7 Ni 2/16 (EP) - 7. Senat (Jur.Beschw./Nichtigkeit)
Karar Dilini Çevir:

BPatG 253
08.05

BUNDESPATENTGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES

7 Ni 2/16 (EP)
(Aktenzeichen)

URTEIL


Verkündet am
13. Juli 2017







In der Patentnichtigkeitssache



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betreffend das europäische Patent
0 798 168 (DE 597 02 480)

hat der 7. Senat (Juristischer Beschwerdesenat und Nichtigkeitssenat) des
Bundespatentgerichts auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 13. Juli 2017
unter Mitwirkung des Vorsitzenden Richters Rauch, der Richter
Dipl.-Ing. Hildebrandt und Dipl.-Ing. Küest, der Richterin Dr. Schnurr und des
Richters Dipl.-Ing. Dr. Großmann

für Recht erkannt:

I. Die Klage wird abgewiesen.

II. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Klägerin.

III. Das Urteil ist im Kostenpunkt gegen Sicherheitsleistung in
Höhe von 120 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages
vorläufig vollstreckbar.


Tatbestand

Die vorliegende Klage richtet sich gegen den inländischen Teil des in deutscher
Sprache erteilten und mittlerweile durch Zeitablauf erloschenen europäischen Pa-
tents 0 798 168, das auf eine Anmeldung vom 13. März 1997 zurückgeht. Das
Streitpatent, das die Priorität des deutschen Gebrauchsmusters 29605896 U vom
29. März 1996 in Anspruch nimmt, wird beim Deutschen Patent- und Markenamt
unter dem Aktenzeichen 597 02 480 geführt. Es ist bezeichnet mit „Seitenaufprall-
Schutzeinrichtung für Fahrzeuginsassen“ und wurde in dem früheren Nichtigkeits-
verfahrens 7 Ni 62/14 (EP) durch das rechtskräftig gewordene Senatsurteil vom
2. Oktober 2014 in geänderter Fassung aufrechterhalten. In der nunmehr gelten-
den Fassung umfasst das Streitpatent in seiner für Deutschland gültigen Version
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24 Ansprüche, wobei die Ansprüche 2 bis 24 unmittelbar bzw. mittelbar auf An-
spruch 1 rückbezogen sind.

Patentanspruch 1 hat in seiner erteilten, durch das genannte Senatsurteil nicht
geänderten Fassung folgenden Wortlaut:

1. Seitenaufprall-Schutzeinrichtung für Fahrzeuginsassen, mit ei-
nem Kopf-Gassack (10), dadurch gekennzeichnet, dass sich der
langgestreckte, für einen Front- und einen Heckinsassen vorgese-
hene, Kopf-Gassack (10) in aufgeblasenem Zustand von einem
Bereich seitlich eines Frontinsassen bis in einen Bereich seitlich
eines Heckinsassen erstreckt und in gefaltetem Zustand in einem
Montageschlauch (22) angeordnet ist.

Wegen des Wortlauts der Unteransprüche wird auf das Senatsurteil vom
2. Oktober 2014 (veröffentlicht in der Rechtsprechungs-Datenbank des Bundes-
patentgerichts auf dessen Homepage http://juris.bundespatentgericht.de) verwie-
sen.

Die Klägerin legt als Anlagen K1 und K3 zwei zwischen den Parteien abgeschlos-
sene Lizenzvereinbarungen mit Nichtangriffsklauseln vom 17. September 2012
bzw. vom 5. Dezember 2013 vor, die jedoch nach ihrer Meinung die Erhebung der
vorliegenden Klage nicht hindern. Von der Beklagten, die ihrerseits mit Schriftsatz
vom 21. September 2015 beim Landgericht M… eine Verletzungsklage ein-
gereicht hat (Anlage K2), wird die Zulässigkeit der Nichtigkeitsklage nicht bestrit-
ten.

Die Klägerin macht den Nichtigkeitsgrund der mangelnden Patentfähigkeit geltend
(Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 1 IntPatÜG i. V. m. Art. 138 Abs. 1 Buchst. a), Art. 54, 56
EPÜ). Sie bezieht sich hierfür auf folgende Publikationen:

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K15 Offenlegungsschrift DE 196 47 679 A1
K16 Patentanmeldung GB 2 293 355 A
K17 Patentanmeldung JP 47-27580 mit englischer Überset-
zung K17a
K18 deutsche Offenlegungsschrift 15 55 142
K19 Offenlegungsschrift DE 43 04 919 A1
K20 Artikel „Weißwurst-Connection“ aus der Zeitung „mot“,
Ausgabe 22, 1994, Seiten 112 bis 116
K21 Offenlegungsschrift DE 43 07 175 A1
K22 Offenlegungsschrift DE 43 04 152 A1

Der Gegenstand des Anspruchs 1 sei durch die (nachveröffentlichte) Schrift K15
neuheitsschädlich vorweggenommen und dem Fachmann durch die Schriften K16,
K17, K18 und K22 nahegelegt gewesen.

Ferner beruft sich die Klägerin darauf, dass dieser Gegenstand durch die (im
Jahre 2009 mit der Klägerin verschmolzene) Firma H…
GmbH (nachfolgend: H…) offenkundig vorbenutzt worden
sei, und zwar im Zusammenhang mit Entwicklungen von Seitenairbags, einerseits
für die M… AG (gemäß Anlagenkonvolut K13a bis K13k), andererseits
für die V… AG (gemäß Anlagenkonvolut K14a bis K14h).

H… habe spätestens im Sommer 1995 damit begonnen, in Zusammenarbeit mit
der Firma H… bzw. H… GmbH (nachfolgend:
H1…) Seitenairbags u. a. für die M… AG (nachfolgend: M…)
zuentwickeln. Am 19. Oktober 1995 hätten H… und H1… anlässlich eines Be-
suchs bei M… in S… ihre Ideen und Entwicklungen präsentiert. Im Be-
suchsbericht (Anlage K13b) heißt es unter Punkt 8: „Im W203 wird von M…
zumin-
dest im Vorfeld eine Kederairbagausstattung für vorne und hinten vorgesehen“.
Weitere Abstimmungstreffen habe es am 6. und 10. November 1995 gegeben,
wobei die Planung weiterhin auf einen einheitlichen Airbag sowohl für den Bereich
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des Vorder- als auch des Rücksitzes gerichtet gewesen sei (vgl. Anlagen K13c bis
K13e).

Im November 1995 sei die vorgesehene technische Lösung eines durchgängigen,
sowohl den Bereich des Vorder- als auch des Rücksitzes schützenden Seitenair-
bags als Kopfschutz für die Passagiere in der von M… auf Grundlage der von H…
entwickelten technischen Lösung erstellten technischen Zeichnung K13g fixiert
worden. Aus deren Figuren gingen alle Merkmale des Anspruchs 1 des Streitpa-
tents hervor. Die Zeichnung selbst sei undatiert, es finde sich auf ihr aber das
Faxdatum 21. November 1995.

Nachfolgend seien die Airbags wiederholt gegenüber MB präsentiert und getestet
worden, etwa am 8. Dezember 1995 in Oberpfaffenhofen. Letztlich hätten jedoch
auf Grund ihrer nicht ausreichenden Expertise auf diesem sicherheitsrelevanten
Gebiet nicht H… und H1…, sondern die hiesige Beklagte als langjähriger und
etablierter Zulieferer den Zuschlag erhalten (vgl. Anlagen K13h, K13i). Im Früh-
jahr 1996 habe M… forciert, dass H… und H1… mit der Beklagten zusammen-
arbeiten und ihr Details über ihre Entwicklung preisgeben sollten.

Im Frühjahr 1996 habe M… einen „Konzeptwettbewerb Rückhaltesysteme BR
203“
für die Komponenten „Sidebag für zusätzlichen Kopfschutz“ durchgeführt und da-
bei mehrere Firmen angeschrieben, darunter H1… (Anlage K13K). In dem An-
schreiben vom 20. Februar 1996 heißt es zwar auf Seite 2: „Sämtliche Informatio-
nen, die Sie mit dieser Anfrage erhalten, sind vertraulich zu behandeln“. Da es
sich jedoch um einen Wettbewerb gehandelt habe, seien naturgemäß verschie-
dene Zulieferer angeschrieben worden, darunter auch die Beklagte. Nach der Le-
benserfahrung habe die berechtigte Erwartung bestanden, dass die Informationen
gerade nicht geheim blieben und Dritte hiervon Kenntnis nehmen könnten. Ferner
sei es im weiteren Verlauf der Tätigkeit bei M… zu einem Vertrauensbruch ge-
kommen, da M… noch im Vorfeld der Präsentation eine Kooperation zwischen
H…
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und der Rechtsvorgängerin der Beklagten gefordert und sich schließlich auch für
deren Konzept entschieden habe; auch dies spreche für die Öffentlichkeit der In-
formation. Als wesentliches Dokument sei ein Lastenheft beigefügt gewesen, wo-
bei gemäß Abschnitt 1.1 drei verschiedene Airbagsysteme angeboten werden
sollten, darunter ein Sidebagmodul für zusätzlichen Kopfschutz. Hierzu heißt es
unter Abschnitt 4.1:
„Lieferzustand
Funktionsfähiges Gesamtmodul zum nicht sichtbaren Einbau im Bereich
des Dachrahmen-Seitenteils, bestehend aus

• Gehäuse/Verpackung/Abdeckung
• Gasgenerator
• Luftsack
• Adapterteile

Anmerkung: Der aufgeblasene Kopfschutz soll den gesamten möglichen
Kontaktbereich abdecken; also A-Säule, B-Säule mit Gurthöhenversteller,
Dachrahmen bis einschließlich C-Säule.“

Die Schlussanmerkung sei vor dem Hintergrund der vorangegangenen Bespre-
chung vom 10. November 1995 (Anlage K13e) zu sehen; die dort ausgesprochene
Empfehlung sei maßgeblich in das Lastenheft mit eingeflossen.

Was die Arbeiten für die V… AG (nachfolgend: V…) betrifft, so sei es im
Anschluss an verschiedene Treffen und Präsentationen von H… und H1… bei
VW (vgl. Anlagen K14a bis K14d) am 15. Januar 1996 bei dem VW-Zulieferer
Autoliv zu einer Kick-off-Präsentation für das Projekt „Kederbag für VW“ gekom-
men. Die Kooperation mit Autoliv sei von V… vorgegeben worden, wobei H… und
H1… immer noch für die Entwicklung involviert gewesen seien. In der Kick-off-
Präsentation (Anlage K14f) seien verschiedene Kopf-Airbagsysteme miteinander
verglichen worden, darunter das System „IC“ (= inflatable curtain), wozu auch der
Seitenkopfairbag von H…/H1… zähle (im Unterschied zum System IST = infla-
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table tubular structure). Aus der Präsentation K14f seien die Merkmale M0 bis M4
des Anspruchs 1 bekannt. Eine weitere Präsentation habe am 30. Januar 1996 im
Hause A… stattgefunden, wobei dort auch Mitarbeiter der weiteren Zuliefer-
Firma A… Ltd. dabei gewesen seien.

Im März 1996 sei die vorgesehene technische Lösung eines durchgängigen, so-
wohl den Bereich des Vorder- als auch des Rücksitzes schützenden Seitenairbags
in der technischen Zeichnung K14h, in der unten rechts das Datum 7. März 1996
eingetragen sei, fixiert worden. Aus dieser Zeichnung gingen sämtliche An-
spruchsmerkmale hervor.

Die beiden Vorbenutzungen seien für den Gegenstand des Anspruchs 1 des
Streitpatents neuheitsschädlich, zumindest sei dieser Gegenstand dem Fachmann
durch das Dokument K13k (dort insbesondere Punkt 4.1) in Zusammenschau mit
K16 nahegelegt gewesen.

Zum Nachweis der beiden behaupteten Vorbenutzungen bietet die Klägerin Be-
weis an durch den früheren HS-Geschäftsführer S… als Zeugen.

Auch die Merkmale der Unteransprüche sind nach Meinung der Klägerin durch
den Stand der Technik vorweggenommen bzw. nahegelegt.

Die Klägerin beantragt

das europäische Patent 0 798 168 mit Wirkung für das Hoheitsge-
biet der Bundesrepublik Deutschland in vollem Umfang für nichtig
zu erklären.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen
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hilfsweise die Klage abzuweisen, soweit sie sich gegen die Pa-
tentansprüche in der Fassung der in nämlicher Reihenfolge ge-
stellten Hilfsanträge 1, 1a, 1b, 2, 2a, 2b, 3, 3a, 3b richtet (Hilfsan-
träge 1 und 3 gemäß Schriftsatz vom 17. Februar 2017, Bl. 178 ff.,
190 ff. d. A., die übrigen Hilfsanträge gemäß Schriftsatz vom
23. Juni 2017, Bl. 273 ff. d. A.).

Die Beklagte widerspricht dem Vortrag der Klägerin in allen Punkten. Nach ihrer
Meinung ist Anspruch 1 zumindest in einer der mit Hilfsanträgen verteidigten Fas-
sungen bestandsfähig, und mit ihm die auf ihn rückbezogenen Unteransprüche.

Die Entgegenhaltung K15 hält die Beklagte im Hinblick auf den Gegenstand des
Anspruchs 1 für nicht neuheitsschädlich. Dieser Gegenstand beruhe auch auf er-
finderischer Tätigkeit.

Zu den von der Klägerin geltend gemachten Vorbenutzungen trägt die Beklagte
vor, der von H… entwickelte und zum Patent angemeldete sog. Kederbag (Anlage
K13a) sei bereits im europäischen Einspruchsverfahren diskutiert worden. Es
handele sich dabei um einen Airbag lediglich für einen einzelnen Insassen; es sei
nicht möglich, ihn als überlangen Gassack von der A- bis zur C-Säule im Fahrzeug
zu verbauen. Auf Grund seiner Unterbringung in einem Spezialgehäuse, welches
am Blechfalz des Türrahmens geklemmt werde, decke der aufgeblasene Gassack
nur den Türrahmenbereich ab, und er könne wegen seiner Befestigung am
Blechfalz auch nur in dessen Bereich angeordnet sein. Dies werde durch die Un-
terlagen K13b bis K13K untermauert. Für die MB-Fahrzeuge W210 (E-Klasse) und
W203 (C-Klasse) sei von Anfang an auf zwei getrennte Gassäcke (Kederbags) für
vorne und hinten gesetzt worden. Diese sollten lediglich durch einen gemeinsa-
men Gasgenerator aufgeblasen werden.

Die MB-Zeichnung K13g habe mit den vorhergehenden Konzeptionen (Anlagen
K13a bis K13e) nichts zu tun. Es sei unklar, wann diese Zeichnung, an wen und
unter welchen Umständen weitergeleitet worden sei. Auch ihr Inhalt sei nicht klar
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und eindeutig. Es dürfte sich nicht um die Darstellung eines Kederairbags han-
deln, sondern einer Airbagvorrichtung mit Schusskanal. Im Übrigen sei der Fax-
Versand kein Nachweis für eine offenkundige Vorbenutzung. Dem später entstan-
denen Besprechungsprotokoll K13i sei zu entnehmen, dass M… getrennte, bele-
gungsgesteuerte Systeme für Front- und Fond-Passagiere angestrebt habe, d. h.
der Airbag sollte nur dort ausgelöst werden, wo Passagiere auch tatsächlich sit-
zen.

Das Dokument K13k sei eindeutig vertraulich zu behandeln gewesen. Außerdem
habe der dort ausgeschriebene Airbag keinesfalls sämtliche Anspruchsmerkmale
aufgewiesen.

Insgesamt habe die Entwicklungszusammenarbeit von H… und H1… mit M…
unter Geheimhaltung gestanden. Im Automobilbau werde von Zulieferern und erst
recht von Entwicklungspartnern strengste Geheimhaltung verlangt. Dies habe
auch bei der Entwicklung von neuen Insassenschutzvorrichtungen in den 1990er
Jahren gegolten, als es einen Wettlauf um neue Airbag-Systeme gegeben habe.
M… habe sich als Vorreiter der Sicherheitstechnik ausgegeben (neben V1…); die-
sen Vorsprung könne ein Hersteller nur halten, wenn er über Innovationen „nichts
herausposaune“. Umgekehrt habe auch ein Geheimhaltungsinteresse bei H… und
bei H1… bestanden. Sich bei M… als „undichter“ neuer Kooperationspartner zu
präsentieren, hätte bereits das Ende jeglicher Zusammenarbeit bedeutet.

Auch bzgl. der Vorbenutzung „V…“ bestreitet die Beklagte die Offenkun-
digkeit der vorgelegten Dokumente und stellt ebenso darauf ab, dass diese keinen
durchgehenden, zwei Meter langen Gassack für die vorderen und die hinteren In-
sassen beträfen; insbesondere seien weder im Dokument K14g noch in der CAD-
Zeichnung K14h solche Gassäcke dargestellt.

Der Senat hat den Parteien mit Schreiben vom 10. März 2017 einen frühen ge-
richtlichen Hinweis gemäß § 83 Abs. 1 PatG zukommen lassen.

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Wegen des Vorbringens der Parteien im Übrigen wird auf die gewechselten
Schriftsätze und das Protokoll der mündlichen Verhandlung verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig, jedoch unbegründet, weil der geltend gemachte Nichtig-
keitsgrund der mangelnden Patentfähigkeit (Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 1 IntPatÜG
i. V. m. Art. 138 Abs. 1 Buchst. a), Art. 54, 56 EPÜ) nicht vorliegt.

I.

1. Die Klage ist zulässig ungeachtet des Umstands, dass das Streitpatent seit
dem 13. März 2017 wegen Ablaufs seiner Höchstlaufzeit (§ 16 PatG) erloschen
ist. Da die Klägerin wegen Patentverletzung in Anspruch genommen wird, hat sie
ein schutzwürdiges Interesse an der rückwirkenden Beseitigung des Streitpatents
(vgl. Benkard/Hall/Nobbe, PatG, 11. Aufl., § 81 Rn. 32 m. w. N.).

2. Der Zulässigkeit der Klage steht ebenso nicht entgegen, dass die Parteien
vor dem Prioritätstag zusammengearbeitet und miteinander zwei Lizenzverträge
abgeschlossen haben. Zwar enthalten diese Lizenzverträge u. a. die Verpflich-
tung, Patente des jeweils anderen Vertragspartners vier Jahre lang nicht mit einer
Nichtigkeitsklage anzugreifen (siehe Anlage K1, Punkt 9, bzw. K3, Punkt 10). Bei
den beiden Lizenzverträgen geht es jedoch nicht um Patente für Erfindungen auf
dem Gebiet der Seitenaufprall-Schutzeinrichtungen, sondern der Sicherheitsgurte
bzw. der Knieschutz-Gassäcke (K1, Punkt 1.1, nennt die Patente
DE 199 27 731 C2 - Gurtstraffer; DE 100 29 061 C2 - Rückhaltevorrichtung für ein
KFZ mit einem Sicherheitsgurt und einem Gurtstraffer; DE 10 2004 054 078.0 -
Verfahren zum Blockieren einer Wickelwelle eines Sicherheitsgurtes;
EP 1 651 478 B1 - Steuerung eines dem elektrischen Motor eines Sitzgurtaufrol-
lers zugeführten Stroms; K3, Punkt 1.1, nennt die Patente EP 0 952 043 B1 -
Knieschutzeinrichtung für Fahrzeuginsassen; US 6,155,595 - Knee protection de-
vice for vehicle occupants; JP 4146962 B 2 - keine Übersetzung verfügbar, jedoch
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ermittelbar über die Familienrecherche in DEPATISnet zu EP 0 952 043 B1
(https://depatisnet.dpma.de/DepatisNet/de). Die Nichtangriffsabreden erfassen
somit nicht das vorliegende, auf einem anderen technischen Gebiet angesiedelte
Streitpatent.

Hinzu kommt, dass die Nichtangriffsverpflichtungen, selbst wenn sie das vorlie-
gende Streitpatent erfassen würden, gemäß Art. 101 Abs. 1 AEUV wegen ihrer
den Wettbewerb beschränkenden Wirkung unwirksam wären; eine Freistellung
gemäß Art. 101 Abs. 3 AEUV kommt gemäß Art. 5 Abs. 1 Buchst. b)
VO (EU) Nr. 316/2014 nicht in Betracht (vgl. Benkard/Rogge/Kober-Dehm,
a. a. O., § 22 Rn. 42).

II.

1. Die vorliegende Erfindung betrifft nach ihrer Beschreibung in der
Streitpatentschrift EP 0 798 168 B1 (Absätze [0001] bis [0005]) eine Seitenauf-
prall-Schutzeinrichtung für Fahrzeuginsassen mit einem Kopf-Gassack. Als Aus-
gangspunkt für die Erfindung wird die internationale Anmeldung WO 94/19215 ge-
nannt. Der dort beschriebene Kopf-Gassack ist schlauchförmig ausgebildet (sog.
„BMW-Weißwurst“) und an seinen seitlichen Enden an der A- und an der B-Säule
befestigt. Dieser Gassack ist nur zum Schutz des Frontpassagiers vorgesehen.
Daneben nennt die Beschreibung u. a. zwei nachveröffentlichte Schriften
(WO 97/35748 und WO 96/26087) zu Kopfschutzsystemen mit einem langge-
streckten Gassack, der sich jeweils seitlich eines Frontinsassen bis seitlich eines
Heckinsassen erstrecke und nach Art eines Vorhangs bzw. einer Luftmatratze
ausgestaltet sei.

Aufgabe der Erfindung soll es der Streitpatentschrift zufolge sein, eine einfache
Seitenaufprall-Schutzeinrichtung zu schaffen, die im aufgeblasenen Zustand stabil
im Fahrzeug gehaltert sei, bei der der Gassack und möglichst auch der Gasgene-
rator auf einfache Weise im Fahrzeug untergebracht werden können und die mög-
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lichst auch noch bei einem Fahrzeugüberschlag Schutz bieten könne (Streitpa-
tentschrift Absatz [0006]).

2. Diese Aufgabe soll erfindungsgemäß durch eine Seitenaufprall-Schutzein-
richtung gemäß Anspruch 1 gelöst werden. Die Merkmale dieses Anspruchs kön-
nen wie folgt gegliedert werden:

M0 Seitenaufprall-Schutzeinrichtung für Fahrzeuginsassen mit
M1 einem Kopf-Gassack;
M2 der Kopf-Gassack ist langgestreckt;
M3 der Kopf-Gassack ist für einen Front- und einen Heckinsassen vorge-
sehen;
M4 der Kopf-Gassack erstreckt sich in aufgeblasenem Zustand von ei-
nem Bereich seitlich eines Frontinsassen bis in einen Bereich seitlich
eines Heckinsassen;
M5 der Kopf-Gassack ist in gefaltetem Zustand in einem Montage-
schlauch angeordnet.

3. Zuständiger Durchschnittsfachmann, auf dessen Wissen und Können es
insbesondere für die Auslegung der Merkmale des Streitpatents und für die Inter-
pretation des Standes der Technik ankommt, ist im vorliegenden Fall ein Dipl.-In-
genieur (FH) der Fachrichtung Maschinenbau, mit Spezialkenntnissen in der Ent-
wicklung, Konstruktion und Fertigung von Schutzeinrichtung für Fahrzeuginsas-
sen.

4. Dieser Fachmann geht bei der Auslegung der Merkmale des Anspruchs 1
von folgendem Verständnis aus:

a) Die Seitenaufprall-Schutzeinrichtung umfasst einen Kopf-Gassack, der ge-
mäß Merkmal M2 langgestreckt und gemäß Merkmal M3 zugleich für einen Front-
und einen Heckinsassen vorgesehen ist. Dies bedeutet, dass ein und derselbe
Gassack bei einem Seitenaufprall zugleich den Front- als auch den Heckinsassen
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am Kopf schützen soll. Bei dem Merkmal M3 handelt es sich um eine Zweckan-
gabe, d. h. der geschützte Gegenstand muss so ausgebildet sein, dass er für den
im Patentanspruch angegebenen Zweck verwendbar ist (BGH GRUR 2009, 837,
838 [15] - Bauschalungsstütze). Demnach genügt es nicht, wenn sich der Kopf-
Gassack entsprechend Merkmal M4 in aufgeblasenem Zustand von einem Be-
reich seitlich eines Frontinsassen bis in einen Bereich seitlich eines Heckinsassen
erstreckt. Hinzukommen muss, dass diese Erstreckung mit einer ausreichenden
Schutzwirkung für den Kopf sowohl des Front- und als auch des Heckinsassen
verbunden ist.

b) Über die Lage des Kopf-Gassackes ist in Anspruch 1 lediglich ausgesagt,
dass er sich in aufgeblasenem Zustand von einem Bereich seitlich eines Frontin-
sassen bis in einen Bereich seitlich eines Heckinsassen erstreckt (Merkmal 4).
Hingegen trifft Anspruch 1 keine Festlegung bezüglich der Anordnung des Kopf-
Gassacks vor der Gasbefüllung. In den Ausführungsbeispielen gemäß Figuren 1
und 2 wird der Kopf-Gassack entweder unter eine Fahrzeug-Innenverkleidung
längs der A-Säule, des Dachrahmens und der C-Säule (Streitpatentschrift
Spalte 3, Zeilen 48 bis 51) oder - bei nachträglichem Einbau - an der Außenseite
der Verkleidung (Streitpatentschrift Spalte 3, Zeile 56, bis Spalte 4, Zeile 3) mon-
tiert. Im Patentanspruch 1 sind derartige Festlegungen jedoch nicht enthalten.
Ebenso enthält Anspruch 1 keine Festlegung im Hinblick auf die Befestigung des
Kopf-Gassackes (vgl. hierzu Streitpatentschrift Spalte 2, Zeilen 49 f. und Pa-
tentansprüche 2, 5, 10, 14, 16, 22, 23 in der geltenden Fassung des Senatsurteils
vom 2. Oktober 2014).

c) Gemäß Merkmal 5 ist der Kopf-Gassack in gefaltetem Zustand in einem
Montageschlauch angeordnet. Dieses Merkmal betrifft den Kopf-Gassack vor ei-
ner etwaigen Gas-Befüllung, bei der er aus der schlitzartigen Austrittsöffnung 34
des Montageschlauchs herausgleitet (Spalte 4 Zeilen 10 bis 21). Die Anordnung in
einem Montageschlauch soll der einfacheren Montage des Kopf-Gassacks dienen
(Streitpatentschrift Spalte 2, Zeile 45), wodurch ein Beitrag zur Lösung der Teil-
aufgabe, den Gassack auf einfache Weise im Fahrzeug unterzubringen, geleistet
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wird. Hierfür ist erforderlich, dass der in seiner Querrichtung gefaltete Kopf-
Gassack bereits während des Montagevorgangs von dem Montageschlauch um-
fasst ist. Dabei muss der Montageschlauch eine gewisse Festigkeit aufweisen, um
den Kopf-Gassack bei der Montage und im eingebauten Zustand so zusammen-
zuhalten, dass dessen Querfaltung nicht bereits vor der Gasbefüllung verloren
geht.

d) Der Montageschlauch kann direkt am Fahrzeug befestigt werden (Streitpa-
tentschrift Absatz 2, Zeilen 47 bis 49). Zwingend notwendig ist dies nach dem
Wortlaut des Anspruchs 1 jedoch nicht (vgl. dagegen Anspruch 2 in der geltenden
Fassung), weshalb dem Montageschlauch eine Befestigungsfunktion begrifflich
nicht immanent ist.

e) Bei dem Montageschlauch handelt es sich um ein längliches und flexibles
Gebilde (in Übereinstimmung mit dem allgemeinen Verständnis des Begriffs
„Schlauch“, vgl. etwa www.wikipedia.de, „Schlauch“, Stand Juli 2017: „Ein
Schlauch ist ein flexibler länglicher Hohlkörper mit zumeist rundem Querschnitt im
Unterschied zum unflexiblen Rohr“; Brockhaus, Enzyklopädie, 21. Aufl. 2006,
Band 24, Seite 295: „biegsames Rohr aus Gewebe, Gummi, Kunststoff oder Metall
…“). Flexibilität heißt nicht, dass der Schlauch insgesamt aus flexiblem Material
gemacht sein muss (dies betrifft lediglich Patentanspruch 4 in der geltenden Fas-
sung). Der Schlauch kann auch aus mehreren für sich gesehen unflexiblen Glie-
dern bestehen, wenn diese sich nicht in einer starren, sondern in einer flexiblen
Anordnung zueinander befinden.

Für ein hiervon abweichendes Verständnis des Begriffs „Schlauch“ bietet die
Streitpatentschrift keine Anhaltspunkte. Insbesondere ergibt sich dies - entgegen
den Darlegungen der Klägerin in der mündlichen Verhandlung - nicht aus den
Ausführungen in der Streitpatentschrift Spalte 4, Zeilen 15 bis 18, wonach der
Montageschlauch aus flexiblem Material, vorzugsweise aus weichem Kunststoff,
gefertigt ist und eine ovale, runde oder beliebige andere Querschnittsform auf-
weist. Diese Bemerkungen beziehen sich auf das in Figur 1 dargestellte, hinsicht-
- 15 -

lich der Materialangabe dem Unteranspruch 4 entsprechende Ausführungsbei-
spiel. Für den Fachmann ist auch selbstverständlich, dass ein Schlauch eine an-
dere als runde Querschnittsform aufweisen kann, insbesondere wenn er nicht le-
diglich zum Durchleiten einer Flüssigkeit, sondern zum Schutz eines in ihm einge-
brachten Gegenstands, der seinerseits keinen runden Querschnitt aufweist, die-
nen soll.

Gleiches gilt für die Ausführungen in Absatz [0014] der Streitpatentschrift, welcher
bestimmt, dass der Montageschlauch „vorzugsweise aus flexiblem Material herge-
stellt ist“. Dieser Absatz betrifft eine spezielle Ausführungsform des Streitpatents
als nachträglich einbaubare Einheit, welche an die Kontur des Fahrzeugs ange-
passt werden kann. Er bietet keine Anhaltspunkte für eine Auslegung, nach wel-
cher jedes den Gassack umgebende Gehäuse zugleich einen Montageschlauch
im Sinne des Streitpatents darstellt.

III.

Der Gegenstand des erteilten (und durch das Senatsurteil vom 2. Oktober 2014
aufrecht erhaltenen) Patentanspruchs 1 erweist sich gegenüber den Angriffen der
Klägerin als patentfähig.

1. Der Patentgegenstand war am Prioritätstag durch die nachveröffentlichte
(und deshalb gemäß § 3 Abs. 2, § 4 Satz 2 PatG nur unter dem Gesichtspunkt der
Neuheit zu berücksichtigende) deutsche Offenlegungsschrift 196 47 679 A1 (K15)
nicht vorweggenommen.

Zwar zeigt K15 (wie insbesondere der dortigen Figur 7 zu entnehmen ist) die
Merkmale M0 bis M4, nämlich einen langgestreckten Kopf-Gassack als Seitenauf-
prall-Schutzeinrichtung für sowohl einen Front- als auch einen Heckinsassen, der
sich in aufgeblasenem Zustand von einem Bereich seitlich eines Frontinsassen bis
in einen Bereich seitlich eines Heckinsassen erstreckt.

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Jedoch ist das Merkmal M5, wonach der Kopf-Gassack in gefaltetem Zustand in
einem Montageschlauch angeordnet ist, dieser Schrift nicht zu entnehmen. Der
dort in Figur 4 gezeigte Gassackkörper ist nicht in einem Montageschlauch, son-
dern in einem starren Gehäuse 30 untergebracht, bestehend aus einem Basis-
teil 30B und einem Deckel 30A, der um einen Scharnierabschnitt 30C beim Ent-
falten des Gassacks 20 aufschwenkt (vgl. Spalte 3, Zeilen 39 ff.).

Entsprechend dem allgemeinen, auch hier zugrunde zu legenden Verständnis,
wonach es sich bei einem Schlauch um ein flexibles Gebilde handelt (s. o. II.4.e),
wird der Fachmann das Gehäuse 30 nicht als Montageschlauch ansehen. Dies gilt
unabhängig davon, ob das Gehäuse diejenige Aufgabe erfüllt, die nach der Streit-
patentschrift einem Montageschlauch zukommt (s. o. II.4.d). Die an sich gebotene
funktionale Betrachtung darf bei räumlich-körperlich definierten Merkmalen nicht
dazu führen, dass deren Inhalt auf die bloße Funktion reduziert und das Merkmal
in einem Sinne interpretiert wird, der mit der räumlich-körperlichen Ausgestaltung,
wie sie dem Merkmal eigen ist, nicht mehr in Übereinstimmung steht
(Schulte/Rinken/Kühnen, PatG, 9. Aufl., § 14 Rn. 31 m. w. N.).

Auf Grund des fehlenden Merkmals 5 ist die Druckschrift NK15 daher nicht neu-
heitsschädlich für den Gegenstand des Patentanspruchs 1 des Streitpatents.

2. Die Neuheit des durch den geltenden Anspruch 1 geschützten Gegen-
stands wird auch durch die von der Klägerin angeführten Vorbenutzungshandlun-
gen nicht in Frage gestellt, wobei es auf die Offenkundigkeit dieser Handlungen
nicht ankommt. Aus diesem Grund brauchte der Senat den von der Klägerin an-
gebotenen Zeugenbeweis nicht zu erheben.

Was die Entwicklung eines Kopfschutz-Gassacks für Mercedes-Benz angeht, so
enthalten die hierzu vorgelegten Anlagen K13b, K13c, K13e, K13f, K13h, K13i,
K13j - Kopien von Protokollen, internen Mitteilungen oder sonstigem Schriftverkehr
der beteiligten Firmen, die sich allesamt auf den so genannten Kederbag bezie-
hen - keine Angaben bezüglich der Merkmale M4 und M5 des Anspruchsgegen-
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standes. Dies gilt auch für die Anlage 13d, eine Skizze, die, wie in Anlage K 13b,
S. 2 unter Ziffer 8, beschrieben, einen mittig an der B-Säule angeordneten Gasge-
nerator mit einem T-förmigen Anschlussstück zeigt, das auf der linken Seite einen
Airbag mit dem Gasgenerator verbindet und die Möglichkeit bietet, auf der rechten
Seite ebenfalls einen Airbag anzuschließen. Ebenso lässt die Zeichnung K13g, die
eine im Längsschnitt dargestellte Dachrahmenverkleidung zeigt, nicht erkennen,
ob der dort dargestellte Airbag über die B-Säule durchgeführt ist bzw. ob er von
der A-Säule bis zur C-Säule reicht.

Aus der Anlage K13k, die sich auf einen „Konzeptwettbewerb Rückhaltesysteme
BR 203“ der M… AG bezieht, geht ein Montageschlauch i. S. d. Merk-
mals M5 unstrittig nicht hervor.

Die Anlagen K14a, K14b, K14c, K14d, K14e, K14f (Kopien von Protokollen, inter-
nen Mitteilungen und Schriftverkehr der beteiligten Firmen), mit denen eine offen-
kundige Vorbenutzung im Zusammenhang mit Entwicklungsarbeiten für die
V… AG belegt werden soll, beziehen sich ebenfalls auf den so genannten
Kederbag und machen - ebenso wie die Schrift K14h - keine Angaben bezüglich
der Merkmale M4 und M5 des Anspruchsgegenstandes. Auch die Anlagen K14g
und K14h lassen keine Erstreckung des Gassacks von der A-Säule bis zur C-
Säule bzw. seitlich vom Kopf eines Frontinsassen bis seitlich vom Kopfes eines
Heckinsassen erkennen.

IV.

Auch die für die Annahme der Patentfähigkeit erforderliche Erfindungshöhe des
Gegenstands von Anspruch 1 wird durch den von der Klägerin insoweit geltend
gemachten Stand der Technik nicht in Frage gestellt.

1. In der Patentanmeldung GB 2 293 355 A (K16), insbesondere in den Figu-
ren 12 und 13, ist u. a. eine Seitenaufprall-Schutzeinrichtung mit einem Kopf-
Gassack 8 dargestellt. Dieser Gassack erstreckt sich seitlich eines Frontinsassen
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und ist in gefaltetem Zustand in einem dort als Stofftasche 5 (fabric pocket) be-
zeichneten Montageschlauch angeordnet (K16, Seite 17, Zeile 25). Die Merkmale
M0 bis M2 und M5 gehen somit aus dieser Druckschrift hervor. K16 zeigt jedoch
keinen Gassack, der sich i. S. d. Merkmale M3 und M4 im aufgeblasenen Zustand
vom Bereich seitlich eines Frontinsassen bis in einen Bereich seitlich eines Heck-
insassen erstreckt und beiden Insassen einen Kopfschutz bietet.

Wird der Fachmann ausgehend von K16 vor die Aufgabe gestellt, einen Kopf-
schutz für mindestens zwei Insassen zu bewerkstelligen, so wird er durch diese
Druckschrift nicht angeregt, zur Lösung dieser Aufgabe den dort offenbarten
Gassack bis in den Heckbereich zu erstrecken. Zwar enthält die Druckschrift Hin-
weise auf mögliche Kosteneinsparungen und auf eine flexible Verwendung des
Airbags zur Optimierung der Sicherheit (K16, Seite 5, Zeilen 3 bis 5). An anderen
Stellen ist davon die Rede, dass ein größerer Airbag (vgl. hierzu etwa K16,
Seite 16, Zeilen 1 bis 12) durch zwei Gasgeneratoren aufgeblasen werden könne
(K16, Seite 9, Zeilen 11 f.) und dass in bekannten Systemen vorgeschlagen wor-
den sei, bei Seitenkollisionen Fahrzeuginsassen durch einen Airbag zu schützen,
der zwischen dem Oberkörper des Insassen und der Fahrzeuginnenwand Wirkung
entfaltet (K16, Seite 1, Zeilen 11 bis 13). Figur 9c zeigt eine alternative Form des
Gassacks mit einer Ausdehnung 28 zum Schutz des Kopfes (vgl. K16, Seite 16,
Zeilen 9 bis 10: „extension 28 for head protection“). Alle diese Bemerkungen ver-
mitteln dem Fachmann jedoch keine Anregung dazu, den in K16 offenbarten und
dort durchgehend für jeweils nur eine Person vorgesehenen Airbag so zu verän-
dern, dass er gleichzeitig zwei Personen, nämlich einen Front- und einen Heckin-
sassen schützen kann. Es wird dem Fachmann im Gegenteil vermittelt, dass auch
ein größerer Airbag lediglich für einen Frontsitz-Passagier vorgesehen ist (K16,
Seite 9, Zeile 14).

Der Darstellung in K16, Figur 13, ist zu entnehmen, dass sich der aufgeblasene
Kopfschutz-Gassack am Dachholm von einer Stelle 35 etwa oberhalb des Knies
des Frontinsassen bis zu einer Stelle kurz hinter der B-Säule erstreckt und dabei
zwischen diesen Anbringungspunkten sichelförmig verläuft. Der Kopf des Insas-
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sen befindet sich dabei etwa in dem Bereich, in dem der sichelförmige Gassack
seine größte Dicke (i. S. der vertikalen Ausdehnung) aufweist. Auf diese Weise
soll für den Insassen der optimale Schutz erreicht werden (K16, Seite 17, Zei-
len 19 bis 21). Würde man die hintere Befestigung des Gassacks nach hinten,
etwa in den Bereich der C-Säule, verschieben, dann würde der Bereich, in dem
der Gassack seine größte Dicke aufweist, etwas hinter der B-Säule zu liegen
kommen, während sich die Köpfe des Front- und des Heckpassagiers sich dort
befinden würden, wo sich die Sichelform des Gassacks zu den Enden hin ver-
jüngt. Der Fachmann erkennt ohne weiteres, dass auf diese Weise kein optimaler
Kopfschutz für die Insassen zu erreichen wäre. Auch aus diesem Grund würde er
von einer derartigen Verlängerung des Gassacks absehen und stattdessen eher
daran denken, zum Schutz des Heckpassagiers einen separaten Gassack ent-
sprechend dem in K16, Figuren 12, 13 gezeigten vorzusehen.

Für dessen Befestigung an der Dachkante des Fahrzeugs ist im Übrigen noch
ausreichend Platz vorhanden, ungeachtet des Umstands, dass sich bei der Aus-
gestaltung gemäß Figuren 12, 13 die hintere Befestigung des im Frontbereich in-
stallierten Gassacks hinter der B-Säule befindet.

2. Ausgehend von K16 war dem Fachmann der Gegenstand des Anspruchs 1
des Streitpatents auch in Zusammenschau mit der japanischen Patentanmeldung
47-27580 (K17) oder mit der deutschen Offenlegungsschrift 1 555 142 (K18) nicht
nahegelegt. Auch wenn aus diesen Schriften der Grundgedanke, mehrere Fahr-
zeuginsassen durch ein Gassacksystem zu schützen, hervorgehen mag, so
konnte dies den Fachmann nicht veranlassen, den aus K16 bekannten Kopf-
schutz-Gassack i. S. d. Merkmale 3 und 4 des Streitpatents weiterzuentwickeln.

a) Die Entgegenhaltung K17 zeigt keinen durch einen Gasgenerator aufzubla-
senden Gassack, sondern verfolgt mit der dort gezeigten Schutzeinrichtung eine
im Vergleich zum Streitgegenstand andere technische Lösung, um Fahrzeugin-
sassen bei einem Aufprall rundum zu schützen. Gemäß Figur 1 ist im Himmel 2
des Fahrzeugs ein Sackkörper 3 untergebracht. Im Falle eines Aufpralls expan-
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diert der Sackkörper 3 sofort und hängt vom Himmel 2, um Insassen 6 in einhül-
lender Weise zu bedecken (vgl. K17a, Seite 4 oben). Hinweise auf die Merkmale
M3 und M4 des geltenden Patentanspruchs 1 lassen sich der Entgegenhaltung
K17 mithin schon wegen der andersartigen Anordnung des Sackkörpers 3 nicht
entnehmen.

b) Die Schrift K18 bezieht sich nach ihrem Anspruch 1 zwar auf eine Einrich-
tung zur Erhöhung der Sicherheit der Insassen von Fahrzeugen; die Fahrzeuge
dort sind aber mit pneumatisch wirksamen Polsterungen ausgestattet, die vorwie-
gend aus hinter den Köpfen der Fahrzeuginsassen angeordneten, aufblasbaren
und der Kopfform angepassten kleinen Luftsack-Schutzelementen bestehen. Die
Luftsack-Schutzelemente sind an der Karosserie und/oder an den verlängerten
Gerüsten der Sitzlehen 2 befestigt. Auch dieser Entgegenhaltung lassen sich
schon wegen der Anordnung von kleinen Luftsack-Schutzelementen keine Hin-
weise auf die Merkmale M3 und M4 des geltenden Patentanspruchs 1 entnehmen.

3. Auch die deutsche Offenlegungsschrift 43 04 152 A1 (K22) konnte den
Fachmann nicht zum Gegenstand des Anspruchs 1 führen. Sie betrifft eine
Schutzvorrichtung für einen Fahrzeuginsassen (K 22, Spalte 3, Zeile 17), die eine
Fensteröffnung des Fahrzeugs mit Hilfe mehrerer Airbags überdeckt. Ausgehend
von den aus K18 bekannten Luftsack-Schutzelementen macht es sich K22 zur
Aufgabe, eine Schutzvorrichtung zu schaffen, die hinsichtlich ihrer Schutzwirkung
bei einem seitlichen Unfall optimiert ist (K22, Spalte 1, Zeilen 23 bis 26). Hierzu
sollen verschiedene Airbags zusammenwirken, u. a. ein zwischen der Türaußen-
wand und dem Fensterschacht angeordneter, sich im aufgeblasenen Zustand zwi-
schen dem Insassen und dem Fensterbereich befindlicher Türairbag 20 und ein
oberhalb des Fensters und des Kopfes des Insassen befindlicher Airbag 25, des-
sen Hauptaufgabe in einem Schutz des Kopfes des Fahrzeuginsassen vor einem
harten Aufprall auf das Dach besteht (K 22, Spalte 5, Zeilen 39 bis 42). In der Un-
fallphase ist zwischen den beiden Airbags zunächst eine begrenzt querfeste (z. B.
klettverschlussartige, siehe Patentanspruch 2) Verbindung vorhanden, wodurch
ein z. B. vor Glassplittern schützender aufgeblasener Seitenvorhang bzw. eine
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Seitenwand für den oberen Bereich des Fahrzeuginsassen gebildet wird (K22,
Spalte 3, Zeilen 5 bis 11, Spalte 4, Zeile 45).

Aus K22 ergibt sich kein Hinweis darauf, dass einer der Airbags 20 bzw. 25 so-
wohl für den Front- als auch für den Heckinsassen vorgesehen ist. Vielmehr ist
durchgehend nur von einem Fenster bzw. von einer Fensteröffnung die Rede
(siehe etwa Patentanspruch 1 und Beschreibung Spalte 1, Zeilen 33 f., 35, 36, 38,
39, 44, 61; Spalte 2, Zeilen 7, 25, 53; Spalte 3, Zeilen 9, 12, 22, 23, 31, 43). Der
Fachmann, der um die Problematik großvolumiger Systeme weiß, wird auch nicht
zur Ausdehnung eines Airbags über den Bereich von mehr als einem Fenster an-
geregt, im Gegenteil wird ihm der umgekehrte Hinweis gegeben, dass zur Be-
schleunigung des Aufblasens ein an sich größerer Airbag durch mehrere kleinere
Airbags ersetzt werden kann (K22, Spalte 3, Zeilen 25 bis 28 und Zeilen 55 bis
57).

Wenn es an anderer Stelle heißt, dass bei entsprechender Dimensionierung der
Airbags diese sich auch an angrenzenden Fahrzeugsäulen (A-, B- und C-Säule)
abstützen könnten (K22, Spalte 3, Zeilen 14 bis 17), so wird dies der Fachmann
nicht so verstehen, dass sich ein und derselbe Airbag an allen drei genannten
Säulen abstützen kann, vielmehr dass ein Airbag für den Frontinsassen sich an
der A- und an der B-Säule, und dass ein Airbag für den Heckinsassen sich an der
B- und an der C-Säule abstützen kann.

Aus diesem Grund konnte der Fachmann durch die Kombination der Schriften 16
und 22, die beide keinen Kopfschutz-Gassack für gleichzeitig zwei Insassen zei-
gen, nicht zum Gegenstand des Anspruchs 1 des Streitpatents gelangen. Dies gilt
unabhängig davon, welche der beiden Entgegenhaltungen zum Ausgangspunkt
der Überlegungen gemacht wird.

4. Auch durch das als K13k vorgelegte Lastenheft für einen M…-
Konzeptwettbewerb war der Fachmann am Prioritätstag in Zusammenschau mit
der Entgegenhaltung K16 - entgegen den Darlegungen der Klägerin in der mündli-
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chen Verhandlung - nicht zu einer Seitenaufprall-Schutzeinrichtung mit der in Pa-
tentanspruch 1 enthaltenen Merkmalskombination angeregt. Dies gilt unabhängig
von der seitens der Beklagten bestrittenen Offenkundigkeit des Lastenheftes.
Insbesondere sind aus Punkt 4.1 des Lastenheftes die Merkmale M3 und M4 nicht
zu erkennen. Aus der dortigen Anmerkung, wonach der aufgeblasene Kopfschutz
den gesamten möglichen Kontaktbereich abdecken soll, also A-Säule, B-Säule mit
Gurthöhenversteller, Dachrahmen bis einschließlich C-Säule, ist lediglich der
Umfang des angestrebten Insassenschutzes zu entnehmen, nicht jedoch, auf wel-
che Weise dieser Schutz zu bewerkstelligen sein soll. Die Entwicklung entspre-
chender Lösungen wurde gerade von den Teilnehmern am Konzeptwettbewerb
gefordert.

Ebenso ergibt sich aus der den zusätzlichen Kopfschutz betreffenden Volumenan-
gabe unter Punkt 4.2 (20 Liter) kein Hinweis darauf, dass der Luftsack zugleich
den Front- und den Heckinsassen schützen soll, insbesondere im Vergleich zu
dem für den unter der Türabdeckung einzubauenden Luftsack (16 Liter, siehe
Lastenheft Punkt 3.2) oder mit dem Volumen des in K16 zum Schutz eines einzel-
nen Insassen vorgesehenen Kopf-Gassacks (15 Liter, vgl. K16, Seite 17,
Zeile 24).

V.

Somit hat Patentanspruch 1 Bestand. Die Unteransprüche 2 bis 24 (in der gelten-
den Fassung des Streitpatents) betreffen zweckmäßige, nicht triviale Ausgestal-
tungen der Anordnung nach Anspruch 1. Sie sind schon wegen ihres Rückbezugs
auf Anspruch 1 patentfähig, unabhängig davon, ob ihre zusätzlichen Merkmale ih-
rerseits neu sind und ob sie auf erfinderischer Tätigkeit beruhen.

Die Klage war daher insgesamt abzuweisen, weshalb auf die Hilfsanträge der Be-
klagten nicht eingegangen zu werden braucht.

- 23 -

VI.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 Abs. 2 Satz 2 PatG i. V. m. § 91 Abs. 1
Satz 1 ZPO, der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 99 Abs. 1
PatG i. V. m. § 709 ZPO.

VII.
Rechtsmittelbelehrung

Gegen dieses Urteil ist das Rechtsmittel der Berufung gegeben.

Die Berufungsschrift muss von einer in der Bundesrepublik Deutschland zugelas-
senen Rechtsanwältin oder Patentanwältin oder von einem in der Bundesrepublik
Deutschland zugelassenen Rechtsanwalt oder Patentanwalt unterzeichnet und
innerhalb eines Monats beim Bundesgerichtshof, Herrenstraße 45a,
76133 Karlsruhe eingereicht werden.

Die Berufungsfrist beginnt mit der Zustellung des in vollständiger Form
abgefassten Urteils, spätestens aber mit dem Ablauf von fünf Monaten nach der
Verkündung. Die Berufungsfrist kann nicht verlängert werden.

Die Berufungsschrift muss die Bezeichnung des Urteils, gegen das die Berufung
gerichtet wird, sowie die Erklärung enthalten, dass gegen dieses Urteil Berufung
eingelegt werde. Mit der Berufungsschrift soll eine Ausfertigung oder beglaubigte
Abschrift des angefochtenen Urteils vorgelegt werden.


Rauch Hildebrandt Küest Dr. Schnurr Dr. Großmann

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