6. Senat - Hinweispflicht nach § 6 Satz 2 KSchG - Konsultationspflicht bei Interessenausgleich mit Namensliste - Stellungnahme des Betriebsrats
Karar Dilini Çevir:
6. Senat - Hinweispflicht nach § 6 Satz 2 KSchG - Konsultationspflicht bei Interessenausgleich mit Namensliste - Stellungnahme des Betriebsrats
- 2 - BUNDESARBEITSGERICHT 6 AZR 407/10 26 Sa 263/10 Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg Im Namen des Volkes! Verkündet am 18. Januar 2012 URTEIL Gaßmann, Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle In Sachen Klägerin, Berufungsklägerin und Revisionsklägerin, pp. Beklagter, Berufungsbeklagter und Revisionsbeklagter, hat der Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 18. Januar 2012 durch den Vorsitzenden Richter am Bun-desarbeitsgericht Dr. Fischermeier, den Richter am Bundesarbeitsgericht Dr. Brühler und die Richterin am Bundesarbeitsgericht Spelge sowie die ehren-amtlichen Richter Oye und Zabel für Recht erkannt: - 2 - 6 AZR 407/10 - 3 - 1. Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Lan-desarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 3. Juni 2010 - 26 Sa 263/10 - wird zurückgewiesen. 2. Die Klägerin hat die Kosten der Revision zu tragen. Von Rechts wegen! Tatbestand Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen betriebs-bedingten Kündigung. Die Klägerin war seit dem 1. Oktober 1991 als Konstruk-teurin im Betrieb Z der Schuldnerin, in dem ein Betriebsrat gebildet war, be-schäftigt. Dort waren etwa 110 Mitarbeiter tätig. Durch Beschluss des Amtsge-richts Aalen - Insolvenzgericht - vom 1. Juni 2009 (- 3 IN 91/09 -) wurde über das Vermögen der Schuldnerin das Insolvenzverfahren eröffnet und der Beklag-te zum Insolvenzverwalter bestellt. Am 10. Juni 2009 stellte der Beklagte die Produktion in Z ein und stellte alle Arbeitnehmer mit Ausnahme von sechs Beschäftigten, die insolvenzspezifische Tätigkeiten verrichteten, mit Wirkung vom 11. Juni 2009 von der Erbringung der Arbeitsleistung frei. Werbende und produzierende Tätigkeiten wurden im Betrieb Z seitdem nicht mehr entfaltet, Aufgaben für Konstrukteure waren nicht mehr vorhanden. Am 24. Juni 2009 einigte der Beklagte sich mit dem Betriebsrat auf einen Interessenausgleich mit Namensliste. Dieser lautet auszugsweise wört-lich: „§ 4 Betriebsratsanhörung nach § 102 BetrVG Der Betriebsrat erklärt mit Unterzeichnung dieses Interes-senausgleiches, dass er bereits im Rahmen der Verhand-lungen über diesen Interessenausgleich ordnungsgemäß die nach § 102 BetrVG erforderlichen Informationen über die zu berücksichtigenden Kündigungsgründe und zur Sozialauswahl … erhalten hat und so bereits ordnungs-gemäß angehört wurde. ... Der Betriebsrat erklärt, dass er die beabsichtigten 1 2 - 3 - 6 AZR 407/10 - 4 - Kündigungen zur Kenntnis nimmt und keine weitere Stellungnahme abgeben wird und das Anhörungsverfah-ren als abgeschlossen sieht. … § 8 Unterrichtung nach § 17 KSchG Der Betriebsrat erklärt hiermit, rechtzeitig und umfassend gemäß § 17 KSchG über die anzeigepflichtigen Maßnah-men unterrichtet worden zu sein. Der vorliegende Interes-senausgleich ersetzt die Stellungnahme des Betriebsrats gemäß § 17 Absatz 3 KSchG (§ 125 InsO) sowie § 20 Absatz 1 und 2 KSchG.“ Am 24. Juni 2009 ging um 13:24 Uhr der vom stellvertretenden Be-triebsratsvorsitzenden, der den am 24. und 25. Juni 2009 urlaubsbedingt abwesenden Vorsitzenden vertrat, unterschriebene Interessenausgleich in eingescannter Form per E-Mail bei der Schuldnerin ein. Der Beklagte zeigte mit Schreiben vom 25. Juni 2009, das dort per Telefax um 12:37 Uhr einging, der Agentur für Arbeit die geplante Massenentlassung an. Diesem Schreiben fügte er ein ausgedrucktes, von ihm unterzeichnetes Exemplar des ihm vom Betriebs-rat per E-Mail übersandten Interessenausgleichs bei. Aufgrund eines Bürover-sehens nahm er im Anschreiben auf einen Interessenausgleich vom 2. Juni 2009 Bezug. Die Kündigungserklärungen vom 25. Juni 2009 gab der Beklagte noch am selben Tag gegen 15:45 Uhr zur Post. Der Klägerin ging die Kündi-gung am 26. Juni 2009 zu. Die Klägerin hat am 17. Juli 2009 Kündigungsschutzklage erhoben. In der Ladung zum Gütetermin erteilte das Arbeitsgericht den Hinweis nach § 6 Satz 2 KSchG wie folgt: „Die klagende Partei wird darauf hingewiesen, dass nur bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung in der 1. Instanz auch weitere Unwirksamkeitsgründe geltend gemacht werden können (§ 6 KSchG).“ Erstinstanzlich hat die Klägerin lediglich gerügt, der Betrieb der Schuld-nerin sei nicht dauerhaft stillgelegt worden. Mangels formgerecht unterzeichne-ten Interessenausgleichs habe sich der Beklagte auch nicht auf die Rechtswir-kungen aus § 1 Abs. 5 KSchG berufen dürfen. Erst in der Berufungsinstanz hat 3 4 5 - 4 - 6 AZR 407/10 - 5 - die Klägerin Rügen hinsichtlich der Betriebsratsanhörung und der Wahrung der Pflichten des Beklagten aus § 17 KSchG erhoben. Die Massenentlassungsan-zeige sei bereits deshalb nicht ordnungsgemäß erfolgt, weil im Anschreiben an die Agentur für Arbeit ein falsches Datum des Interessenausgleichs genannt worden sei. Der Beklagte habe nicht hinreichend dargelegt, dass er der Konsul-tationspflicht nach § 17 Abs. 2 KSchG nachgekommen sei. Der Interessenaus-gleich habe der gesetzlichen Schriftform nicht genügt und darum nicht die Stellungnahme des Betriebsrats gegenüber der Agentur für Arbeit ersetzen können. Die Klägerin hat beantragt festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die Kündigung vom 25. Juni 2009 nicht aufgelöst wurde. Der Beklagte hat seinen Antrag auf Klageabweisung darauf gestützt, dass es auf den formal wirksamen Abschluss des Interessenausgleichs für die Ersetzungswirkung nicht ankomme. Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsge-richt hat angenommen, die Kündigung sei sozial gerechtfertigt. Das Arbeitsge-richt habe seiner Hinweispflicht nach § 6 Satz 2 KSchG genügt, so dass sich die Klägerin nach Abschluss der ersten Instanz nicht auf weitere Rügen berufen könne. Ohnehin habe der Beklagte seine Pflichten aus § 102 BetrVG und § 17 KSchG nicht verletzt. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision rügt die Klägerin, das Landesarbeitsgericht habe den Inhalt der Hinweispflicht nach § 6 Satz 2 KSchG verkannt. Weil Anhaltspunkte für weitere Unwirksam-keitsgründe vorgelegen hätten, habe es eines konkreten Hinweises des Arbeitsgerichts zu § 102 BetrVG und § 17 KSchG bedurft. Im Übrigen wieder-holt und vertieft die Klägerin ihr Vorbringen dazu, dass die Massenentlassungs-anzeige nicht ordnungsgemäß erstattet sei. 6 7 8 - 5 - 6 AZR 407/10 - 6 - Entscheidungsgründe Die Revision ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Klage mit zutreffender Begründung abgewiesen. I. Die Kündigung ist gemäß § 1 Abs. 1 KSchG wirksam. Die dem zugrun-de liegenden Tatsachen hat das Landesarbeitsgericht gemäß § 561 ZPO bindend festgestellt. Gegen diese Feststellung wendet sich die Revision nicht. II. Das Landesarbeitsgericht hat rechtsfehlerfrei angenommen, dass die Klägerin mit der Rüge des Unwirksamkeitsgrundes des § 102 Abs. 1 Satz 3 BetrVG nach § 6 Satz 1 KSchG ausgeschlossen ist, weil sie diese Rüge erst-mals in der Berufungsinstanz erhoben hat. 1. Nach § 6 Satz 1 KSchG kann sich der Arbeitnehmer bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz zur Begründung der Unwirksamkeit der Kündigung auch auf innerhalb der Frist des § 4 KSchG nicht geltend ge-machte Gründe berufen, sofern er innerhalb dieser Frist Kündigungsschutzkla-ge erhoben hat. § 6 Satz 1 KSchG ist damit eine Präklusionsvorschrift (Eylert NZA 2012, 9, 10; Raab RdA 2004, 321, 329). Der Gesetzgeber wollte mit der Vorschrift des § 6 Satz 1 KSchG dem „meist nicht rechtskundigen“ Arbeitnehmer die Möglichkeit eröffnen, auch nach Ablauf der Frist des § 4 KSchG noch andere Unwirksamkeitsgründe in den Prozess einzuführen, auf die er sich zunächst nicht berufen hat. Zugleich wollte er diese Rügemöglichkeit auf die Zeit bis zum Schluss der mündlichen Ver-handlung in der ersten Instanz beschränken, um dem Arbeitgeber alsbald Klarheit über den Bestand oder die Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu verschaffen (BT-Drucks. 15/1204 S. 13). Allerdings führt seit der Neufassung des § 4 KSchG durch das Gesetz zu Reformen am Arbeitsmarkt vom 24. Dezember 2003 (BGBl. I S. 3002) die Rüge einer Unwirksamkeit der Kündi-gung unter weiteren rechtlichen Gesichtspunkten nicht zu einem Wechsel im Streitgegenstand, sondern nur zu einer Erweiterung des Sachvortrags, so dass an sich der Arbeitnehmer im Kündigungsschutzprozess im Rahmen der gelten- 9 10 11 12 13 - 6 - 6 AZR 407/10 - 7 - den Präklusionsbestimmungen weitere Unwirksamkeitsgründe nachschieben könnte. Unabhängig davon, dass § 6 Satz 1 KSchG insoweit redaktionell missglückt (so BAG 23. April 2008 - 2 AZR 699/06 - Rn. 22, AP KSchG 1969 § 4 Nr. 65 = EzA KSchG § 4 nF Nr. 84) bzw. misslungen ist (Eylert NZA 2012, 9; Bender/Schmidt NZA 2004, 358, 364; Quecke RdA 2004, 86, 101; Bayreu-ther ZfA 2005, 391, 398), ist diese Regelung von den Gerichten zu achten (Bader NZA 2004, 65, 69; Raab RdA 2004, 321, 329). Der Arbeitnehmer muss deshalb aufgrund der ausdrücklichen gesetzlichen Anordnung des § 6 Satz 1 KSchG alle weiteren Unwirksamkeitsgründe spätestens bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz geltend machen. Geschieht dies nicht, ist er mit dieser Rüge grundsätzlich ausgeschlossen (BAG 8. November 2007 - 2 AZR 314/06 - Rn. 10, 16, BAGE 124, 367; vgl. auch 4. Mai 2011 - 7 AZR 252/10 - Rn. 19, EzA KSchG § 6 Nr. 3 für die auf § 6 KSchG verweisende Bestimmung des § 17 Satz 2 TzBfG; aA KR/Friedrich 9. Aufl. § 6 KSchG Rn. 18a; Bader/Bram/Kriebel Stand Oktober 2010 § 6 KSchG Rn. 14 ff.; Que-cke RdA 2004, 86, 102; Bender/Schmidt NZA 2004, 358, 365; Bayreuther ZfA 2005, 391, 392). 2. Das Arbeitsgericht hat die Klägerin in der Ladung zum Gütetermin entsprechend dem Wortlaut des § 6 Satz 1 KSchG darauf hingewiesen, dass sie sich bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz zur Be-gründung der Unwirksamkeit der Kündigung auch auf innerhalb der Klagefrist nicht geltend gemachte Gründe berufen kann. Damit hatte es seiner Pflicht aus § 6 Satz 2 KSchG genügt. Eine Verpflichtung des Arbeitsgerichts, die Klägerin auf etwaige Unwirksamkeitsgründe, die nach den konkreten Umständen des Einzelfalls in Betracht hätten kommen können, hinzuweisen, bestand nach dieser Bestimmung nicht. a) Über Anlass und Inhalt der Hinweispflicht nach § 6 Satz 2 KSchG in der seit dem 1. Januar 2004 geltenden Fassung ist noch keine höchstrichterliche Entscheidung ergangen. Der Zweite Senat hat in seiner Entscheidung vom 8. November 2007 (- 2 AZR 314/06 - Rn. 21, BAGE 124, 367) lediglich ange-nommen, dass ein ausreichender Hinweis an den Kläger dadurch erfolgt sei, 14 15 - 7 - 6 AZR 407/10 - 8 - dass das Arbeitsgericht eindeutig festgestellt habe, andere Unwirksamkeits-gründe habe der Kläger erstinstanzlich nicht geltend gemacht. Der Siebte Senat hat in der Entscheidung vom 4. Mai 2011 (- 7 AZR 252/10 - Rn. 21, EzA KSchG § 6 Nr. 3) ausdrücklich offengelassen, nach welchen Maßstäben sich die Hinweispflicht des Arbeitsgerichts richtet. In der Entscheidung vom 16. April 2003 (- 7 AZR 119/02 - BAGE 106, 72, 78) hat der Siebte Senat die Hinweis-pflicht nach § 17 TzBfG, § 6 KSchG aF nicht als verletzt angesehen, weil das Arbeitsgericht weder den Klageanträgen noch der Klagebegründung noch sonstigen Umständen Anhaltspunkte dafür habe entnehmen können, dass die letzte vereinbarte Befristung unwirksam gewesen sein könnte. b) Nach hM in der Literatur muss ein Hinweis nach § 6 Satz 2 KSchG erfolgen, wenn andere Unwirksamkeitsgründe als die bisher gerügten erkenn-bar in Betracht kommen (Eylert NZA 2012, 9, 11; KR/Friedrich 9. Aufl. § 6 KSchG Rn. 31; ErfK/Kiel 12. Aufl. § 6 KSchG Rn. 6; APS/Hesse 4 Aufl. § 6 KSchG Rn. 22; Bader/Bram/Kriebel Stand Oktober 2010 § 6 KSchG Rn. 47 hält das „Erfragen“ derartiger Anhaltspunkte in bestimmten Fällen für erforderlich). Bei Vorliegen solcher Umstände soll ein Hinweis auf einen konkreten, im einzelnen vom Gericht zu benennenden Unwirksamkeitsgrund erfolgen (vgl. Eylert aaO, der einen konkreten Hinweis des Arbeitsgerichts verlangt, wenn aufgrund des Tatsachenvorbringens der Parteien die Möglichkeit eines bislang noch nicht ausreichend vorgetragenen Unwirksamkeitsgrundes vorliegt; nach KR/Friedrich aaO hat das Gericht zB auf die Möglichkeit der Unwirksamkeit der Kündigung nach § 102 Abs. 1 Satz 3 BetrVG hinzuweisen). Andere Stimmen in der Literatur halten einen umfassenden Hinweis in Form eines „juristischen Einkaufszettels“ (so polemisch Bender/Schmidt NZA 2004, 358, 365) auf alle möglichen Unwirksamkeitsgründe für erforderlich (Bader NZA 2004, 65, 69). c) Diese Auslegungen gehen jedoch über den Normgehalt des § 6 Satz 2 KSchG hinaus. Nach dieser Bestimmung soll das Arbeitsgericht den Arbeit-nehmer „hierauf“, also darauf, dass er nach § 6 Satz 1 KSchG weitere Unwirk-samkeitsgründe (nur) bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung geltend machen kann, hinweisen. Auch aus den Gesetzesmaterialien ergibt sich kein 16 17 - 8 - 6 AZR 407/10 - 9 - weitergehender Wille des Gesetzgebers. Danach soll der meist nicht rechts-kundige Arbeitnehmer, der bei Klageerhebung oft nicht alle Unwirksamkeits-gründe kennt, die Möglichkeit haben, später andere Gründe in den Prozess einzuführen. „Hierauf“ soll ihn das Gericht hinweisen (BT-Drucks. 15/1204 S. 13). Mehr verlangt § 6 Satz 2 KSchG nicht. Deshalb reicht der bloße Hinweis des Arbeitsgerichts auf den Regelungsgehalt des § 6 Satz 1 KSchG zur Wah-rung der Hinweispflicht aus § 6 Satz 2 KSchG aus. 3. § 6 KSchG führt allerdings in vorstehender Auslegung zu einer nicht unerheblichen Beschneidung der Rechtsschutzmöglichkeiten des Arbeitneh-mers. Als Präklusionsvorschrift steht § 6 Satz 1 KSchG im Spannungsverhältnis zwischen den Geboten zur Rechtsschutzgewährung und der Wahrung des rechtlichen Gehörs sowie der anzustrebenden materiellen Richtigkeit der zu treffenden Entscheidung einerseits und der Befolgung der vom Gesetzgeber angeordneten Beschleunigung und Konzentration des Streitstoffs schon in erster Instanz andererseits. a) Es liegt grundsätzlich in der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, ob für die Rechtsverfolgung mehrere Instanzen bereitgestellt werden, unter wel-chen Voraussetzungen diese angerufen werden können und wie weit die Prüfungsbefugnis des jeweils zuständigen Gerichts reicht (vgl. BVerfG 24. Januar 2005 - 1 BvR 2653/03 - BVerfGK 6, 1, 3 für § 531 Abs. 2 ZPO nF). Die Beschränkung der Prüfungsbefugnis des Landesarbeitsgerichts durch § 6 KSchG steht deshalb mit dem Justizgewährungsanspruch des Art. 19 Abs. 4 GG in Einklang. b) Der Gesetzgeber kann auch das rechtliche Gehör im Interesse der Verfahrensbeschleunigung durch Präklusionsvorschriften begrenzen. Allerdings führen Vorschriften wie die des § 6 Satz 1 KSchG dazu, dass einer Partei Vorbringen abgeschnitten werden kann, das zu einem anderen Ausgang des Prozesses geführt hätte. Wegen dieser einschneidenden Folgen für den An-spruch auf rechtliches Gehör müssen solche Vorschriften Ausnahmecharakter haben. Ihre Anwendung durch die Fachgerichte unterliegt einer strengeren verfassungsgerichtlichen Kontrolle, als dies üblicherweise bei der Anwendung 18 19 20 - 9 - 6 AZR 407/10 - 10 - einfachen Rechts der Fall ist. Art. 103 Abs. 1 GG ist verletzt, wenn durch die fehlerhafte Anwendung von Präklusionsvorschriften eine verfassungsrechtlich erforderliche Anhörung nicht stattgefunden hat. Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist dagegen gewahrt, wenn die betroffene Partei ausreichend Gelegen-heit hatte, sich in den ihr wichtigen Punkten zur Sache zu äußern, dies aber aus von ihr zu vertretenden Gründen versäumt hat (BVerfG 5. Mai 1987 - 1 BvR 903/85 - BVerfGE 75, 302; 30. Januar 1985 - 1 BvR 876/84 - BVerfGE 69, 145, 149). c) Vor diesem verfassungsrechtlichen Hintergrund hat die Rechtspre-chung des Bundesgerichtshofs und des Bundesarbeitsgerichts bei der Anwen-dung von Präklusionsvorschriften verlangt, dass die gesetzlichen Vorausset-zungen „strikt“ eingehalten werden (BGH 12. Januar 1983 - IVa ZR 135/81 - BGHZ 86, 218). Für die Präklusionsvorschrift des § 277 Abs. 2 ZPO stellt der Bundesgerichtshof hohe Anforderungen an die von diesen Vorschriften verlang-te gerichtliche Belehrung über die Folgen einer Fristsäumnis. Es müsse dem Beklagten unmissverständlich klar gemacht werden, welcher Nachteil ihm bei Nichteinhaltung der Frist entstehe. Die formularmäßige Mitteilung des Geset-zeswortlauts reiche dabei nicht aus. Die Belehrung müsse vielmehr dem Be-klagten sinnfällig vor Augen führen und ihm völlig klar machen, dass er sich gegen die Klage nur innerhalb der gesetzten Frist zur Klagerwiderung verteidi-gen könne, dass ihm bei Versäumung der Frist im Allgemeinen jegliche Vertei-digung abgeschnitten sei und er den Prozess vollständig verlieren werde (st. Rspr. seit BGH 12. Januar 1983 - IVa ZR 135/81 - BGHZ 86, 218, 224 f.). Dem hat sich das Bundesarbeitsgericht für die Vorschrift des § 56 Abs. 2 ArbGG angeschlossen (BAG 19. Mai 1998 - 9 AZR 362/97 - EzA ArbGG 1979 § 56 Nr. 2). d) Diese Anforderungen an die Belehrung über die Rechtsfolgen einer Versäumung einer gesetzten Frist können nicht auf die Hinweispflicht des § 6 KSchG übertragen werden. Zur Erfüllung dieser Pflicht reicht angesichts des eindeutigen Wortlauts der gesetzlichen Bestimmung vielmehr ein Hinweis auf den Inhalt des § 6 Satz 1 KSchG aus. Im Unterschied zu § 277 Abs. 2 ZPO und 21 22 - 10 - 6 AZR 407/10 - 11 - § 56 Abs. 2 ArbGG sieht § 6 Satz 2 KSchG nur eine Hinweis-, nicht aber eine Belehrungspflicht vor. Auch bei strikter Anwendung der gesetzlich vorgeschrie-benen Voraussetzungen ist daher eine Belehrung über die Folgen einer verspä-teten Einführung von Unwirksamkeitsgründen in den Kündigungsschutzprozess nicht erforderlich, um den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Art. 103 Abs. 1 GG zu genügen. Der Gesetzgeber hat im Rahmen des § 6 KSchG ausdrücklich einen „Hinweis“ als ausreichend angesehen und keine Belehrung verlangt (BT-Drucks. 15/1204 S. 13). Ohnehin ist jedenfalls bei einer anwaltlich vertretenen Partei eine Belehrung über die Folgen einer Fristversäumnis ver-fassungsrechtlich nicht geboten (BVerfG 5. Mai 1987 - 1 BvR 903/85 - BVerfGE 75, 302). e) Jedenfalls einen weder anwaltlich noch gewerkschaftlich vertretenen Arbeitnehmer muss das Arbeitsgericht auf den Regelungsgehalt des § 6 Satz 1 KSchG hinweisen, obwohl § 6 Satz 2 KSchG nur eine Sollvorschrift ist (vgl. BAG 8. November 2007 - 2 AZR 314/06 - Rn. 21, BAGE 124, 367). Unabhängig davon, ob solche „prozessualen Sollvorschriften“ von den Gerichten grundsätz-lich zu befolgen sind (in diesem Sinne Bader/Bram/Kriebel Stand Oktober 2010 § 6 KSchG Rn. 48), ist der zwingende Hinweis auf den Inhalt des § 6 Satz 1 KSchG in diesem Fall verfassungsrechtlich geboten. Das Verfahrensrecht dient der Herbeiführung gesetzmäßiger und unter diesem Blickpunkt richtiger, aber auch gerechter Entscheidungen. Sind dem Richter im Interesse einer ange-messenen Verfahrensgestaltung Ermessensbefugnisse eingeräumt, hat er diese Befugnisse so auszulegen und anzuwenden, dass es nicht zu einer Verkürzung des grundrechtlich gesicherten Anspruchs auf einen effektiven Rechtsschutz kommt (BVerfG 27. September 1978 - 1 BvR 361/78 - BVerfGE 49, 220, 225). 4. Der Arbeitnehmer hat auch bei dieser Auslegung des § 6 Satz 2 KSchG in einer mit Art. 103 Abs. 1 GG zu vereinbarenden Weise Gelegenheit, sich in den ihm wichtigen Punkten im arbeitsgerichtlichen Verfahren zur Sache zu äußern und sein Rechtsschutzbegehren zu verfolgen. § 6 Satz 2 KSchG kann insoweit nicht isoliert betrachtet werden. Zu berücksichtigen ist auch die Ge- 23 24 - 11 - 6 AZR 407/10 - 12 - samtheit der prozessualen Pflichten des Arbeitsgerichts, in die diese Bestim-mung eingebettet ist. In der Gesamtschau mit den neben der Hinweispflicht des § 6 Satz 2 KSchG bestehenden Hinweis- und Fragepflichten des Arbeitsge-richts gemäß § 139 ZPO und dem von den Gerichten zu beachtenden Grund-satz „iura novit curia“ genügt § 6 Satz 1 KSchG den verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine Präklusion. a) Hinweise des Arbeitsgerichts auf konkrete Unwirksamkeitsgründe sind, wie ausgeführt, unter dem Gesichtspunkt des § 6 Satz 2 KSchG nicht geboten. Das gilt auch dann, wenn im weiteren Verlauf des erstinstanzlichen Verfahrens deutlich wird, dass Unwirksamkeitsgründe in Betracht kommen, auf die sich der Arbeitnehmer bisher nicht berufen hat. Die Pflicht zu derartigen Hinweisen kann sich allerdings aus der in § 139 ZPO geregelten materiellen Prozessleitungs-pflicht des Gerichts ergeben, etwa wenn nicht hinreichend deutlich wird, ob eine Partei sich mit ihrem Vorbringen auf einen bestimmten Unwirksamkeitsgrund berufen will. Aus § 139 Abs. 2 ZPO ergibt sich die Pflicht zum Führen eines Rechtsgesprächs. Darin muss das Gericht unter anderem dann auf einen Gesichtspunkt hinweisen und Gelegenheit zur Stellungnahme geben, wenn eine Partei diesen Gesichtspunkt erkennbar übersehen hat (BAG 24. Januar 2007 - 4 AZR 28/06 - Rn. 37, ZTR 2007, 502). b) Darüber hinaus hat das Gericht Unwirksamkeitsgründe, deren Vorlie-gen sich aus dem Vortrag einer der Parteien ergibt, von Amts wegen zu be-rücksichtigen. Nach allgemeinen zivilprozessualen Regeln ist ein Klageantrag - unter Beachtung des Streitgegenstands - unter allen aufgrund des Sachvor-trags der Parteien in Betracht kommenden rechtlichen Gründen zu prüfen (iura novit curia). Auch unter Geltung der Dispositionsmaxime, wie sie im arbeitsge-richtlichen Verfahren gilt, ist es nicht in das Belieben des Klägers gestellt, auf welche materiell-rechtlichen Vorschriften er sein Begehren stützen will. Er bestimmt mit seinem Antrag vielmehr lediglich den Streitgegenstand, die recht-liche Subsumtion ist Aufgabe des Gerichts (vgl. BSG 20. Oktober 2010 - B 13 R 63/10 B - Rn. 22, SozR 4-1500 § 153 Nr. 11 für das sozialgerichtliche Verfah-ren). Seit dem 1. Januar 2004 ist, wie ausgeführt, Streitgegenstand der nach 25 26 - 12 - 6 AZR 407/10 - 13 - § 4 KSchG erhobenen Klage die (Un-)Wirksamkeit der Kündigung als solche unter allen in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten mit Ausnahme der Wahrung der Schriftform. Wenn sich demnach aus dem Sachvortrag der Parteien - auch des Arbeitgebers als Beklagtem - ergibt, dass die Kündigung unter einem bisher von keiner Partei ausdrücklich angeführten rechtlichen, vom Streitgegenstand der Kündigungsschutzklage erfassten Gesichtspunkt unwirk-sam ist, muss sich der Arbeitnehmer nicht ausdrücklich darauf berufen, um im Rechtsstreit unter diesem rechtlichen Gesichtspunkt zu obsiegen (vgl. Eylert NZA 2012, 9, 10; Bayreuther ZfA 2005, 391, 392; Bender/Schmidt NZA 2004, 358, 365; Bader NZA 2004, 65, 69). Lediglich unter dem Gesichtspunkt der Wahrung des rechtlichen Gehörs des Gegners kann vor einer entsprechenden Entscheidung ein Hinweis des Gerichts nach § 139 ZPO auf seine Rechtsauf-fassung geboten sein. 5. Der Klägerin war die Rüge einer fehlerhaften Anhörung des Betriebs-rats nach § 102 BetrVG in der Berufungsinstanz abgeschnitten. Das Arbeitsge-richt hat, wie ausgeführt, seiner Hinweispflicht nach § 6 Satz 2 KSchG genügt. Mit dem Hinweis, dass „nur“ bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung weitere Unwirksamkeitsgründe geltend gemacht werden könnten, ist es über die Hinweispflicht sogar hinausgegangen. Die Klägerin hat im Berufungsverfah-ren auch nicht geltend gemacht, das erstinstanzliche Urteil sei verfahrensfeh-lerhaft zustande gekommen, weil das Arbeitsgericht die ihm nach § 139 ZPO obliegende Hinweispflicht verletzt habe (zu den Anforderungen an die Darle-gung eines solchen Verfahrensverstoßes im Berufungsverfahren BAG 17. Januar 2007 - 7 AZR 20/06 - BAGE 121, 18). Daher kann dahinstehen, ob das Arbeitsgericht Anlass zu einem solchen Hinweis gehabt hätte. III. Auch die von der Klägerin im Zusammenhang mit der Erstattung der Massenentlassungsanzeige durch den Beklagten erhobenen Rügen verhelfen der Klage nicht zum Erfolg. 27 28 - 13 - 6 AZR 407/10 - 14 - 1. Der Senat hat bisher offengelassen, ob Rechtsfolge eines Verstoßes gegen die den Arbeitgeber aus § 17 KSchG treffenden Pflichten die Unwirk-samkeit der Kündigung ist oder ob es dem Arbeitgeber lediglich verwehrt ist, die Kündigung zu vollziehen (zuletzt ausführlich mit Nachweisen zum Streitstand 7. Juli 2011 - 6 AZR 248/10 - Rn. 19, EzA BetrVG 2001 § 26 Nr. 3; differenzie-rend je nach konkretem Fehler des Arbeitgebers bei der Massenentlassungs-anzeige Schramm/Kuhnke NZA 2011, 1071, 1074). Folgte man dem zweiten Ansatz, wäre § 6 KSchG auf die Rüge des § 17 KSchG nicht anzuwenden (in diesem Sinne Bender/Schmidt NZA 2004, 358, 363). Das Landesarbeitsgericht hat im Rahmen seiner Hilfsbegründung ohne Rechtsfehler angenommen, dass der Beklagte die Pflichten aus § 17 KSchG, die auch für den Insolvenzverwalter gelten (BAG 7. Juli 2011 - 6 AZR 248/10 - aaO; vgl. auch EuGH 3. März 2011 - C-235/10 ua. - Rn. 55, NZA 2011, 337), jedenfalls nicht verletzt hat. Die Rechtsfolge einer Verletzung der Pflichten aus § 17 KSchG kann deshalb weiter offenbleiben. 2. Ohne Erfolg rügt die Klägerin, der Beklagte habe gegen seine Konsulta-tionspflicht aus § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG verstoßen. Nach dieser Vorschrift hat der Arbeitgeber bei anzeigepflichtigen Entlassungen dem Betriebsrat rechtzeitig die zweckdienlichen Auskünfte zu erteilen und ihn schriftlich insbesondere über die in dieser Vorschrift genannten Umstände zu unterrichten. a) Der Arbeitnehmer ist darlegungs- und gegebenenfalls beweispflichtig für die tatsächlichen Voraussetzungen der Anzeigepflicht nach § 17 KSchG (st. Rspr. zuletzt BAG 24. Februar 2005 - 2 AZR 207/04 - AP KSchG 1969 § 17 Nr. 20 = EzA KSchG § 17 Nr. 14). Steht die Anzeigepflicht fest, hat der Arbeit-geber auf die konkrete Rüge des Arbeitnehmers die ordnungsgemäße Durch-führung des Verfahrens darzulegen und zu beweisen (ErfK/Kiel 12. Aufl. § 17 KSchG Rn. 40; Zwanziger Kommentar zum Arbeitsrecht der Insolvenzordnung 4. Aufl. § 125 Rn. 115). 29 30 31 - 14 - 6 AZR 407/10 - 15 - b) Verstöße gegen den gemäß § 17 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bis Nr. 6 KSchG erforderlichen Inhalt der Unterrichtung hat die Klägerin nicht hinreichend gerügt. aa) In § 8 des Interessenausgleichs hat der Betriebsrat erklärt, rechtzeitig und umfassend über die anzeigepflichtigen Entlassungen unterrichtet worden zu sein. Das allein genügte zum Nachweis der Erfüllung der Konsultationspflicht nach § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG allerdings noch nicht (aA unter Berufung auf BAG 7. Juli 2011 - 6 AZR 248/10 - EzA BetrVG 2001 § 26 Nr. 3; Schramm/ Kuhnke NZA 2011, 1071, 1074, die jedoch übersehen, dass im dortigen Revi-sionsverfahren Fehler des Arbeitgebers im Konsultationsverfahren nicht Gegen-stand von Revisionsangriffen waren). Der Interessenausgleich und das Konsul-tationsverfahren beziehen sich zwar auf dieselbe mitbestimmungspflichtige Angelegenheit und sind eng miteinander verwoben. Es handelt sich jedoch nicht um ein einheitliches Verfahren. Auch bei Vorliegen eines Interessenaus-gleichs iSd. § 1 Abs. 5 Satz 1 KSchG ist der Arbeitgeber deshalb nicht von der Konsultationspflicht des § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG entbunden, die Unterrich-tung des Betriebsrat unterliegt keinen erleichterten Anforderungen. Insoweit gilt nichts anderes als für die Anhörung des Betriebsrats nach § 102 BetrVG im Rahmen eines Interessenausgleichsverfahrens (vgl. dazu BAG 22. Januar 2004 - 2 AZR 111/02 - Rn. 71, AP BetrVG 1972 § 112 Namensliste Nr. 1 = EzA KSchG § 1 Interessenausgleich Nr. 11). Soweit allerdings die gegenüber dem Betriebsrat bestehenden Pflichten aus § 111 BetrVG mit denen aus § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG und § 102 Abs. 1 BetrVG übereinstimmen, kann der Arbeitgeber sie gleichzeitig erfüllen (KR/Weigand 9. Aufl. § 17 KSchG Rn. 70). Dass und welche Verfahren gleich-zeitig durchgeführt werden sollen, muss dabei hinreichend klargestellt werden (KR/Weigand aaO; Schaub/Linck ArbR-Hdb. 14. Aufl. § 142 Rn. 25; Schramm/ Kuhnke NZA 2011, 1071, 1073). 32 33 34 - 15 - 6 AZR 407/10 - 16 - bb) Die Revision rügt, dem Betriebsrat sei entgegen § 17 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 KSchG nicht mitgeteilt worden, welche Berufsgruppen von der Maßnahme erfasst seien. (1) Es erscheint bereits zweifelhaft, ob eine solche fehlerhafte Unterrich-tung in Fällen wie dem vorliegenden, bei denen ohnehin alle Arbeitnehmer entlassen werden sollen, für den Arbeitgeber nachteilige Rechtsfolgen nach sich zieht (verneinend Schramm/Kuhnke NZA 2011, 1071, 1074; vgl. auch ErfK/Kiel 12. Aufl. § 17 KSchG Rn. 36). Die Unterrichtungspflicht nach § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG soll es dem Betriebsrat ermöglichen, „konstruktive Vor-schläge“ zu unterbreiten (KR/Weigand 9. Aufl. § 17 KSchG Rn. 56 unter Bezug auf Art. 2 Abs. 3 Satz 1 der Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassun-gen - MERL). Unterrichtet der Arbeitgeber den Betriebsrat nicht über die Be-rufsgruppen der zu entlassenden Arbeitnehmer, kann dies bei der Entlassung aller Arbeitnehmer keine Folgen für diese Prüfung durch den Betriebsrat haben und sich der Fehler nicht zu Lasten der betroffenen Arbeitnehmer auswirken. (2) Diese Frage kann jedoch dahinstehen, denn erst auf eine konkrete Rüge der Klägerin in den Tatsacheninstanzen hin hätte der Beklagte darlegen müssen, inwieweit er den Betriebsrat über die betroffenen Berufsgruppen informiert hat. Die Klägerin hat aber in den Tatsacheninstanzen nicht konkret gerügt, dass der Beklagte seiner Unterrichtungspflicht nach § 17 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 KSchG nicht nachgekommen sei, sondern dies erstmals in der Revisions-instanz geltend gemacht. Darum kommt es auch nicht darauf an, ob der Beklag-te, wie im Unterrichtungsschreiben vom 25. Juni 2009 angedeutet, die Massen-entlassungsanzeige dem Betriebsrat hat zukommen lassen, aus der sich die betroffenen Berufsgruppen ergaben, und ob dies den Anforderungen des § 17 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 KSchG genügen würde. c) Soweit die Revision die fehlende Schriftform des Interessenausgleichs im Zusammenhang mit den Pflichten des Arbeitgebers aus § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG rügt, verhilft ihr auch dies nicht zum Erfolg. 35 36 37 38 - 16 - 6 AZR 407/10 - 17 - aa) Die Vorlage des Interessenausgleichs mit Namensliste ersetzt aller-dings nur die Stellungnahme des Betriebsrats gegenüber der Agentur für Arbeit. Erforderlich ist daneben noch die schriftliche Unterrichtung des Betriebsrats nach § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG. Der Interessenausgleich macht diese schriftli-che Unterrichtung nicht entbehrlich (Linck in HK-InsO 6. Aufl. § 125 Rn. 41; vgl. auch Schramm/Kuhnke NZA 2011, 1071, 1072). bb) Die Klägerin stellt im Zusammenhang mit ihrer Rüge der Nichteinhal-tung der Schriftform nach § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG nur auf die fehlende Schriftform des Interessenausgleichs selbst ab. Auf diesen kommt es im Zu-sammenhang mit § 17 Abs. 2 KSchG jedoch nicht an. Maßgeblich ist die Schriftform der Unterrichtung selbst. In dem von ihm unterzeichneten Unterrich-tungsschreiben vom 25. Juni 2009 hat der Beklagte auf eine Liste der zur Entlassung vorgesehenen Arbeitnehmer und die „Anlage zur Anzeige von Entlassungen“ verwiesen. Beide Unterlagen sind ausweislich des Schreibens diesem beigefügt gewesen, befinden sich jedoch nicht in der Akte. Im Übrigen hat der Beklagte im Unterrichtungsschreiben auf den Interessenausgleich Bezug genommen. Ob für die Unterrichtung nach § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG die gesetzliche Schriftform nach § 126 BGB einzuhalten ist (so KR/Weigand 9. Aufl. § 17 KSchG Rn. 56; ErfK/Kiel 12. Aufl. § 17 KSchG Rn. 20, 28; APS/Moll 4. Aufl. § 17 KSchG Rn. 70; v. Hoyningen-Huene/Linck KSchG 14. Aufl. § 17 Rn. 56; Schrader in Schwarze/Eylert/Schrader KSchG § 17 Rn. 52; Stahlha-cke/Vossen 10. Aufl. Rn. 1653; Thüsing/Laux/Lembke/Lembke/Oberwinter KSchG 2. Aufl. § 17 Rn. 82 wollen das Schriftformerfordernis „etwas weiter auslegen“ und die Unterrichtung per Fax oder E-Mail ausreichen lassen), kann dahinstehen. Darum kann ebenfalls offenbleiben, ob der Beklagte bejahenden-falls mit seiner Verfahrensweise nach der sog. „Auflockerungsrechtsprechung“ die erforderliche Einheit der Urkunde gewahrt hat, weil die Anlagen in der Haupturkunde so genau bezeichnet worden waren, dass eine zweifelsfreie Zuordnung möglich war, so dass die Unterzeichnung der beigefügten Anlagen selbst zur Wahrung der gesetzlichen Schriftform nicht erforderlich war (vgl. BGH 29. September 2004 - VIII ZR 341/03 - zu II 2 a der Gründe, ZMR 2004, 901; grundlegend BGH 30. Juni 1999 - XII ZR 55/97 - BGHZ 142, 158, 161). 39 40 - 17 - 6 AZR 407/10 - 18 - Dazu wäre ein Abgleich mit den im Unterrichtungsschreiben in Bezug genom-menen, nicht in der Akte befindlichen Anlagen erforderlich gewesen. Insoweit fehlt es jedoch an Revisionsangriffen der Klägerin. Darum kommt es auch nicht darauf an, welche Rechtsfolge ein Verstoß gegen die Schriftform der Unterrich-tung hätte, wenn der Betriebsrat wie hier eine Stellungnahme abgegeben hat (für eine Unschädlichkeit des Formverstoßes KR/Weigand aaO Rn. 65 mwN). 3. Entgegen der Ansicht der Revision hat der der Anzeige beigefügte Interessenausgleich mit Namensliste vom 24. Juni 2009 gemäß § 125 Abs. 2 InsO die nach § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG erforderliche Stellungnahme des Betriebsrats ersetzt, obwohl zum damaligen Zeitpunkt das Original des Interes-senausgleichs nur vom Betriebsrat unterzeichnet war und damit nicht dem Schriftformerfordernis des § 112 Abs. 1 BetrVG genügte. a) Bereits der Wortlaut des § 125 Abs. 2 InsO iVm. § 125 Abs. 1 InsO spricht dafür, dass der Interessenausgleich mit Namensliste bereits dann die Stellungnahme des Betriebsrats nach § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG ersetzt, wenn er lediglich vom Betriebsrat unterzeichnet, aber noch nicht formwirksam iSv. § 112 Abs. 1 Satz 1 BetrVG iVm. §§ 125, 126 BGB geschlossen worden ist. § 125 Abs. 2 InsO stellt mit dem Verweis auf Abs. 1 dieser Bestimmung klar, dass die Ersetzungswirkung bereits dann eintritt, wenn der Interessenausgleich „zustande“ gekommen ist. § 112 Abs. 1 Satz 1 BetrVG, der den Interessenaus-gleich regelt, unterscheidet zwischen dessen Zustandekommen („Kommt zwischen Unternehmer und Betriebsrat ein Interessenausgleich über die ge-plante Betriebsänderung zustande“) - also der Einigung zwischen den Betriebs-parteien - und dessen formgerechter Niederlegung („so ist dieser schriftlich niederzulegen und vom Unternehmer und Betriebsrat zu unterschreiben“). Danach ist ein Interessenausgleich mit Namensliste bereits zustande gekom-men, wenn er nicht in der gesetzlichen Schriftform niedergelegt worden ist. Er ist lediglich (noch) nicht wirksam (vgl. BAG 9. Juli 1985 - 1 AZR 323/83 - BAGE 49, 160, 166 f.). 41 42 - 18 - 6 AZR 407/10 - 19 - b) Auch nach Sinn und Zweck des § 125 Abs. 2 InsO iVm. § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG reicht es aus, wenn lediglich der Betriebsrat mit der Unterschrift unter den Interessenausgleich mit Namensliste dokumentiert hat, dass das Konsultationsverfahren abgeschlossen ist (vgl. ErfK/Kiel 12. Aufl. § 17 KSchG Rn. 32). aa) § 125 Abs. 2 InsO soll dem Insolvenzverwalter Massenentlassungen erleichtern. Die Vorschrift dient der Beschleunigung des Verfahrens bei Mas-senentlassungen und lässt es deshalb ausreichen, dass der Insolvenzverwalter seiner schriftlichen Anzeige der Massenentlassung eine Ausfertigung des Interessenausgleichs mit Namensliste beifügt. Die Norm bezweckt damit mög-lichst schnelle Sanierungen und will Verzögerungen bei der Abwicklung der Rechtsverhältnisse des Schuldners vermeiden (BAG 7. Juli 2011 - 6 AZR 248/10 - Rn. 22, EzA BertrVG 2001 § 26 Nr. 3). Mit diesen Zielen der Vereinfa-chung und Beschleunigung stünde es - insbesondere bei großen räumlichen Entfernungen zwischen dem Betriebssitz und dem Sitz des Insolvenzverwalters wie im vorliegenden Fall - nicht im Einklang, die Ersetzungswirkung erst dann eingreifen zu lassen, wenn der Interessenausgleich mit Namensliste nicht nur zustande gekommen ist, sondern auch der Schriftform des § 112 Abs. 1 Satz 1 BetrVG genügt. bb) Sinn und Zweck der Anzeigepflicht nach § 17 Abs. 3 KSchG stehen dem nicht entgegen. § 17 KSchG dient dem Schutz der Arbeitnehmer vor den Folgen von Massenentlassungen. Die Agentur für Arbeit soll die Möglichkeit haben, rechtzeitig Maßnahmen zur Vermeidung oder wenigstens zur Verzöge-rung von Belastungen des Arbeitsmarktes einzuleiten und für anderweitige Beschäftigungen der Entlassenen zu sorgen (BAG 7. Juli 2011 - 6 AZR 248/10 - Rn. 27, EzA BetrVG 2001 § 26 Nr. 3). Die von § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG verlangte Beifügung der Stellungnahme des Betriebsrats soll gegenüber der Agentur für Arbeit belegen, ob und welche Möglichkeiten dieser sieht, die angezeigten Kündigungen zu vermeiden. Diesem Zweck ist bereits dann ge-nügt, wenn der Anzeige ein allein vom Betriebsrat unterzeichneter Interessen-ausgleich mit Namensliste beigefügt ist. Mit der Unterschrift durch ein vertre-43 44 45 - 19 - 6 AZR 407/10 - 20 - tungsberechtigtes Mitglied unter einen solchen Interessenausgleich hat der Betriebsrat seine Meinung zu der anstehenden Massenentlassung abschlie-ßend dokumentiert und zum Ausdruck gebracht, dass er das Konsultationsver-fahren als abgeschlossen ansieht. Er hat damit zugleich belegt, dass Kündi-gungen im aus dem Interessenausgleich ersichtlichen Umfang auch nach seiner Auffassung unvermeidlich sind sowie soziale Maßnahmen beraten und ggf. getroffen worden sind (zu diesen Zwecken des § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG vgl. KR/Weigand 9. Aufl. § 17 KSchG Rn. 8; ErfK/Kiel 12. Aufl. § 17 KSchG Rn. 32). An diese Willensäußerung ist er gebunden (zur herrschenden Ver-tragstheorie und der Anwendbarkeit rechtsgeschäftlichen Vertragsrechts BAG 13. Februar 2007 - 1 AZR 184/06 - Rn. 37, BAGE 121, 168; 18. Februar 2003 - 1 ABR 17/02 - BAGE 105, 19, 27; Fitting 25. Aufl. § 77 Rn. 13; Kreutz GK-BetrVG 9. Aufl. § 77 Rn. 36). cc) Die gebotene richtlinienkonforme Auslegung des § 125 Abs. 2 InsO und des § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG anhand des Wortlauts und des Zwecks der MERL gibt kein anderes Ergebnis vor. (1) Die MERL enthält selbst keine Regelung, wonach der Anzeige der Massenentlassung eine Stellungnahme der Arbeitnehmervertretung in einer bestimmten Form beigefügt werden muss. Aus Art. 3 Abs. 1 Satz 3 MERL ergibt sich lediglich, dass die Anzeige der Massenentlassung alle zweckdienlichen Angaben über die beabsichtigte Massenentlassung und die Konsultation der Arbeitnehmervertreter gemäß Art. 2 MERL enthalten muss. (2) Der Senat ist nicht gehalten, dem Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) die Frage vorzulegen, ob die der Anzeige der Massenentlassung beizufügende Stellungnahme der Arbeitnehmervertretung der Schriftform des § 112 Abs. 1 Satz 1 BetrVG genügen muss, wenn die Stellungnahme in Gestalt eines Interessenausgleichs mit Namensliste erfolgt. Diese Frage bedarf keiner Beantwortung durch den Gerichtshof der Europäischen Union am Maßstab des Gemeinschaftsrechts (zur Vorlagepflicht vgl. BVerfG 25. Februar 2010 - 1 BvR 230/09 - AP GG Art. 101 Nr. 65 = EzA KSchG § 17 Nr. 21). Sie betrifft nicht die 46 47 48 - 20 - 6 AZR 407/10 - 21 - Auslegung von Unionsrecht, sondern ausschließlich die Anwendung nationalen Rechts. Ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG aufgrund einer unterblie-benen Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union liegt nicht vor, wenn die unionsrechtliche Rechtslage klar ist und nur die Rechtslage nach nationa-lem Recht ungeklärt und umstritten ist (BVerfG 25. Februar 2010 - 1 BvR 230/09 - aaO). (3) Aus der von der Revision angeführten Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften vom 10. September 2009 (- C-44/08 - [Akavan Erityisalojen Keskusliitto] Rn. 70, Slg. 2009, I-8163) folgt nichts ande-res. Zwar können danach Kündigungen erst nach Abschluss des Konsultations-verfahrens erklärt werden, und die Klägerin nimmt an, das Konsultationsverfah-ren könne erst dann als abgeschlossen gelten, wenn der Interessenausgleich in der erforderlichen Schriftform vorliege, weil dieser nach dem Vortrag des Beklagten den Abschluss des Konsultationsverfahrens habe dokumentieren sollen. Das trifft jedoch nicht zu. Bereits mit der Unterschrift durch ein vertre-tungsberechtigtes Mitglied unter den Interessenausgleich mit Namensliste, an die der Betriebsrat, wie ausgeführt, gebunden war, hatte der Betriebsrat doku-mentiert, dass aus seiner Sicht das Konsultationsverfahren abgeschlossen war. (4) Der aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (25. Februar 2010 - 1 BvR 230/09 - AP GG Art. 101 Nr. 65 = EzA KSchG § 17 Nr. 21) von der Revision gezogene Schluss, wenn bereits das Nachreichen einer Stellung-nahme des Betriebsrats bei der Agentur für Arbeit gegen die MERL verstoßen könne, führe denklogisch die fehlende Einreichung einer Stellungnahme des Betriebsrats iSv. § 17 Abs. 3 Satz 2 und Satz 3 KSchG zu einer nicht ord-nungsgemäßen Massenentlassungsanzeige, verfängt nicht. Wie ausgeführt, ist der nur vom Betriebsrat unterzeichnete Interessenausgleich mit Namensliste als Stellungnahme iSv. Art. 3 Abs. 1 Satz 3 MERL anzusehen. 4. Der Umstand, dass im Anschreiben an die Agentur für Arbeit aufgrund eines Kanzleiversehens auf einen Interessenausgleich vom 2. Juni 2009 Bezug genommen worden ist, führt ebenfalls nicht zur Unwirksamkeit der Anzeige. Es handelt sich um ein offensichtliches Büroversehen, das keinen Einfluss auf die 49 50 51 - 21 - 6 AZR 407/10 Prüfung der Agentur für Arbeit haben konnte. Der maßgebliche Interessenaus-gleich vom 24. Juni 2009 war der Anzeige an die Agentur für Arbeit beigefügt, so dass das Versehen offenkundig war. IV. Die Klägerin hat gemäß § 97 ZPO die Kosten der Revision zu tragen. Fischermeier Brühler Spelge Oye Uwe Zabel 52

Full & Egal Universal Law Academy