
hierzu mit Schriftsatz vom 15. Januar 2016 aus, dass auch der Gegenstand des
Patentanspruchs 1 nach dem Hauptantrag im Einspruchsverfahren auf einer unzu-
lässigen Erweiterung beruhe, sowie zumindest die Gegenstände der unabhängi-
gen Patentansprüche 1 und 24 aus gleichen Gründen, wie vorstehend genannt,
nicht erfinderisch seien.

In der mündlichen Verhandlung vom 31. Mai 2017 beantragt die Beschwerdefüh-
rerin 1 und Einsprechende zuletzt,

den Beschluss der Patentabteilung 21 vom 15. Juli 2014 aufzuhe-
ben und das erteilte Patent 10 2007 037 346 zu widerrufen. Ferner
beantragt sie, die Beschwerde der Patentinhaberin umfassend
zurückzuweisen.

Die Beschwerdeführerin 2 und Patentinhaberin stellt den Antrag,

den Beschluss der Patentabteilung 21 des Deutschen Patent- und
Markenamts vom 15. Juli 2014 aufzuheben, das Pa-
tent 10 2007 037 346 in beschränktem Umfang nach Maßgabe fol-
gender Unterlagen aufrechtzuerhalten:

– Patentansprüche 1 bis 24 gemäß Schriftsatz vom 1. Juli 2014,

– Beschreibung und Zeichnungen gemäß Patentschrift

und die Beschwerde der Einsprechenden zurückzuweisen (Haupt-
antrag).
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Hilfsweise beantragt sie, die Beschwerde der Einsprechenden zurückzuweisen.

Der geltende Patentanspruch 1 gemäß Hauptantrag lautet:

Steuergerät (60) für eine Bremsanlage eines Nutzfahrzeuges, wobei die
Bremsanlage

- Betriebsbremszylinder (400) und Federspeicherbremszylinder (402)
zum Bremsen des Nutzfahrzeugs,

- ein elektronisches Steuergerät (60),

- Sensoren (220, 30, 230) zum Erfassen des Bewegungszustandes
des Nutzfahrzeugs,

- ein Fußbremsventil (430) zum Betätigen der Betriebsbremse,

- eine Handsteuereinheit (22), über die von der Betätigungsart der
Handsteuereinheit (22) abhängige Fahrerwünsche an das elektroni-
sche Steuergerät (60) übermittelbar sind,

- ein Modul (62) mit elektrisch ansteuerbaren Ventilen für ein Anti-
blockiersystem und ein Modul (64) mit elektrisch ansteuerbaren
Ventilen für eine elektrisch gesteuerte Feststellbremse umfasst,

- wobei das elektronische Steuergerät (60) sowohl die Beeinflussung
des Antiblockiersystems regelt als auch ein Öffnen und Schließen
der elektrisch gesteuerten Feststellbremse übernimmt,

dadurch gekennzeichnet,
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- dass die Funktion des Antiblockiersystems und die Funktion der
elektrisch gesteuerten Feststellbremse im Defektfall getrennt von-
einander deaktiviert werden können.
-
Diesem Patentanspruch 1 schließen sich die Unteransprüche 2 bis 23 gemäß
Hauptantrag an.

Der geltende Patentanspruch 24 gemäß Hauptantrag lautet:

Verfahren zum Steuern einer Bremsanlage (60) für ein mit einem
Anhänger koppelbares Nutzfahrzeug, mit

- Betriebsbremszylindern (400) und Federspeicherbremszylin-
dern (402) zum Bremsen des Nutzfahrzeugs,

- ein elektronisches Steuergerät (60),

- Sensoren (220, 30, 230) zum Erfassen des Bewegungszustandes
des Nutzfahrzeugs,

- einem Fußbremsventil (430) zum Betätigen der Betriebsbremse,

- einer Handsteuereinheit (22), über die von der Betätigungsart der
Handsteuereinheit (22) abhängige Fahrerwünsche an das elektroni-
sche Steuergerät (60) übermittelt werden,

- einem Modul (62) mit elektrisch ansteuerbaren Ventilen für ein Anti-
blockiersystem und einem Modul (64) mit elektrisch ansteuerbaren
Ventilen für eine elektrisch gesteuerte Feststellbremse mit einem
Anhängersteuerventil zum Anschluss eines Anhängers,

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- wobei das elektronische Steuergerät (60) unter Verwendung des
Moduls (64) für die elektrisch gesteuerte Feststellbremse und insbe-
sondere des vorhandenen Steueranschlusses (120) eine kontrollier-
te Steckbremsung einleitet und überwacht, falls eine Streckbrem-
sung angefordert wird,

dadurch gekennzeichnet,

- dass bei einem Defekt des Antiblockiersystems die Funktion des
Antiblockiersystems getrennt von der Funktion der elektrisch ge-
steuerten Feststellbremse deaktiviert wird, und dass bei einem De-
fekt der elektrisch gesteuerten Feststellbremse die Funktion der
elektrisch gesteuerten Feststellbremse getrennt von der Funktion
des Antiblockiersystems deaktiviert wird.

Die Patentansprüche 1 bis 23 gemäß Hilfsantrag entsprechen den Patentansprü-
chen 1 bis 23 gemäß Hauptantrag.

Zu den jeweiligen Unteransprüchen, der jeweils geltenden Beschreibung sowie zu
weiteren Einzelheiten wird auf den Akteninhalt verwiesen.

Folgende weitere Druckschriften befinden sich im Verfahren:

D1: DE 10 2006 041 011 A1,

D4: EP 1 504 975 A1,

D5: DE 43 27 759 A1,

D6: DE 198 57 393 A1,

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D7: EP 1 366 964 A2,

D8: DE 10 2005 043 607 A1,

D9: DE 102 06 222 A1,

D10: DE 103 33 966 A1,

D11: W0 2007/028579 A1,

D12: DE 602 08 804 T2,

D13: DE 37 41 790 A1,

D16: DE 10 2004 017 719 A1 und

D17: DE 42 08 001 A1.


II

1. Die erhobenen Beschwerden sind statthaft und auch sonst zulässig (§ 73 Abs. 1
und 2 Satz 1 PatG, § 6 Abs. 1 Satz 1 PatKostG).

2. Der Beschwerde der Einsprechenden musste der Erfolg versagt bleiben.

Hingegen war der Beschwerde der Patentinhaberin insoweit stattzugeben, als
dass diese zur Zurückweisung der Beschwerde der Einsprechenden führt, denn
der Senat konnte weder feststellen, dass der Gegenstand des Patentanspruchs 1
gemäß Hilfsantrag gegenüber dem ursprünglichen Anmeldegegenstand in unzu-
lässiger Weise erweitert ist, noch dass dem im Verfahren befindlichen Stand der
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Technik am Anmeldetag des Streitpatents eine hinreichende Anregung für einen
Gegenstand mit den Merkmalen des Patentanspruchs 1 gemäß Hilfsantrag zu
entnehmen war oder dieser gar vollständig vorbekannt war.

3. Das Streitpatent betrifft gemäß den Absätzen [0002] und [0003] der Streitpa-
tentschrift, im folgenden SPS genannt, ein Steuergerät für eine Bremsanlage
eines Nutzfahrzeuges sowie ein Verfahren zum Steuern einer Bremsanlage für ein
mit einem Anhänger koppelbares Nutzfahrzeug.

Bremsanlagen für Nutzfahrzeuge unterliegen im Allgemeinen strengen Bestim-
mungen hinsichtlich Ausfall- und Betriebssicherheit. Ein besonderes Augenmerk
werde dabei üblicherweise auf eine Redundanz der Betriebsbremskreise gelegt,
um das Nutzfahrzeug im Defektfall noch sicher zum Halten bringen zu können.
Weiterhin solle eine möglichst ausfallsichere Feststellbremse zur Verfügung ge-
stellt werden, um ein unbeabsichtigtes Wegrollen des Nutzfahrzeugs sicher zu
verhindern. Weitere teilweise elektronisch gesteuerte Fahrsicherheitssysteme, wie
ABS, ESP etc., seien in Abhängigkeit von dem Verwendungszweck der Nutzfahr-
zeuge mittlerweile üblich.

Dadurch könne, insbesondere bei leichten kleinen Nutzfahrzeugen, die Situation
entstehen, dass entweder hochintegrierte Komplettlösungen verbaut werden
müssten, die die erwünschten Sicherheitsmerkmale bei weitem übertreffen, oder
autarke Einzelsysteme verbaut würden, die speziell an die Kundenwünsche für die
jeweiligen Nutzfahrzeuge angepasst sind.

Ein elektronisches Bremssystem (EBS) stelle eine solche hochintegrierte Sicher-
heitslösung für ein Nutzfahrzeug dar, die bekannte Fahrsicherheitssysteme, wie
ABS, ESP etc., vereinigt. Es werde für alle Achsen eine permanente drucklastab-
hängige Regelung der Bremswirkung vorgenommen, wobei der Regelkreis sowohl
über Drucksensoren als auch über Raddrehzahlsensoren geschlossen werde.
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Weiterhin erfolge die Anhängersteuerung, zum Beispiel für eine Streckbremsung,
elektrisch (vgl. Absatz [0003] der SPS).

Sowohl der Einbau eines hochintegrierten Fahrsicherheitssystems als auch die
Verwendung autarker Systeme, die dann eventuell nicht alle erwünschten Eigen-
schaften aufwiesen, könne sinnvoll sein. Die Verwendung eines hochintegrierten
Fahrsicherheitssystems, das üblicherweise nur in große und schwere Nutzfahr-
zeuge eingebaut werde und alle Kundenwünsche erfüllen könne, würde im Allge-
meinen nicht nur die Kosten für das leichtere Nutzfahrzeug erhöhen. Vielmehr
könne auch das Gewicht der kompletten Sicherheitsausrüstung das Gesamtge-
wicht des leichteren Nutzfahrzeugs signifikant erhöhen und wertvollen Bauraum
beanspruchen, da auch nicht benötigte Komponenten verbaut werden müssen.
Die Kosten, das Gewicht und der beanspruchte Bauraum seien bei dem schweren
Nutzfahrzeug weniger bedeutend, da sie nur einen Bruchteil des Gesamtpreises,
des Gesamtgewichts bzw. des verfügbaren Raumes ausmachten. Insbesondere
bei leichten Nutzfahrzeugen könne es hingegen erwünscht sein, Gewichts- und
Bauraumeinsparungen durch die Verwendung autarker Systeme zu erzielen (vgl.
Absatz [0004] der SPS).

Aufgabe der Erfindung sei es daher, die notwendigen Bauteile zur Integration der
für ein insbesondere leichtes Nutzfahrzeug erwünschten Fahrsicherheitssysteme
zu reduzieren und dadurch die Ausfallsicherheit zu erhöhen. Gleichzeitig sollen
möglichst viele der sich bietenden Synergien hinsichtlich der Funktionalität ausge-
nutzt werden, ohne die Sicherheit des Nutzfahrzeugs negativ zu beeinflussen (vgl.
Absatz [0007] der SPS).

Diese Aufgabe werde mit den Merkmalen der unabhängigen Ansprüche gelöst.

4. Als Fachmann wird bei der nachfolgenden Bewertung des Standes der Technik
sowie dem Verständnis des Streitgegenstands von einem Durchschnittsfachmann
ausgegangen, der als Diplom-Ingenieur der Fachrichtung Fahrzeugtechnik ausge-
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bildet ist. Dieser ist auf dem Gebiet der Entwicklung von Fahrzeugbremssystemen
für Nutzfahrzeuge tätig und verfügt auf diesem Gebiet über mehrere Jahre Berufs-
erfahrung.

5. Hauptantrag

Der Hauptantrag der Patentinhaberin kann keinen Erfolg haben. So ist zwar der
Gegenstand nach Patentanspruchs 1 des Anspruchssatzes gemäß Hauptantrag
patentfähig, wie folgend bereits im Hinblick auf den Hilfsantrag ausgeführt, dessen
Anspruchssatz den Patentanspruch 1 in identischer Fassung umfasst. Allerdings
umschreibt das Verfahren des unabhängigen Patentanspruchs 24 in seiner Ge-
samtheit eine technische Lehre, die der Fachmann den ursprünglich eingereichten
Unterlagen nicht als mögliche Ausgestaltung der Erfindung entnehmen kann (vgl.
BGH, Beschluss vom 11. September 2001 – X ZB 18/00, BPatGE 44, 284 – Dreh-
momentübertragungseinrichtung).

5.1 Zur Erleichterung von Bezugnahmen sind die Merkmale des Patentan-
spruchs 1 gemäß Hauptantrag nachstehend in Form einer Merkmalsgliederung
wiedergegeben.

1.0 Steuergerät (60) für eine Bremsanlage eines Nutzfahrzeuges, wobei
die Bremsanlage umfasst:

1.1 Betriebsbremszylinder (400) und Federspeicherbremszylin-
der (402) zum Bremsen des Nutzfahrzeugs,

1.2 ein elektronisches Steuergerät (60),

1.3 Sensoren (220, 30, 230) zum Erfassen des Bewegungszu-
standes des Nutzfahrzeugs,

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1.4 ein Fußbremsventil (430) zum Betätigen der Betriebsbremse,

1.5 eine Handsteuereinheit (22), über die von der Betätigungsart
der Handsteuereinheit (22) abhängige Fahrerwünsche an das
elektronische Steuergerät (60) übermittelbar sind, und

1.6 ein Modul (62) mit elektrisch ansteuerbaren Ventilen für ein
Antiblockiersystem und ein Modul (64) mit elektrisch ansteuer-
baren Ventilen für eine elektrisch gesteuerte Feststellbremse,

1.7 wobei das elektronische Steuergerät (60) sowohl die Beeinflussung
des Antiblockiersystems regelt als auch ein Öffnen und Schließen
der elektrisch gesteuerten Feststellbremse übernimmt,

dadurch gekennzeichnet,

1.8 dass die Funktion des Antiblockiersystems und die Funktion der
elektrisch gesteuerten Feststellbremse im Defektfall getrennt von-
einander deaktiviert werden können.

5.2 Die Prüfung der Patentfähigkeit erfordert regelmäßig eine Auslegung des Pa-
tentanspruchs, bei der dessen Sinngehalt in seiner Gesamtheit und der Beitrag,
den die einzelnen Merkmale zum Leistungsergebnis der Erfindung liefern, zu be-
stimmen sind (BGH – Polymerschaum, Urteil vom 17. Juli 2012 – X ZR 117/11,
BGHZ 194, 107-120, BPatGE 53, 299-300). Dies gilt auch für das Einspruchs- und
Einspruchsbeschwerdeverfahren. Dazu ist zu ermitteln, was sich aus der Sicht des
angesprochenen Fachmanns aus den Merkmalen des Patentanspruchs im Einzel-
nen und in ihrer Gesamtheit als unter Schutz gestellten technische Lehre ergibt,
wobei der Fachmann auch die Beschreibung und Zeichnung heranzuziehen hat
(BGH – Informationsübermittlungsverfahren, Beschluss vom 17. April 2007
– X ZB 9/06 –, BGHZ 172, 108-118, BPatGE 2008, 291).
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Der vorstehend definierte Fachmann entnimmt dem Patentanspruch 1 gemäß
Hauptantrag ein auf ein elektronisches Steuergerät gerichtetes Schutzbegehren,
wobei dieses Steuergerät für den Einsatz in einer Bremsanlage geeignet ist, wel-
che zumindest die Merkmale 1.1 bis 1.6 umfasst. Im Besonderen weist die anzu-
steuernde Bremsanlage dabei ein erstes Modul mit elektrisch ansteuerbaren Ven-
tilen für ein Antiblockiersystem und ein zweites Modul mit elektrisch ansteuerbaren
Ventilen für eine elektrisch gesteuerte Feststellbremse auf. Mithin muss das Steu-
ergerät vorrichtungs- und programmsteuerungstechnisch hierfür vorgerüstet sein,
was aus der Anführung der Bestandteile der Bremsanlage und der Steuerungs-
funktionalität des elektronischen Steuerungsgeräts folgt. Entsprechend dem als
solchen erkennbaren Zirkelschluss im Wortlaut des Merkmals 1.2 in Bezug zu
Merkmal 1.0 setzt der Fachmann somit das elektronische Steuergerät (60) des
Merkmals 1.0 mit dem Steuergerät (60) des Merkmals 1.2 gleich.

Das elektronische Steuergerät ist gemäß Merkmal 1.7 dabei in der Lage sowohl
die Beeinflussung des Antiblockiersystems in dem genannten ersten Modul zu re-
geln, als auch ein Öffnen und Schließen der elektrisch gesteuerten Feststell-
bremse in dem genannten zweiten Modul zu übernehmen; hierdurch ist somit die
Fähigkeit zur elektrischen Ansteuerung des Antiblockiersystems und der Feststell-
bremse impliziert.

Vorliegend ist somit die elektronische Steuereinheit für beide Fahrsicherheits-
systeme, Antiblockiersystem und Feststellbremse, zuständig, denn die elektroni-
sche Steuereinheit regelt die Steuerung des Antiblockiersystems und steuert zu-
gleich die Funktion der elektrisch gesteuerten Feststellbremse (vgl. auch Ab-
satz [0010] der SPS).

Darüber hinaus können gemäß Merkmal 1.8 die von dem Steuergerät geleistete
Funktion hinsichtlich des Antiblockiersystems und die geleistete Funktion hinsicht-
lich der elektrisch gesteuerten Feststellbremse getrennt voneinander deaktiviert
werden. Das beanspruchte Steuergerät ist somit funktionell derart hergerichtet,
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dass die von ihm geleistete entsprechende Funktion bewusst außer Kraft gesetzt
werden kann. Es unterscheidet sich insofern von einem Steuergerät, welches
diese Funktionen weiter bereitstellt, diese aber nicht mehr ausgeführt werden, da
nachfolgende, nicht dem Steuergerät zuzurechnende Einrichtungen entsprechen-
de Befehle nicht mehr verarbeiten.

Die getrennte Deaktivierung einer der beiden Funktionen erfolgt im Defektfall. Die-
ser kann nach Absatz [0049] der SPS aufgrund eines in dem Steuergerät auftre-
tenden Fehlerfalls eintreten. Er umfasst aber auch einen Defekt, welchen das
Antiblockiersystem oder die elektrische Feststellbremse als Teilsystem der
Bremsanlage aufweisen können (vgl. Absätze [0022] und [0028] der SPS). Somit
kann auch ein Defekt des Antiblockiersystems oder ein Defekt des Feststell-
bremssystems, welcher außerhalb des Steuergeräts auftritt, zu einer Deaktivie-
rung der von dem Steuergerät bereitgestellten Funktionalität führen.

Soweit die Patentinhaberin zwar zustimmt, dass gemäß der Beschreibung dem
Defektfall sowohl Defekte außerhalb des Steuergeräts wie auch Fehler innerhalb
des Steuergeräts zuzuordnen sind, sie den in Merkmal 1.8 angeführten Defektfall
jedoch ausschließlich auf die innerhalb des Steuergeräts anfallenden Fehler be-
schränkt sehen möchte, da der Patentanspruch 1 nur auf das Steuergerät gerich-
tet sei, kann ihr darin somit nicht gefolgt werden. Dies zumal die Patentinhaberin
hinsichtlich der Offenbarung bezüglich des Defektfalls gemäß ihrem Schriftsatz
vom 15. Juli 2014 explizit auf den Absatz [0022] der SPS verweist.

5.3 Der Patentanspruch 1 gemäß Hauptantrag ist zulässig, denn dessen Gegen-
stand ist in den ursprünglich eingereichten Anmeldeunterlagen als zur Erfindung
gehörig offenbart sowie auch beschränkt gegenüber dem Gegenstand des Pa-
tentanspruchs 1 in der erteilten Fassung.

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Der Senat legt zur Beurteilung des Inhalts der Anmeldung in der ursprünglichen
eingereichten Fassung die damit vollständig übereinstimmende Offenlegungs-
schrift DE 10 2007 037 346 A1, im folgenden OS genannt, zugrunde.

Die Merkmale 1.0 bis 1.6 gehen unmittelbar und wörtlich aus dem Oberbegriff des
ursprünglichen Patentanspruchs 1 hervor.

Das Merkmal 1.7 findet seinen Ursprung in dem Kennzeichenteil des ursprüngli-
chen Patentanspruchs 1, wonach “das elektronische Steuergerät (60) sowohl die
Beeinflussung des Antiblockiersystems als auch der elektrisch gesteuerten Fest-
stellbremse übernimmt“. Es unterscheidet sich jedoch von dem ursprünglichen
Merkmal im Wortlaut dadurch, dass das Steuergerät nun die Beeinflussung des
Antiblockiersystems nicht mehr „übernimmt“, sondern „regelt“.

In Absatz [0009] der OS ist hierzu zunächst vergleichbar ausgeführt, „dass das
elektronische Steuergerät sowohl die Beeinflussung des Antiblockiersystems als
auch der elektrisch gesteuerten Feststellbremse übernimmt“. Im Weiteren ist in
diesem Absatz jedoch beschrieben, dass als Steuergerät eine einzelne Steuerein-
heit für beide Fahrsicherheitssysteme verwendet werden kann, wobei die elektro-
nische Steuereinheit – und somit das Steuergerät – die Steuerung des Antiblo-
ckiersystem „regelt“ und zugleich die Funktion der elektrisch gesteuerten Fest-
stellbremse steuert. Das Merkmal 1.7 geht daher aus dem ursprünglichen Patent-
anspruch 1 in Verbindung mit der Offenbarung des Absatzes [0009] der OS her-
vor. Es ist daher auch in seiner Kombination mit den Merkmalen 1.0 bis 1.6 ur-
sprungsoffenbart.

Das gegenüber der erteilten Fassung des Patentanspruchs 1 beschränkend wir-
kende Merkmal 1.8 entstammt dem ursprünglichen Anspruch 15, wobei über des-
sen Sinngehalt hinaus die Deaktivierung einer der beiden beanspruchten Funktio-
nen nur „im Defektfall“ vollzogen wird. Dieser ist, wie vorstehend dargelegt, im
Sinne der Absätze [0022], [0028] und [0049] der SPS entsprechend auszulegen,
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und somit in den wortgleichen Absätzen [0021], [0027] und [0048] der OS offen-
bart.

Insofern die Einsprechende eine unzulässige Erweiterung darin sehen möchte,
dass sie den beiden in Absatz [0021] der OS enthaltenen Sätzen einen Sinngehalt
derart unterstellt, dass sich der erste Satz auf die Deaktivierung von Funktionen
der Systeme, der zweiten Satz hingegen, vom Merkmal 1.8 im Wortlaut abwei-
chend, auf die Deaktivierung von Teilsystemen bezieht, kann dieser Auffassung
nicht gefolgt werden. Denn für den Fachmann hat die steuerungstechnische De-
aktivierung eines die Funktion bereitstellenden Teilsystems, wie des Antiblockier-
systems bzw. des Feststellbremssystems, auch gleichsam die Deaktivierung der
Funktion zur Folge.

5.4 Der gewerblich anwendbare Gegenstand des Patentanspruchs 1 gemäß
Hauptantrag ist gegenüber dem im Verfahren befindlichen Stand der Technik un-
streitig neu.

Darüber hinaus beruht er auch auf einer erfinderischen Tätigkeit.

5.4.1 Aus der Druckschrift D2 geht unstreitig ein Steuergerät gemäß dem Ober-
begriff des Patentanspruchs 1 hervor.

So offenbart die Druckschrift D2 eine Bremsanlage für ein Nutzfahrzeug mit den
Merkmalen 1.1 sowie 1.3 bis 1.6, welche darüber hinaus ein Zentralsteuergerät
EBS-ECU sowie eine in ein weiteres Steuergerät 5 integrierte, autarke Brems-
kreissteuerung aufweist. Die autarke Bremskreissteuerung kann dabei eine eigene
ABS-Regelung beinhalten und derart aufgebaut sein, dass sie auf eine Eingabe
eines Parkbremssignals hin auch die Feststellbremse ansteuert (vgl. Absätze
[0021] und [0026] sowie Ansprüche 20 und 25).

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Das Steuergerät 5 stellt daher ein elektronisches Steuergerät im Sinne der Merk-
male 1.0 bzw. 1.2 dar, welches für die Bremsanlage eines Nutzfahrzeugs herge-
richtet ist und welches gemäß Merkmal 1.7 sowohl die Beeinflussung eines Anti-
blockiersystems regelt als auch ein Öffnen und Schließen einer elektrisch gesteu-
erten Feststellbremse übernimmt.

Nach Absatz [0014] enthalten sowohl das Zentralsteuergerät als auch die autarke
Bremskreissteuerung jeweils zwei Rechner, die sich gegenseitig überwachen, wo-
bei bei erkannter Fehlfunktion in einem der Rechner der jeweils andere Rechner
das gesamte Zentralsteuergerät bzw. die gesamte autarke Bremskreissteuerung
abschaltet (Fail-Silent-Verhalten). Im Falle eines innerhalb des Steuergerätes auf-
tretenden Fehlers schaltet sich somit das entsprechende Steuergerät vollständig
ab. Dessen Funktion wird dann in der Folge von dem weiteren Steuergerät über-
nommen; bei Ausfall des Zentralsteuergeräts somit von der autarken Bremskreis-
steuerung in Steuergerät 5 und umgekehrt.

Eine weiterführende Steuerung oder Regelung des Steuergeräts 5, welche auf
Defekte reagiert, die innerhalb des Antiblockiersystems oder der Feststellbremse,
aber außerhalb des Steuergeräts 5 auftreten, bzw. ein Teilabschalten des Steuer-
geräts 5 beim zu Tage treten von anderweitigen Fehlern innerhalb des Steuerge-
räts 5 bedingt, ist der Druckschrift D2 jedoch nicht zu entnehmen.

Somit geht aus der Druckschrift D2 nicht das Merkmal 1.8 hervor, wonach durch
das Steuergerät die Funktion des Antiblockiersystems und die Funktion der
elektrisch gesteuerten Feststellbremse im Defektfall getrennt voneinander deakti-
viert werden können.

Selbst wenn der Fachmann im Weiteren ausgehend von der Druckschrift D2 eine
der Druckschriften D14, D15 oder D19 berücksichtigen würde, so könnte er jedoch
nicht zu dem in dem Patentanspruch 1 beanspruchten Gegenstand gelangen.
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So beschreibt die Druckschrift D14 ein Bremssystem für ein Kraftfahrzeug mit
einer Steuereinheit, welche einen Antiblockierschutzregler und einen Regler zur
Bremskraftverteilung umfasst (Ansprüche 1 und 2). Tritt ein Defekt innerhalb des
Bremssystems auf, wie beispielsweise an der Rückförderpumpe, kann die Steuer-
einheit ausschließlich den Antiblockierschutzregler abschalten, so dass die Funk-
tion des Antiblockiersystems deaktiviert ist, die Funktion der Bremskraftverteilung
aber nach wie vor gegeben ist (Seite 6, Zeilen 21 bis 27; Seite 8, Zeilen 23 bis 26).
Im Fall eines Fehlers innerhalb der Steuereinheit, beispielsweise im Bereich der
Mikrocomputer, schaltet sich diese jedoch zwingend vollständig ab (vgl. Seite 10,
Zeilen 15 bis 28), so wie vergleichbar auch das vorab beschriebene Steuergerät 5,
welche aus der Druckschrift D2 bekannt ist.

Daher könnte die Druckschrift D14 den Fachmann lediglich dazu veranlassen, die
in dem Steuergerät 5 der Druckschrift D2 implementierte Regelung derart weiter-
zubilden, dass diese bei einem das Antiblockiersystem betreffenden, außerhalb
des Steuergeräts vorliegenden Defektfall auch nur das Antiblockiersystem als
Teilsystem abschaltet und daher aus diesem Grund die Funktion des Antiblockier-
systems in diesem Fall deaktiviert.

Dass darüber hinaus mittels des Steuergeräts jedoch auch die Funktion der
elektrisch gesteuerte Feststellbremse in einem die elektrisch gesteuerte Feststell-
bremse betreffenden Defektfall getrennt von dem Antiblockiersystem deaktiviert
werden kann, dafür gibt die Druckschrift D14 keinen Anlass.

Um das Begehen eines von den bisher beschrittenen Wegen abweichenden Lö-
sungswegs nicht nur als möglich, sondern dem Fachmann nahegelegt anzusehen,
bedarf es – abgesehen von den Fällen, in denen für den Fachmann auf der Hand
liegt, was zu tun ist – in der Regel zusätzlicher, über die Erkennbarkeit des techni-
schen Problems hinausreichender Anstöße, Anregungen, Hinweise oder sonstiger
Anlässe dafür, die Lösung des technischen Problems auf dem Weg der Erfindung
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zu suchen (BGH, Urteil vom 30. April 2009 – Xa ZR 92/05, BGHZ 182, 1-10,
BPatGE 51, 289 – Betrieb einer Sicherheitseinrichtung).

Eine diesbezügliche Anregung kann auch die Druckschrift D15 nicht geben.

So offenbart die Druckschrift D15 ein Fahrzeug mit einem elektrohydraulischen
Bremssystem EHB, das von einem elektronischen Steuergerät geregelt wird. Das
Fahrzeug ist weiter mit einem separaten elektrisch betriebenen Feststellbrems-
system EPB ausgerüstet und enthält ferner ein mechanisches Sicherheitssystem,
das einen Hauptzylinder umfasst, der mit dem Bremspedal verbunden ist und so
angeordnet ist, dass er hydraulisch mit entsprechenden Bremsstellgliedern an den
Vorderrädern verbunden ist, um im Fall eines Totalausfalls des elektrohydrauli-
schen Bremssystems EHB zumindest eine gewisse Bremswirkung bereitzustellen
(vgl. Absatz [0003]). Dieser sogenannte „Durchdrückbremsmodus“ kann dabei
gemäß Absatz [0011] durch die elektrisch betriebene Feststellbremse unterstützt
werden.

Das elektrohydraulische Bremssystem EHB wie auch das Feststellbremssys-
tem EPB umfassen jedoch jeweils eine eigene separate Steuereinheit 13 bzw. 40.
Diese überwachen sich zwar gegenseitig auf ihren Zustand, wobei eine Aktivie-
rung der Unterstützung der Feststellbremse beispielsweise nur dann vollzogen
wird, wenn ein Defekt innerhalb des elektrohydraulischen Bremssystem EHB
vorliegt, arbeiten ansonsten aber autark. Ein Deaktivieren der Funktion der
elektrisch gesteuerten Feststellbremse EPB durch die zugehörige Steuereinheit 40
in einem Defektfall der Feststellbremse ist in der Druckschrift D15 jedoch nicht
beschrieben. Somit die Druckschrift D15 hierzu auch keine Anregung geben kann.

Die Druckschrift D19 offenbart ein gemeinsames Steuergerät für ein Antiblockier-
system ABS und eine Antischlupfregelung ASR. Dieses kann im Fehlerfall, zum
Beispiel beim Ausfall externer Komponenten, nur die Wirkung des Antiblockier-
systems oder der Antischlupfregelung aufheben (vgl. Abschnitt 5, Spalten 3 bis 6,
- 20 -
„Systemreaktionen bei Fehlern“). Der Betrieb bzw. die Ansteuerung einer Fest-
stellbremse ist jedoch an keiner Stelle angesprochen.

Damit könnte die Druckschrift D19, vergleichbar der Druckschrift D14, den Fach-
mann allenfalls dazu veranlassen, die in dem Steuergerät 5 der Druckschrift D2
implementierte Regelung derart weiterzubilden, dass dieses bei einem das Anti-
blockiersystem betreffenden, außerhalb des Steuergeräts vorliegenden Defektfall
auch nur das Antiblockiersystem als Teilsystem abschaltet und aus diesem Grund
die Funktion des Antiblockiersystems deaktiviert. Dass darüber hinaus mittels des
Steuergeräts jedoch auch die Funktion der elektrisch gesteuerte Feststellbremse
in einem die elektrisch gesteuerte Feststellbremse betreffenden Defektfall getrennt
von dem Antiblockiersystem deaktiviert werden kann, dafür gibt auch die Druck-
schrift D19 keinen Anlass.

5.4.2 Die Druckschrift D3 offenbart eine Bremsvorrichtung einer Zugfahrzeug-
Anhängerkombination.

Diese umfasst ein als ECU bezeichnetes Steuergerät, welches der Ansteuerung
einer Anhängerstreckbremse dient. Dieses elektronische Steuersystem kann da-
bei in einem ersten Ausführungsbeispiel in das Steuergerät eines elektronischen
Bremssystems EBS integriert sein, welches mit einer Antiblockierfunktion verse-
hen ist (Anspruch 2).

Inwiefern das Steuergerät ECU auch ein Öffnen und Schließen einer elektrisch
gesteuerten Feststellbremse in Analogie zu dem Merkmal 1.7 des Patentan-
spruchs 1 übernimmt, lässt die Druckschrift D3 offen. Denn eine Feststellbremse
wird ausschließlich in Absatz [0029] erwähnt und dort auch nur als möglicher Ort
zur Integrierung eines elektro-pneumatischen Wandlers THBM in den in diesem
zweiten Ausführungsbeispiel auch das Steuergerät ECU integriert ist.

- 21 -
Dies kann aber dahingestellt bleiben, da auch aus der Druckschrift D3 unstrittig
das Merkmal 1.8 nicht hervor geht.

Selbst wenn der Fachmann im Weitern ausgehend von der Druckschrift D3 eine
der Druckschriften D14, D15 oder D19 berücksichtigen würde, so könnte er jedoch
nicht zu dem in dem Patentanspruch 1 beanspruchten Gegenstand gelangen.
Denn die Druckschriften D14, D15 und D19 können, wie vorstehend dargelegt,
zumindest keine Anregung dafür geben, dass mittels eines gemeinsamen Steuer-
geräts die Funktion der elektrisch gesteuerte Feststellbremse in einem die
elektrisch gesteuerte Feststellbremse betreffenden Defektfall getrennt von dem
Antiblockiersystem deaktiviert werden kann.

5.4.3 Alle weiteren im Verfahren befindlichen Druckschriften hat die Einspre-
chende zu Recht weder schriftsätzlich noch in der mündlichen Verhandlung zur
Frage der Patentfähigkeit des Gegenstandes nach Patentanspruchs 1 gemäß
Hauptantrag aufgegriffen. Deren Gegenstände liegen auch nach dem Verständnis
des Senats offensichtlich von der Erfindung noch weiter ab als der zuvor berück-
sichtigte Stand der Technik. Sie können daher ebenfalls keine Anregung zum Ge-
genstand nach dem Patentanspruch 1 gemäß Hauptantrag geben oder diesen
vorwegnehmen.

5.4.4 Aus alledem folgt, dass der insgesamt in Betracht gezogene Stand der Tech-
nik – in welcher Art Zusammenschau auch immer – dem Fachmann einen Gegen-
stand mit den Merkmalen des Patentanspruchs 1 gemäß Hauptantrag nicht hat
nahelegen können.

Der Gegenstand des Patentanspruchs 1 gemäß Hauptantrag ist daher patent-
fähig.

- 22 -
5.5 Zur Erleichterung von Bezugnahmen sind die Merkmale des Patentan-
spruchs 24 gemäß Hauptantrag nachstehend in Form einer Merkmalsgliederung
wiedergegeben.

24.0 Verfahren zum Steuern einer Bremsanlage (60) für ein mit einem
Anhänger koppelbares Nutzfahrzeug, mit

24.1 Betriebsbremszylindern (400) und Federspeicherbremszylin-
dern (402) zum Bremsen des Nutzfahrzeugs,

24.2 einem elektronisches Steuergerät (60),

24.3 Sensoren (220, 30, 230) zum Erfassen des Bewegungszu-
standes des Nutzfahrzeugs,

24.4 einem Fußbremsventil (430) zum Betätigen der Betriebs-
bremse,

24.5 einer Handsteuereinheit (22), über die von der Betätigungsart
der Handsteuereinheit (22) abhängige Fahrerwünsche an das
elektronische Steuergerät (60) übermittelt werden,

24.6 einem Modul (62) mit elektrisch ansteuerbaren Ventilen für ein
Antiblockiersystem und einem Modul (64) mit elektrisch an-
steuerbaren Ventilen für eine elektrisch gesteuerte Feststell-
bremse mit einem Anhängersteuerventil zum Anschluss eines
Anhängers,

24.7 wobei das elektronische Steuergerät (60) unter Verwendung des
Moduls (64) für die elektrisch gesteuerte Feststellbremse und insbe-
sondere des vorhandenen Steueranschlusses (120) eine kontrollierte
- 23 -
Streckbremsung einleitet und überwacht, falls eine Streckbremsung
angefordert wird,

dadurch gekennzeichnet,

24.8 dass bei einem Defekt des Antiblockiersystems die Funktion des
Antiblockiersystems getrennt von der Funktion der elektrisch gesteu-
erten Feststellbremse deaktiviert wird,

24.9 und dass bei einem Defekt der elektrisch gesteuerten Feststell-
bremse die Funktion der elektrisch gesteuerten Feststellbremse ge-
trennt von der Funktion des Antiblockiersystems deaktiviert wird.

5.6 Diesem Patentanspruch entnimmt der Fachmann ein Verfahren, das mehrere
der Steuerung einzelner Bestandteile einer Bremsanlage dienende Verfahrens-
schritte umfasst, die für ein mit einem Anhänger koppelbares Nutzfahrzeug konzi-
piert und gegenständlich mit den Merkmalen 24.1 bis 24.6 ausgebildet ist.

Das in Merkmal 24.2 zur Durchführung des beanspruchten Verfahrens angeführte
elektronische Steuergerät ist dabei gemäß Merkmal 24.7 lediglich dadurch spezifi-
ziert, dass es unter Verwendung des Moduls für die elektrisch gesteuerte Fest-
stellbremse eine kontrollierte Steckbremsung einleitet und überwacht, falls eine
Streckbremsung angefordert wird; diesen Merkmalen kommt in der beanspruchten
Patentkategorie insoweit Bedeutung zu, dass ein Verfahrensschritt eine Streck-
bremssteuerung betrifft. Eine steuerungstechnische Integration hinsichtlich der
Beeinflussung des Antiblockiersystems in das Steuergerät, so wie es für die vor-
richtungstechnische Beschaffenheit des Steuergeräts offenbart und in dem Pa-
tentanspruch 1 gemäß Hauptantrag beansprucht wird, ist hier weder ausdrücklich
noch zwangsläufig implizite verfahrenstechnische Maßnahme des Merkmals 24.8.
Der Auffassung der Patentinhaberin, wonach das in Merkmal 24.2 beanspruchte
elektronische Steuergerät, welches die Bremsanlage umfasse, ein Steuergerät
- 24 -
gemäß einem der vorhergehenden nebengeordneten Ansprüche sei (vgl. Schrift-
satz vom 15. Juli 2015, Übergang Seite 2 zu Seite 3) und dem Verfahrensan-
spruch 24 daher gleichsam auch ein durch dessen Aufbau bedingter spezifischer
Verfahrensablauf zwingend zu unterstellen sei, kann daher nicht gefolgt werden.

Das Verfahren ist ferner gemäß den Merkmalen 24.8 und 24.9 durch die beiden
Verfahrensschritte gekennzeichnet, wonach zum einen bei einem Defekt des Anti-
blockiersystems die Funktion des Antiblockiersystems getrennt von der Funktion
der elektrisch gesteuerten Feststellbremse deaktiviert wird, und zum anderen bei
einem Defekt der elektrisch gesteuerten Feststellbremse die Funktion der elek-
trisch gesteuerten Feststellbremse getrennt von der Funktion des Antiblockier-
systems deaktiviert wird, wobei zur Auslegung des Merkmals „Defekt“ und der
„Deaktivierung einer Funktion“ auf die vorstehenden Auslegungen zum Patentan-
spruch 1 gemäß Hauptantrag verwiesen wird.

Während der zweite Verfahrensschritt in Verbindung mit Merkmal 24.7 in der
Ausführung dabei zwingend dem elektronischen Steuergerät zuzuordnen ist, lässt
der erste Verfahrensschritt den Ort seiner Ausführung bzw. Auslösung offen, denn
wie vorstehend ausgeführt ist eine steuerungstechnische Integration hinsichtlich
der Beeinflussung des Antiblockiersystems in das Steuergerät nicht zwangsläufig
zu unterstellen.

5.7 Ein solches Verfahren ist den ursprünglichen Unterlagen, die am Anmeldetag
des Streitpatents beim Deutschen Patent- und Markenamt eingereicht wurden, je-
doch nicht zu entnehmen, so dass aus diesem Grund der Patentanspruch 24 ge-
mäß Hauptantrag unzulässig ist.

Ein Verfahren zumindest mit den Merkmalen 24.0 bis 24.7 ist zunächst dem hin-
sichtlich dieser Merkmale wortidentischen ursprünglichen Patentanspruch 25 zu
entnehmen.
- 25 -
Die weiteren Merkmale 24.8 und 24.9 finden sich in ihrem Wortlaut zwar sinnge-
mäß in dem ursprünglichen Anspruch 15 wieder, sofern dieser singulär betrachtet
wird, jedoch richtet sich der ursprüngliche Patentanspruch 15 aufgrund seines
Rückbezugs auf zumindest den ursprünglichen Patentanspruch 1 auf ein Steuer-
gerät, welches sowohl die Beeinflussung des Antiblockiersystems als auch der
elektrisch gesteuerten Feststellbremse übernimmt.

Auch mit Blick auf die gesamten Anmeldeunterlagen, insbesondere der Absät-
ze [0021] und [0031] der OS, ist der Verfahrensschritt, wonach bei einem Defekt
des Antiblockiersystems die Funktion des Antiblockiersystems getrennt von der
Funktion der elektrisch gesteuerten Feststellbremse deaktiviert wird, in seiner Aus-
führung ausschließlich auf ein Steuergerät bezogen, welches sowohl die Beein-
flussung des Antiblockiersystems als auch der elektrisch gesteuerten Feststell-
bremse übernimmt. Denn so zielen, wie auch die Patentinhaberin in ihrem Schrift-
satz vom 15. Juli 2015 auf Seite 2 zu den wortgleichen Textstellen der SPS aus-
führt, der Absatz [0021] der OS auf ein Steuergerät, wie es in dem ursprünglichen
Anspruch 1 definiert ist, und der Absatz [0031] der OS auf eine Bremsanlage, wel-
che ebenso ein solches Steuergerät umfasst.

Wie vorstehend ausgeführt, lässt Merkmal 24.8 den Ort seiner Ausführung jedoch
offen, denn eine steuerungstechnische Integration hinsichtlich der Beeinflussung
des Antiblockiersystems in das Steuergerät ist keine beanspruchte verfahrens-
technische Maßnahme, so dass insbesondere die Durchführung des Verfahrens
nicht mehr einem gemeinsamen Steuergerät zuordenbar ist.

Somit liegt hier hinsichtlich des Merkmals 24.8 eine Verallgemeinerung vor.

Für die Ursprungsoffenbarung des Gegenstands eines Patentanspruchs ist es
nach der ständigen Rechtsprechung erforderlich, dass der Fachmann die im An-
spruch bezeichnete technische Lehre den Ursprungsunterlagen unmittelbar und
eindeutig als mögliche Ausführungsform der Erfindung entnehmen kann. Dabei
- 26 -
sind zur Vermeidung einer unbilligen Beschränkung des Anmelders bei der Aus-
schöpfung des Offenbarungsgehalts auch Verallgemeinerungen ursprungsoffen-
barter Ausführungsbeispiele zugelassen (BGH Urteil vom 17. Juli 2012,
X ZR 117/11, BGHZ 194, 107-120 – Polymerschaum m. w. N. unter Rz. 52). Dies
vornehmlich dann, wenn von mehreren Merkmalen eines Ausführungsbeispiels,
die zusammengenommen, aber auch für sich betrachtet dem erfindungsgemäßen
Erfolg förderlich sind, nur eines oder nur einzelne in den Anspruch aufgenommen
worden sind, denn es gibt keinen Rechtssatz des Inhalts, dass ein Patentanspruch
nur in der Weise beschränkt werden könne, dass sämtliche Merkmale eines Aus-
führungsbeispiels, die der Aufgabenlösung förderlich sind, insgesamt in den Pa-
tentanspruch eingefügt werden müssten (BGH, Beschluss vom 23. Januar 1990
– X ZB 9/89 –, BGHZ 110, 123-127, BPatGE 31, 277-278 – Spleißkammer; BGH,
Urteil vom 15. November 2005 – X ZR 17/02 –, BPatGE 2006, 286 - Koksofentür).

Werden allerdings in den Patentanspruch nur einzelne Merkmale eines Ausfüh-
rungsbeispiels der Erfindung aufgenommen, geht die sich daraus ergebende
Merkmalskombination dann über den Inhalt der Anmeldung hinaus, wenn sie in
ihrer Gesamtheit eine technische Lehre umschreibt, die der Fachmann den ur-
sprünglichen Unterlagen nicht als mögliche Ausgestaltung der Erfindung entneh-
men kann (BGH, Beschluss vom 11. September 2001 – X ZB 18/00, BPatGE 44,
284, Drehmomentübertragungseinrichtung).

Dies ist hier bezogen auf den Verfahrensschritt 24.8 jedoch der Fall. Denn es ist
ausschließlich Lehre der angemeldeten Erfindung, dass sowohl die Regelung der
Steuerung des Antiblockiersystems als auch die Steuerung der Funktion der elek-
trischen Feststellbremse von dem einen gemeinsamen elektronischen Steuergerät
ausgeführt werden (vgl. auch Absätze [0009] und [0031] der OS). So dass in der
Folge die nun beanspruchte Lehre über den Inhalt der ursprünglichen Anmeldung
hinaus geht und der Fachmann diese den Anmeldeunterlagen nicht als Ausge-
staltung der Erfindung entnehmen kann.

- 27 -
5.8 Einer Beurteilung der weiteren abhängigen Patentansprüche 2 bis 23 bedarf
es in der Folge nicht, da mit dem nicht gewährbaren Patentanspruch 24 dem An-
trag als Ganzes nicht stattgegeben werden kann (BGH GRUR 1997, 120 ff. – elek-
trisches Speicherheizgerät).

6. Hilfsantrag

Mit dem Anspruchssatz gemäß Hilfsantrag erweist sich das Patent indes im be-
schränkten Umfang als bestandsfähig.

Die Fassung des Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag ist gegenüber der Fassung
des Patentanspruch 1 nach Hauptantrag identisch. Insofern gelten vorstehende
Aussagen zum Patentanspruch 1 nach Hauptantrag. Das in Patentanspruch 1
beanspruchte Steuergerät ist in den ursprünglichen Anmeldeunterlagen somit
offenbart, sowie weder vorbekannt noch durch den Stand der Technik nahegelegt.

Dies gilt ebenso für die konkreten Weiterbildungen des Steuergeräts nach den
darauf rückbezogenen Patentansprüchen 2 bis 23.

Die vorgenommenen Änderungen der geltenden Beschreibung betreffen Anpas-
sungen von Textpassagen an den nun beanspruchten Gegenstand im Rahmen
der ursprünglichen Offenbarung und ohne Erweiterung des Schutzbereichs sowie
zusätzliche Ausführungen zum Stand der Technik. Diese Änderungen sind ohne
weiteres zuzulassen.

- 28 -
Rechtsmittelbelehrung

Gegen diesen Beschluss steht den am Beschwerdeverfahren Beteiligten das
Rechtsmittel der Rechtsbeschwerde zu. Da der Senat die Rechtsbeschwerde nicht
zugelassen hat, ist sie nur statthaft, wenn sie auf einen der nachfolgenden Gründe
gestützt wird, nämlich dass

1. das beschließende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war,

2. bei dem Beschluss ein Richter mitgewirkt hat, der von der Ausübung des
Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen oder wegen Besorgnis der
Befangenheit mit Erfolg abgelehnt war,

3. einem Beteiligten das rechtliche Gehör versagt war,

4. ein Beteiligter im Verfahren nicht nach Vorschrift des Gesetzes vertreten
war, sofern er nicht der Führung des Verfahrens ausdrücklich oder still-
schweigend zugestimmt hat,

5. der Beschluss aufgrund einer mündlichen Verhandlung ergangen ist, bei
der die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt worden
sind, oder

6. der Beschluss nicht mit Gründen versehen ist.

- 29 -
Die Rechtsbeschwerde ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Beschlus-
ses beim Bundesgerichtshof, Herrenstr. 45 a, 76133 Karlsruhe, durch einen beim
Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwalt als Bevollmächtigten schriftlich
einzulegen.


Hilber Dr. Baumgart Schmid Dr. Geier

Ko



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