6 Ni 8/17 (EP) - 6. Senat (Nichtigkeit)
Karar Dilini Çevir:

BPatG 253
08.05

BUNDESPATENTGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES

6 Ni 8/17 (EP)
(Aktenzeichen)

URTEIL


Verkündet am
28. Juni 2017





In der Patentnichtigkeitssache




- 2 -
betreffend das europäische Patent 1 697 061
(DE 50 2004 006 357)


hat der 6. Senat (Nichtigkeitssenat) des Bundespatentgerichts auf die mündliche
Verhandlung vom 28. Juni 2017 durch die Vorsitzende Richterin Friehe sowie die
Richter Schwarz und Dipl.-Phys. Dr. Schwengelbeck, die Richterin
Dipl.-Phys. Dr. Otten-Dünnweber und den Richter Dr.-Ing. Flaschke

f ü r R e c h t e r k a n n t :

I. Das europäische Patent 1 697 061 wird mit Wirkung für das
Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland teilweise für
nichtig erklärt, soweit es über folgende Fassung hinausgeht:

1. Verfahren zum Erkennen einer auf einem Substrat
aufzubringenden Struktur vorzugsweise eine Kleber-
raupe oder Kleberspur, mit mindestens zwei Kameras,
insbesondere drei oder mehrere Kameras, dadurch
gekennzeichnet, dass
die aufzubringende Struktur von einer Auftragsein-
richtung auf das Substrat aufgebracht wird,
und die durch die Auftragseinrichtung auf dem Sub-
strat aufgebrachte Struktur von den Kameras derart
überwacht wird, dass
die Kameras mit zumindest einem Überlappungsbe-
reich auf die aufgebrachte Struktur ausgerichtet sind,
wobei die aufgebrachte Struktur, insbesondere die
Kanten der Kleberspur, auf einer umlaufenden Bahn
um die Auftragseinrichtung ermittelt wird, und wobei
die umlaufende Bahn derart vordefiniert ist, dass die
- 3 -
aufgebrachte Struktur nach dem Aufbringen auf dem
Substrat die umlaufende Bahn schneidet,
dadurch gekennzeichnet, dass jede Kamera ein
Segment der umlaufenden Bahn im wesentlichen in
Form einer Kreisbahn unter Bildung eines kreisförmi-
gen Calipers überwacht und wobei die Winkelwerte
der Kreisbahn von 0 bis 360 ° ein globales Koordina-
tensystem bilden, wobei den Bildern der einzelnen
Kameras ein Segment der Kreisbahn mit jeweils an-
grenzenden Überlappungsbereichen zugeordnet wird,
wobei bei dem Verlauf der Kleberspur von einer Ka-
mera zur nächsten automatisch umgeschaltet wird,
wenn die Kleberspur von dem Segment der Kreisbahn
einer Kamera über den Überlappungsbereich in das
Segment der Kreisbahn einer anderen Kamera ver-
läuft.

2. Verfahren nach Anspruch 1, dadurch gekennzeich-
net, dass die umlaufende Bahn zur Ermittlung der
Kleberspur eine geschlossene Form um die Auftrags-
einrichtung bildet, wobei die Kleberspur auf der um-
laufenden Bahn auf dem Substrat gemäß einer Pro-
jektion überwacht wird.

3. Verfahren nach Anspruch 1 oder 2, dadurch gekenn-
zeichnet, dass die Kleberspur auf der umlaufenden
Bahn in Form eines im Wesentlichen kreisförmigen
Calipers ermittelt wird.

4. Verfahren nach Anspruch 1 oder 2, dadurch gekenn-
zeichnet, dass die Kleberspur auf der umlaufenden
- 4 -
Bahn im wesentlichen in elliptischer, polygonaler Form
oder als Linienzug ermittelt wird.

5. Verfahren nach einem der vorhergehenden Ansprü-
che 1 bis 4, dadurch gekennzeichnet, dass der Mit-
telpunkt oder das Zentrum der umlaufenden Bahn im
wesentlichen mit der Stelle übereinstimmt, welche der
von der Auftragseinrichtung bezüglich der Kleberspur
projizierten Stelle auf dem Substrat entspricht.

6. Verfahren nach einem der vorhergehenden Ansprü-
che 1 bis 5, dadurch gekennzeichnet, dass drei
Kameras die aufgebrachte Struktur mit jeweils einem
Überlappungsbereich zur benachbarten Kamera um
die Auftragseinrichtung auf der umlaufenden Bahn
überwachen.

7. Verfahren nach einem der vorhergehenden Ansprü-
che 1 bis 6, dadurch gekennzeichnet, dass jede
Kamera einen Teil der umlaufenden Bahn derart
überwacht, dass die einzelnen Teile der umlaufenden
Bahn der Kameras gemeinsam mit den Überlap-
pungsbereichen eine geschlossene umlaufende Bahn
bilden, welche als Überwachungsbereich um die Auf-
tragseinrichtung auf dem Substrat umlaufend verläuft.

8. Verfahren nach einem der vorhergehenden Ansprü-
che 1 bis 7, dadurch gekennzeichnet, dass eine
erste Kamera mindestens einen Winkelbereich von -
10° bis 130°, eine zweite Kamera mindestens einen
Winkelbereich von 110° bis 250° und eine dritte Ka-
- 5 -
mera mindestens einen Winkelbereich von 230° bis
10° abdeckt.

9. Verfahren nach einem der Ansprüche 1 bis 8,
dadurch gekennzeichnet, dass von jeder Kamera
lediglich ein Streifen des Kamerabildes zur Bildung ei-
ner Bildsequenz aus den einzelnen Streifen der Ka-
merabilder verarbeitet wird, wobei die geschlossene
umlaufende Bahn aus den Streifen der einzelnen Ka-
merabilder zusammengefügt wird.

10. Verfahren nach einem der Ansprüche 1 bis 9,
dadurch gekennzeichnet, dass eine Kalibrierung der
einzelnen Kameras zur Zuordnung der Winkelzugehö-
rigkeit vorgenommen wird, wobei insbesondere ein
Kreisbogen oder eine Kreisbahn der Kalibriervorrich-
tung mit Markierungsstellen bei 0°, 120° und 240° für
3 Kameras verwendet wird.

11. Vorrichtung zum Erkennen einer auf einem Substrat
aufzubringenden Struktur, vorzugsweise eine Kleber-
raupe oder Kleberspur, zur Durchführung eines Ver-
fahrens gemäß den Ansprüchen 1 bis 10, wobei zu-
mindest ein Beleuchtungsmodul und eine Sensorein-
heit vorgesehen ist, dadurch gekennzeichnet, dass
die Sensoreinheit aus mindestens zwei Kameras, ins-
besondere drei oder mehreren Kameras, auf- gebaut
ist, wobei die Kameras um die Einrichtung zum Auf-
tragen der Struktur vorgesehen sind und an dieser
derart angeordnet sind, dass die Kameras jeweils auf
die Einrichtung zum Auftragen der Struktur ausge-
richtet sind, wobei die Kameras mit zumindest einem
- 6 -
Überlappungsbereich auf die aufgebrachte Struktur
ausgerichtet sind, wobei die aufgebrachte Struktur,
insbesondere die Kanten der Kleberspur, auf einer
umlaufenden Bahn um die Auftragseinrichtung ermit-
telt wird, und wobei die umlaufende Bahn derart vor-
definiert ist, dass die aufgebrachte Struktur nach dem
Aufbringen auf dem Substrat die umlaufende Bahn
schneidet, wobei jede Kamera einen Teil der umlau-
fenden Bahn derart überwacht, dass die einzelnen
Teile der umlaufenden Bahn der Kameras gemeinsam
mit den Überlappungsbereichen eine geschlossene
umlaufende Bahn im wesentlichen in Form einer
Kreisbahn unter Bildung eines kreisförmigen Calipers
bilden, welche als Überwachungsbereich auf dem
Substrat um die Auftragseinrichtung umlaufend ver-
läuft, und wobei die Winkelwerte der Kreisbahn von 0
bis 360 ° ein globales Koordinatensystem bilden, wo-
bei den Bildern der einzelnen Kameras ein Segment
der Kreisbahn mit jeweils angrenzenden Überlap-
pungsbereichen zugeordnet wird, wobei bei dem Ver-
lauf der Kleberspur von einer Kamera zur nächsten
automatisch umgeschaltet wird, wenn die Kleberspur
von dem Segment der Kreisbahn einer Kamera über
den Überlappungsbereich in das Segment der Kreis-
bahn einer anderen Kamera verläuft.

12. Vorrichtung nach Anspruch 11, dadurch
gekennzeichnet, dass sich die axiale Längsachsen
der einzelnen Kameras in Blickrichtung im wesentli-
chen mit der axialen Längsachse der Auftragseinrich-
tung schneidet.

- 7 -
13. Vorrichtung nach Anspruch 11 oder 12, dadurch ge-
kennzeichnet, dass die einzelnen Kameras, insbe-
sondere drei Kameras, in Umfangsrichtung in jeweils
gleichem Abstand voneinander angeordnet sind.

14. Vorrichtung nach einem der Ansprüche 11 bis 13,
dadurch gekennzeichnet, dass die einzelnen Kame-
ras derart verschaltet werden, dass die Bilder aller
Kameras in einer Bildersequenz gespeichert werden.

15. Vorrichtung nach Anspruch 14, dadurch
gekennzeichnet, dass von jeder Kamera lediglich ein
Streifen des Bildes unter Bildung eines Teils der
Bildsequenz aufgenommen wird.

16. Vorrichtung nach einem der Ansprüche 11 bis 15,
dadurch gekennzeichnet, dass die Kameras die
umlaufende Bahn im wesentlichen in Form eines
kreisförmigen Calipers bilden.

17. Vorrichtung nach einem der Ansprüche 11 bis 16,
dadurch gekennzeichnet, dass der Mittelpunkt oder
das Zentrum des kreisförmigen Calipers im wesentli-
chen mit der Stelle übereinstimmt, welche der Längs-
achse der Auftragseinrichtung auf dem Substrat ent-
spricht.

18. Vorrichtung nach einem der vorhergehenden Ansprü-
che 11 bis 17, dadurch gekennzeichnet, dass die
einzelnen Kameras einen Überlappungsbereich von
jeweils mindestens 10°, insbesondere 30° bis 90°, zur
nächsten Kamera aufweisen.
- 8 -
19. Vorrichtung nach einem Ansprüche 11 bis 18,
dadurch gekennzeichnet, dass zur Kalibrierung der
einzelnen Kameras für die Zuordnung der Winkelzu-
gehörigkeit eine Kalibriervorrichtung mit einzelnen
Formelementen verwendet wird, wobei die Formele-
mente insbesondere einen Winkelabstand von im we-
sentlichen 10° aufweisen.

20. Vorrichtung nach Anspruch 19, dadurch
gekennzeichnet, dass die Kalibriervorrichtung zu-
mindest drei Markierungsstellen aufweist, die in einem
Kreisbogen der Kalibriervorrichtung von im wesentli-
chen 0°, 120° und 240° angeordnet sind, um drei Ka-
meras zu kalibrieren.

21. Vorrichtung nach Anspruch 20, dadurch
gekennzeichnet, dass sich die Markierungsstellen
auf der Kreisbahn in einem Winkelbereich von jeweils
im wesentlichen 10° erstrecken, wobei die Markie-
rungsstellen insbesondere durch zumindest zwei
Formelemente gebildet werden.

II. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

III. Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Klägerin zu 3/4 und
die Beklagte zu 1/4.

IV. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu
vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

- 9 -
T a t b e s t a n d

Die Beklagte ist eingetragene Inhaberin des deutschen Patents 1 697 061 (Streit-
patent). Das Streitpatent beruht auf der internationalen Anmeldung
PCT/EP2004/014697 vom 23. Dezember 2004, die als WO 2005/063407 am
14. Juli 2005 veröffentlicht wurde. Die unter Inanspruchnahme der Priorität aus der
deutschen Anmeldung DE 103 61 018 vom 23. Dezember 2003 erfolgte Erteilung
wurde am 27. Februar 2008 in der Verfahrenssprache Deutsch veröffentlicht.

Das beim Deutschen Patent- und Markenamt unter dem Aktenzeichen
DE 50 2004 006 357 geführte Streitpatent trägt die Bezeichnung

„VERFAHREN ZUM ERKENNEN EINER AUF EINEM SUBSTRAT
AUFZUBRINGENDEN STRUKTUR MIT MEHREREN KAMERAS SOWIE EINE
VORRICHTUNG HIERFÜR“

und umfasst in der erteilten Fassung 22 Patentansprüche, die mit der am
15. September 2015 eingegangenen Nichtigkeitsklage in vollem Umfang angegrif-
fen werden.

Die angegriffenen unabhängigen Patentansprüche 1 und 12 lauten in der erteilten
Fassung unter Beifügung einer vom Senat vorgenommenen Merkmalsgliederung
wie folgt:

Anspruch 1:

M1 Verfahren zum Erkennen einer auf einem Substrat aufzubringenden
Struktur, vorzugsweise eine Kleberraupe oder Kleberspur,
M2 mit mindestens zwei Kameras, insbesondere drei oder mehrere
Kameras,

- 10 -
dadurch gekennzeichnet, dass
M3 die aufzubringende Struktur von einer Auftragseinrichtung auf das
Substrat aufgebracht wird, und
M4 die durch die Auftragseinrichtung auf dem Substrat aufgebrachte
Struktur von den Kameras derart überwacht wird, dass die Kameras
mit zumindest einem Überlappungsbereich auf die aufgebrachte
Struktur ausgerichtet sind,
M5 wobei die aufgebrachte Struktur, insbesondere die Kanten der
Kleberspur, auf einer umlaufenden Bahn um die Auftragseinrichtung
ermittelt wird, und
M6 wobei die umlaufende Bahn derart vordefiniert ist, dass die aufge-
brachte Struktur nach dem Aufbringen auf dem Substrat die umlau-
fende Bahn schneidet,
dadurch gekennzeichnet, dass
M7 jede Kamera ein Segment der umlaufenden Bahn im wesentlichen in
Form einer Kreisbahn
M8 unter Bildung eines kreisförmigen Calipers überwacht und
M9 wobei die Winkelwerte der Kreisbahn von 0 bis 360 ° ein globales
Koordinatensystem bilden,
M10 wobei den Bildern der einzelnen Kameras ein Segment der Kreis-
bahn mit jeweils angrenzenden Überlappungsbereichen zugeordnet
wird.

Anspruch 12:

N1 Vorrichtung zum Erkennen einer auf einem Substrat aufzubringen-
den Struktur, vorzugsweise eine Kleberraupe oder Kleberspur, zur
Durchführung eines Verfahrens gemäß den Ansprüchen 1 bis 11,
wobei zumindest ein Beleuchtungsmodul und eine Sensoreinheit
vorgesehen ist,

- 11 -
dadurch gekennzeichnet, dass
N2 die Sensoreinheit aus mindestens zwei Kameras, insbesondere drei
oder mehreren Kameras, aufgebaut ist,
N3 wobei die Kameras um die Einrichtung zum Auftragen der Struktur
vorgesehen sind und an dieser derart angeordnet sind, dass die Ka-
meras jeweils auf die Einrichtung zum Auftragen der Struktur ausge-
richtet sind,
N4 wobei die Kameras mit zumindest einem Überlappungsbereich auf
die aufgebrachte Struktur ausgerichtet sind,
N5 wobei die aufgebrachte Struktur, insbesondere die Kanten der
Kleberspur, auf einer umlaufenden Bahn um die Auftragseinrichtung
ermittelt wird, und
N6 wobei die umlaufende Bahn derart vordefiniert ist, dass die aufge-
brachte Struktur nach dem Aufbringen auf dem Substrat die umlau-
fende Bahn schneidet,
N7 wobei jede Kamera einen Teil der umlaufenden Bahn derart über-
wacht, dass die einzelnen Teile der umlaufenden Bahn der Kameras
gemeinsam mit den Überlappungsbereichen eine geschlossene um-
laufende Bahn im wesentlichen in Form einer Kreisbahn
N8 unter Bildung eines kreisförmigen Calipers bilden, welche als
Überwachungsbereich auf dem Substrat um die Auftragseinrichtung
umlaufend verläuft, und
N9 wobei die Winkelwerte der Kreisbahn von 0 bis 360 ° ein globales
Koordinatensystem bilden,
N10 wobei den Bildern der einzelnen Kameras ein Segment der Kreis-
bahn mit jeweils angrenzenden Überlappungsbereichen zugeordnet
wird.

Die Ansprüche 2 bis 11 sind auf Anspruch 1, die Ansprüche 13 bis 22 auf An-
spruch 12 unmittelbar oder mittelbar rückbezogen.

- 12 -
Die Klägerin ist der Ansicht, dass der mit der Klage angegriffene Gegenstand des
Streitpatents mangels Ausführbarkeit und erfinderischer Tätigkeit gegenüber den
Druckschriften
NK5 (D3)

DE 203 07 305 U1, angemeldet am 9. Mai 2003 und ver-
öffentlicht am 28. August 2003

NK6 (D4)

Dr. A. F. Ribeiro: „Machine vision for industry”
NK6a Maschinenübersetzung von NK6


für nichtig zu erklären sei.
Darüber hinaus stützt sie ihr Vorbringen auch auf folgende Druckschriften:
NK4 US 6 571 006 B1

NK4a Maschinenübersetzung von NK4

NK7 Bibliografische Angaben zu D4 (NK6)

NK8 Kopie der Ausgabe Mechatronics Forum Newsletter Nr. 14
vom Frühling 1996

NK9 International Search Report zu PCT/EP2004/007964

NK10 Auszug aus: Euro Conference in Focused Aspects of
Mechatronics, Vision and Control Aspects of Mechatronics,
16.-21. September 1996

NK11 Übersetzung der NK6

NK12 Titelseite, bibliographische Angaben und Vorwort zu W. K.
Pratt: Digital image processing. In: Wiley-Interscience
- 13 -
Publication, 1978

NK13 Ausdruck der Internetseite der Gesellschaft zur Förderung
angewandter Informatik e.V.

NK14 K.-H. Franke und C. Lucht: Automatisierung der industriel-
len Warenschau bei komplex gemusterter Bahnenware –
eine Herausforderung an die Bildanalyse. In: 4. Workshop
Farbbildverarbeitung, 1998, Koblenzer Schriften zu Infor-
matik

NK17 DE 199 59 102 A1

NK18 Kopie eines Prospekts der Fa. Omron mit Datumsangabe
November 2003

D1 US 6 541 757 B2


Die Klägerin beantragt,

das europäische Patent EP 1 697 061 mit Wirkung für das
Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland für nichtig zu er-
klären.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen,
hilfsweise die Klage abzuweisen, soweit das Patent mit den Hilfs-
anträgen 1 und 2 vom 3. Mai 2017 verteidigt wird.

- 14 -
Wegen des Wortlauts von Hilfsantrag 1 wird auf den Tenor, wegen des Wortlauts
von Hilfsantrag 2 auf die Akte verwiesen.

Die Beklagte tritt der Argumentation der Klägerin entgegen und hält den Gegen-
stand des Streitpatents in der erteilten Fassung, hilfsweise in einer beschränkten
Fassung nach einem der beiden Hilfsanträge für schutzfähig.
Der Senat hat den Parteien einen qualifizierten Hinweis vom 29. März 2017 zu-
kommen lassen.


E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e

A.

Die zulässige Klage ist nur teilweise begründet. Denn das Streitpatent ist insoweit
für nichtig zu erklären, als mit der Klage gegenüber der erteilten Fassung der
Nichtigkeitsgrund der mangelnden Patentfähigkeit gemäß Artikel II § 6 Absatz 1
Nr. 1 IntPatÜG, Art. 138 Abs. 1 Buchst. a) EPÜ i. V. m. Art. 52, 56 EPÜ geltend
gemacht wird; demgegenüber ist die Klage teilweise abzuweisen, soweit sie sich
auch gegen die beschränkte Fassung nach Hilfsantrag 1 richtet, da sich das
Streitpatent in dieser zulässigen beschränkten Fassung als schutzfähig erweist.


I. Zum Gegenstand des Streitpatents

1. Darstellung laut Streitpatentschrift

Das Streitpatent betrifft ein Verfahren zum Erkennen einer auf einem Substrat auf-
zubringenden Struktur mit zumindest zwei bzw. mehreren Kameras sowie eine
entsprechende Vorrichtung hierfür.

- 15 -
Zum technischen Hintergrund führt die Streitpatentschrift in Absatz 0002 aus, her-
kömmlicherweise würden bislang zum Erkennen einer auf einem Substrat aufzu-
bringenden Struktur optische Vermessungen durchgeführt, wobei häufig verschie-
dene Systeme zur vollautomatischen Prüfung der Struktur, u. a. Klebstoff und
Dichtmittelraupen, verwendet würden. Hierzu würden mehrere Videokameras auf
die zu erkennende Struktur gerichtet, wobei zusätzlich ein Beleuchtungsmodul
erforderlich sei, das zur Erzeugung eines kontrastreichen Kamerabildes diene.

Wie die Streitpatentschrift in Absatz 0003 weiter ausführt, bestehe Bedarf nach
einem Verfahren zum Erkennen einer auf einem Substrat aufzubringenden Struk-
tur für zumindest zwei bzw. mehrere Kameras, welches eine Auftragsstruktur bzw.
Kleberspur mit hoher Genauigkeit und Geschwindigkeit während des Auftragens
überwache. Um eine fehlerfreie Überwachung mit mehreren Kameras zu ermögli-
chen, sei es von wesentlicher Bedeutung, dass die Bildauswertung der einzelnen
Kameras derart vorgenommen werde, dass die Software zur Bewertung der auf-
genommenen Bilder diese Daten in geeigneter Weise verarbeiten könne.

Als problematisch sieht die Streitpatentschrift laut Absatz 0004 ferner einen
bahnförmigen Verlauf der Kleberspur auf dem Substrat an, da die Kleberspur in
Abhängigkeit von der Bewegung der Auftragseinrichtung relativ zu dem Substrat
von dem Überwachungsbereich einer Kamera in den Überwachungsbereich einer
anderen Kamera wechsele.

Das Streitpatent stellt sich daher die Aufgabe, zum einen ein Verfahren zum Er-
kennen einer auf einem Substrat aufzubringenden Struktur für zumindest zwei
bzw. mehrere Kameras bereitzustellen, welches die Überwachung einer Auftrags-
struktur bzw. Kleberspur mit hoher Genauigkeit und Geschwindigkeit insbeson-
dere während des Auftragens der Kleberspur auf dem Substrat ermögliche (Ab-
satz 0007 der Streitpatentschrift), und zum anderen, eine geeignete Vorrichtung
zur Durchführung des erfindungsgemäßen Verfahrens bereitzustellen (Absatz
0008 der Streitpatentschrift).

- 16 -
Unter Bezugnahme auf den Stand der Technik nach den Dokumenten
US 6 541 757 B2 (Absatz 0005 der Streitpatentschrift) und US 5 402 A (Ab-
satz 0006 der Streitpatentschrift) sollen diese Aufgaben durch ein Verfahren mit
den Merkmalen von Anspruch 1 sowie durch eine Vorrichtung mit den Merkmalen
von Anspruch 12 (die Angabe „14“ in Absatz 0009 der Streitpatentschrift ist ein
offensichtlicher Schreibfehler) gelöst werden.

In Absatz 0010 der Streitpatentschrift wird das erfindungsgemäße Verfahren all-
gemein dahin beschrieben, dass die aufzubringende Struktur von einer Auftrags-
einrichtung auf das Substrat aufgebracht und daraufhin die durch die Auftragsein-
richtung auf dem Substrat aufgebrachte Struktur von den Kameras derart über-
wacht werde, dass die Kameras zumindest mit einem Überlappungsbereich auf
die aufgebrachte Struktur ausgerichtet seien, wobei die aufgebrachte Struktur,
insbesondere die Kanten der Kleberspur, auf einer umlaufenden Bahn übermittelt
werde, und wobei die umlaufende Bahn derart vordefiniert sei, dass die aufge-
brachte Struktur nach dem Aufbringen des Substrats die umlaufende Bahn
schneide. Die umlaufende Bahn bilde somit einen vorbestimmten und vordefinier-
ten Bereich um die Auftragseinrichtung, so dass die Klebstoffspur unabhängig
vom Verfahrweg des Roboters bzw. der Auftragseinrichtung überwacht werden
und in einfacherer Art und Weise mittels einer Software ausgewertet werden
könne. Dadurch könne die Auftragsstruktur bzw. Kleberspur mit hoher Geschwin-
digkeit während des Auftragens auf dem Substrat überwacht werden, insbeson-
dere wenn die Kameras ortsfest an der Auftragseinrichtung angeordnet seien, und
wenn die umlaufende Bahn zur Ermittlung der Kleberspur bzw. Kleberraupe eine
geschlossene Form um die Auftragseinrichtung bilde, wobei die Kleberspur auf der
umlaufenden Bahn auf dem Substrat gemäß einer Projektion überwacht werde.

Schematische Ansichten erfindungsgemäßer Ausführungsformen werden in den
Fig. 1 und 2 gezeigt:

- 17 -




2. Fachmännisches Verständnis des Streitpatents

Der zuständige Fachmann, bei dem es sich um einen Physiker oder Ingenieur
handelt, der über eine mehrjährige Erfahrung auf dem Gebiet der optischen
Messtechnik im Zusammenhang mit Bildverarbeitung verfügt, legt dem Streitpa-
tent folgendes Verständnis zu Grunde:

Mit dem erteilten Patentanspruch 1 des Streitpatents wird ein Verfahren zum Er-
kennen einer auf einem Substrat (vgl. Fig. 1, Bezugszeichen 30) aufzubringenden
Struktur bzw. Kleberspur / Kleberraupe (vgl. Bezugszeichen 20) mit zumindest
zwei bzw. mehreren Kameras (vgl. Bezugszeichen 12, 13 und 14) mit entspre-
chenden Kamera-Sensoreinheiten beansprucht (Merkmale M1 und M2); Pa-
tentanspruch 12 betrifft die entsprechende Vorrichtung hierfür (Merkmale N1 und
N2). Die aufzubringende Struktur wird von einer Auftragseinrichtung (Fig. 1 und 2,
Bezugszeichen 11) auf das Substrat aufgebracht (Merkmale M3 und N3). Dabei
soll die auf dem Substrat aufgebrachte Struktur von den Kameras derart über-
wacht werden, dass die Kameras zumindest mit einem Überlappungsbereich auf
die aufgebrachte Struktur ausgerichtet sind (vgl. Merkmale M4 und N4). Die auf-
- 18 -
gebrachte Struktur, insbesondere die Kanten der Kleberspur (Fig. 1, 2 und 4, Be-
zugszeichen 20), sollen auf einer umlaufenden Bahn übermittelt werden (Merk-
male M5 und N5). Die umlaufende Bahn soll hier derart vordefiniert sein, dass die
aufgebrachte Struktur nach dem Aufbringen des Substrats die umlaufende Bahn
schneidet (Merkmale M6 und N6).

Die Gegenstände der beiden nebengeordneten Ansprüche 1 und 12 sind im
nachfolgenden Ausschnitt aus der Figur 3 des Streitpatents mit vom Senat hinzu-
gefügten Ergänzungen illustriert. Die „umlaufende Bahn“, welche gemäß Merkmal
M6 bzw. N6 von der Struktur bzw. Kleberspur / Kleberraupe (Bezugszeichen 20)
geschnitten werden soll, ist dabei als Kreisbahn eingefügt worden.




Jede Kamera soll ein Segment der umlaufenden Bahn – „im Wesentlichen in Form
einer Kreisbahn“ – überwachen (vgl. Merkmale M7 und N7). Die umlaufende Bahn
soll damit einen vorbestimmten und vordefinierten Bereich um die Auftragsein-
richtung bilden, sodass die Klebstoffspur unabhängig vom Verfahrweg des Robo-
ters bzw. der Auftragseinrichtung überwacht werden kann (vgl. Beschreibung des
Streitpatents, Abs. 0010).

Durch die umlaufende Bahn soll gemäß Merkmal M8 bzw. Merkmal N8 ein kreis-
förmiger Caliper gebildet werden, wobei der Fachmann unter der im Anspruch
aufgeführten „Bildung eines kreisförmigen Calipers“ die Bildung einer optischen
Messlehre nach dem Prinzip einer Schieblehre (engl.: Caliper) zur optischen Ana-
lyse der Klebstoffspur / Kleberraupe bzw. deren Kanten versteht. Merkmal M8
- 19 -
bzw. N8 betrifft die Auswertung der von den Kameras aufgenommenen Bilder. Der
kreisförmige Caliper wird somit durch die Bildanalyse gebildet. Ein solcher Caliper
ist in der Figur 8 des Streitpatents dargestellt:

Der kreisförmige Caliper ist hier mit Bezugszeichen 90 gekennzeichnet; die beiden
Pfeile rechts im Bild können als eine Art Messschenkel des Calipers angesehen
werden. Die nachfolgende Darstellung, welche vom Senat auf Basis der Figur 4
des Streitpatents mit Anmerkungen versehen worden ist, zeigt den Verfahrweg der
erfindungsgemäßen Vorrichtung zum Aufbringen und Überwachen einer Kleb-
stoffspur, wobei die „umlaufende Bahn“, welche von der Kleberspur 20 geschnitten
wird, für die erste dargestellte Verfahrposition der Vorrichtung als Kreisbahn ein-
gefügt worden ist:

- 20 -


Die Winkelwerte von 0° bis 360° der mit der umlaufenden Bahn assoziierten
Kreisbahn sollen gemäß Merkmal M9 bzw. Merkmal N9 ein globales Koordinaten-
system bilden, wobei die Bilder der einzelnen Kameras ein Segment der Kreis-
bahn mit jeweils angrenzenden Überlappungsbereichen bilden (vgl. Merkmale
M10 und N10). Für den Fachmann stellt das im Anspruch genannte globale Koor-
dinatensystem nichts anderes dar als ein Polarkoordinatensystem, in dem Punkte
bzw. Bahnpunkte in der Ebene des Substrats mittels Winkeln zwischen 0° und
360° und einem Radius – von einem Null-/ Ursprungspunkt aus gesehen – global
definiert werden (vgl. auch Abs. 0022 des Streitpatents sowie Figur 9, wo auf der
rechten Seite ein Koordinatensystem mit Winkelangaben und einem Radius ein-
gezeichnet ist).

In der Beschreibung des Streitpatents wird weiterhin ausgeführt, dass die Winkel-
werte der Kreisbahn von 0° bis 360° ein globales Koordinatensystem der einzel-
nen Kameras bilden, wobei den Bildern der einzelnen Kameras ein einzelnes
Segment der Kreisbahn zugeordnet wird. Damit könne der Verlauf der Kleberspur
mit zumindest einer aktiven Kamera verfolgt werden (vgl. Abs. 0017).

- 21 -
Gemäß Beschreibung des Streitpatents soll mit den Anspruchsmerkmalen in ein-
facherer Art und Weise eine Auswertung mittels einer Software ermöglicht werden.
Dadurch könne die Auftragsstruktur bzw. Kleberspur mit hoher Geschwindigkeit
während des Auftragens auf dem Substrat überwacht werden – insbesondere
dann, wenn die Kameras ortsfest an der Auftragseinrichtung angeordnet seien und
wenn die umlaufende Bahn zur Ermittlung der Kleberspur eine geschlossene Form
um die Auftragseinrichtung bilde, wobei die Kleberspur auf der umlaufenden Bahn
auf dem Substrat gemäß einer Projektion überwacht werde (vgl. Beschreibung des
Streitpatents, Abs. 0010).

In der Fassung der nebengeordneten Ansprüche 1 und 11 nach Hilfsantrag 1 ist
zusätzlich vorgesehen, dass bei dem Verlauf der Kleberspur automatisch von ei-
ner Kamera zur nächsten umgeschaltet wird, wenn die Kleberspur von dem Seg-
ment der Kreisbahn einer Kamera über den Überlappungsbereich in das Segment
der Kreisbahn einer anderen Kamera verläuft.


II. Zur erteilten Fassung

1. Ausführbarkeit

Der Auffassung der Klägerin, hinsichtlich des Unteranspruchs 2 bestehe der Nich-
tigkeitsgrund der unzureichenden Offenbarung i. S. d. Art. 138 Abs. 1 lit. b EPÜ,
vermag der Senat nicht zu folgen.

Im Unteranspruch 2 wird aufgeführt, dass „die umlaufende Bahn zur Ermittlung der
Kleberspur eine geschlossene Form um die Auftragseinrichtung bildet, wobei die
Kleberspur auf der umlaufenden Bahn auf dem Substrat gemäß einer Projektion
überwacht wird.“

Entgegen der Ansicht der Klägerin hat der Fachmann keine Verständnisschwierig-
keiten, wie die in diesem Anspruch aufgeführte „Projektion“ auszuführen ist. Denn
- 22 -
unter dem Begriff „Projektion“ versteht der Fachmann die Abbildung eines Objek-
tes auf eine Bildebene, insbesondere mittels einer Linse bzw. eines Objektivs. Im
vorliegenden Fall stellt die Kleberspur das abzubildende Objekt dar. Der fachmän-
nische Leser, der Kenntnisse auf dem Gebiet der Bildverarbeitung und Optik auf-
weist, konnte dabei zum Prioritätszeitpunkt aufgrund von allgemeinem Fachwissen
ohne Schwierigkeiten erkennen, dass die Abbildung einer Kleberspur mit Hilfe der
Objektive von Kameras (vgl. Fig. 1, Bezugszeichen 12-14) auf die in der Bildebene
angeordneten Sensoreinheiten der jeweiligen Kameras projiziert und die Kleber-
spur folglich mittels einer Projektion überwacht wird (vgl. Abs. 0010, 0014, 0024,
0054 und 0060 im Zusammenhang mit den Ansprüchen 1 und 2). Damit ist die
Erfindung im Zusammenhang mit dem Gegenstand des Anspruchs 2 so deutlich
und vollständig offenbart, dass ein Fachmann sie ohne erfinderisches Zutun und
ohne unzumutbare Schwierigkeiten anhand der Gesamtoffenbarung bzw. anhand
der technischen Information des Streitpatents ausführen kann.

2. Patentfähigkeit

Das Streitpatent ist hinsichtlich der erteilten Fassung teilweise für nichtig zu erklä-
ren, da die jeweiligen Gegenstände der nebengeordneten erteilten Ansprüche 1
und 12 des Streitpatents gegenüber den Druckschriften D3 (NK5) und D4 (NK6)
nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhen (Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 1 IntPatÜG
i. V. m. Art. 138 Abs. 1 Nr. 1, Art. 52, 56 EPÜ).

a) Stand der Technik

aa) Druckschrift D3

Soweit die Beklagte geltend macht, die Druckschrift D3 könne wegen einer von ihr
behaupteten widerrechtlichen Entnahme nicht zum Stand der Technik gerechnet
werden, kann der Senat dem schon aus Rechtsgründen nicht folgen, so dass es
auf die Frage, ob die in dieser Druckschrift beschriebene Erfindung wie von der
- 23 -
Klägerin behauptet tatsächlich widerrechtlich entnommen worden ist, erst gar nicht
ankommt.

Nach Art. 55 Abs. 1 Buchst. a) EPÜ bleibt eine Offenbarung der Erfindung außer
Betracht, wenn sie nicht früher als sechs Monate vor Einreichung der europäi-
schen Patentanmeldung erfolgt ist und unmittelbar oder mittelbar auf einen offen-
sichtlichen Missbrauch zum Nachteil des Anmelders oder seines Rechtsvorgän-
gers zurückgeht. Unstreitig steht diese Vorschrift schon deshalb der Berücksichti-
gung der D3 nicht entgegen, weil diese durch Bekanntmachung im Patentblatt am
28. August 2003 deutlich früher als sechs Monate vor Einreichung der Anmeldung
des Streitpatents am 23. Dezember 2004 offenbart worden ist, so dass schon die
erste Voraussetzung von Art. 55 Abs. 1 Buchst. a) EPÜ nicht gegeben ist.

Dass das Streitpatent eine frühere Priorität genießt, spielt für die Anwendung des
Art. 55 EPÜ keine Rolle. Denn wie sich schon aus dem Wortlaut „Einreichung der
europäischen Patentanmeldung“ eindeutig ergibt, ist für die Frist, innerhalb derer
eine Erfindungsoffenbarung außer Betracht bleiben kann, nur der Anmelde- und
nicht der Prioritätstag maßgeblich. Wegen des eindeutig auf die Einreichung und
nicht etwa (wie es an anderen Stellen im EPÜ der Fall ist) auf den Anmeldetag der
Patentanmeldung nach Art. 80 EPÜ abzielenden Wortlauts scheidet auch eine
Anwendung des Art. 89 EPÜ auf die Fristberechnung nach Art. 55 EPÜ eindeutig
aus. Wie die Klägerin zu Recht ausführt, ist die vorstehende Auslegung sowohl
vom Bundesgerichtshof (vgl. BGH, Beschluss vom BGH 5. Dezember 1995 –
X ZB 1/94, GRUR 1996, 349 – Corioliskraft) als auch von der Großen Beschwer-
dekammer des EPA (vgl. Große Beschwerdekammer des EPA, GRUR Int 2001,
540 – Sechsmonatsfrist) bestätigt worden. Damit verbleibt auch für die von der
Beklagten angeregte Rechtsfortbildung kein Raum mehr, denn eine andere Ausle-
gung des Art. 55 EPÜ würde nicht das Recht im Rahmen gegebener Auslegungs-
spielräume fortentwickeln, sondern dem eindeutigen Wortlaut der maßgeblichen
Normen der EPÜ widersprechen.

- 24 -
Es spielt auch keine Rolle, dass die D3 ein Gebrauchsmuster betrifft, denn Aus-
gangspunkt ist nach Art. 55 EPÜ, ob eine „Offenbarung der Erfindung“ unbeachtet
bleibt, wenn sie binnen 6 Monaten vor „Einreichung der europäischen Patentan-
meldung“ erfolgte. Schon aus dem Wortlaut ergibt sich somit, dass jegliche Offen-
barung einer Erfindung ausreicht, es also nicht darauf ankommt, in welcher Form
diese Offenbarung erfolgte; damit reichen nicht nur mündliche (z. B. in einem Vor-
trag) und schriftliche (z. B. in einem Aufsatz) Darlegungen aus, sondern auch jeg-
liche Anmeldungen von Schutzrechten.

Schließlich ist auch die von der Beklagten beanstandete Benachteiligung nicht
erkennbar. Denn nachdem die D3 am 28. August 2003 veröffentlicht wurde, hätte
die Beklagte, falls es sich bei der Anmeldung tatsächlich um eine widerrechtliche
Entnahme gehandelt haben sollte, bis zum 28. Februar 2004 ausreichend Zeit ge-
habt, ihre angeblich durch die Anmeldung des Gebrauchsmusters ihr widerrecht-
lich entnommene Erfindung ihrerseits anzumelden, ohne dass dieser Anmeldung
das vorveröffentliche Gebrauchsmuster entgegen gestanden hätte. Wenn sie
stattdessen hiermit ohne erkennbaren Grund bis zum 23. Dezember 2004, also
nahezu 16 Monate nach der Veröffentlichung der D3, zuwartete, ist nicht nachvoll-
ziehbar, weshalb sie meint, dass es eine Benachteiligung sei, wenn nunmehr das
Gebrauchsmuster als möglicherweise entgegenstehender Stand der Technik zu
berücksichtigen ist.

Angesichts dessen kann auf sich beruhen, ob tatsächliche Anhaltspunkte dafür
vorgetragen wurden, dass das, was in der D3 unter Schutz gestellt wurde, eine
bereits zuvor von der Klägerin entwickelte Erfindung ist; nach dem Vortrag der
Beklagten und den von ihr hierzu vorgelegten Unterlagen dürfte allerdings auch
dies äußerst zweifelhaft sein.

bb) Druckschrift D4

Zwar ist davon auszugehen, dass die Beklagte die von ihr in der Widerspruchsbe-
gründung zunächst erhobene Rüge fehlender Vorveröffentlichung der D4 im weite-
- 25 -
ren Prozessverlauf nicht weiter aufrecht erhalten hat, da sie, nachdem die Klägerin
hierzu weitere Ausführungen gemacht und auch der Senat in seinem Hinweis mit-
geteilt hat, dass er die D4 als vorveröffentlicht erachtet, diesen Einwand sowohl in
ihren nachfolgenden Schriftsätzen als auch in der mündlichen Verhandlung nicht
erneut aufgegriffen, sondern nur noch inhaltlich zur D4 argumentiert hat.

Ungeachtet dessen sind aber die Angaben der Klägerin insbesondere in ihrem
Schriftsatz vom 3. Juni 2016 hinreichend, um die Vorveröffentlichung zu belegen.
Hinzu kommt, dass schon die bloße Eingabe der ISBN-Nummer der D4 in einer
üblichen Suchmaschine das von der Klägerin vorgelegte, in Portugal publizierte
Buch ausweist. Insofern bestehen seitens des Senats keine Zweifel an der Vor-
veröffentlichung der D4.

b) Fehlende erfinderische Tätigkeit gegenüber den Druckschriften D3
und D4

Die vorveröffentlichte Druckschrift D3, die den nächstliegenden Stand der Technik
darstellt, beschreibt sowohl ein Verfahren zur „Inspektion und/oder Bearbeitung
[…] einer Kleberaupe“ als auch eine „optische Überwachungseinrichtung 1“ zum
Erkennen und Überwachen einer Struktur in Form der „Kleberaupe“ auf einem als
„Objekt“ bezeichneten Substrat entsprechend Merkmal M1 des erteilten Verfah-
rensanspruchs 1 bzw. entsprechend dem Merkmal N1 des korrespondierenden
erteilten Vorrichtungsanspruchs 12 (vgl. S. 1 Z. 5-19 und S. 9 Z. 1-9 sowie Z. 15-
26 und Fig. 1). Die „optische Überwachungseinrichtung 1“ beinhaltet einen „opti-
schen Sensorkopf“ mit drei „Kameras 3, 4 und 5“ (vgl. Fig. 1-3 und S. 9 Z. 15-25 /
Merkmal M2 bzw. N2), wobei die Kameras um ein „Werkzeug 9“ bzw. eine „Düse“
zum Auftragen der Struktur in Form einer Kleberspur / Kleberraupe herum ange-
ordnet und auf den „Arbeitsbereich des Werkzeugs“ ausgerichtet sind (vgl. S. 9
Z. 15-21 und Fig. 3 sowie auch S. 5 Z. 12-16). Dies bedeutet für den Fachmann
nichts anderes, als dass die genannten Kameras jeweils auf die direkt über der
Struktur in Form einer Kleberrspur angeordnete Auftragseinrichtung („Werkzeug“ /
„Düse“) entsprechend Merkmal M3 bzw. N3 ausgerichtet sind. Die durch die Auf-
- 26 -
tragseinrichtung auf das Substrat aufgebrachte Struktur / Kleberspur wird dabei
von den drei „Kameras 3, 4 und 5“ in der Weise überwacht, dass die Kameras je-
weils auf den „Arbeitsbereich 12“ des Werkzeugs ausgerichtet sind und sich dort
ein „Überlappungsbereich der Sichtbereiche 3‘, 4‘ und 5‘“ ergibt (vgl. Fig. 3 und
S. 10, Z. 8-16 / Merkmal M4 bzw. N4).



Des Weiteren wird in Druckschrift D3 aufgeführt, dass die „Anordnung der Kame-
ras 3, 4 und 5 auf einem konzentrischen Kreis um den Ausschnitt 11 herum im
Wesentlichen kreisförmig ausgebildet“ ist (vgl. S. 10 Z. 25-27 und Fig. 3). Damit
wird die durch die Auftragseinrichtung („Werkzeug“ / „Düse“) auf das Substrat auf-
gebrachte Struktur in Form einer Kleberspur mittels der „Kameras 3, 4 und 5“ in
der gleichen Weise auf einer umlaufenden Bahn – kreisförmig – um die Auftrags-
einrichtung überwacht bzw. ermittelt, wie es im Streitpatent in den nebengeord-
neten Ansprüchen 1 und 12 aufgeführt wird (Merkmal M5 bzw. N5).

Wie zuvor ausgeführt, entnimmt der Fachmann der Druckschrift D3, dass der auf
das Substrat aufgebrachte Kleber durch die Bewegung des verfahrbaren Werk-
zeughalters, an dem die Düse für den Kleber angebracht ist, die Struktur einer
Kleberspur / Kleberraupe bildet (vgl. S. 1 Z. 13-17). Damit ergibt sich für den
Fachmann ohne Weiteres, dass eine mittels des verfahrbaren Werkzeughalters
aufgebrachte (längliche) Struktur / Kleberspur eine umlaufende Bahn schneidet,
- 27 -
auf der die Kameras mit den Bezugszeichen 3, 4 und 5 – wie zuvor dargelegt –
kreisförmig („auf einem konzentrischen Kreis“) angeordnet sind (vgl. Fig. 3 und die
vorstehenden Ausführungen / Merkmal M6 bzw. N6).

Der Fachmann entnimmt Druckschrift D3 zudem, dass jede der vorstehend ge-
nannten „Kameras 3, 4 und 5 auf einem konzentrischen Kreis“ ein Segment der
umlaufenden Bahn in Form einer geschlossenen Kreisbahn überwacht, auf der die
Kameras angeordnet sind (vgl. S. 10 Z. 25-27 sowie Fig. 3). Dabei stellen die in
der Figur 3 dargestellten überlappenden Sichtbereiche mit den Bezugszeichen 3‘,
4‘ und 5‘ nichts anderes dar als die von den Kameras überwachten Segmente ent-
sprechend Merkmal M7 bzw. Merkmal N7 (vgl. S. 10 Z. 8-27). Den Sichtberei-
chen 3‘, 4‘ und 5‘ – und folglich auch den Bildern der einzelnen Kameras – ist da-
mit jeweils ein Segment der Kreisbahn mit einem Überlappungsbereich entspre-
chend Merkmal M10 bzw. N10 zugeordnet (vgl. Fig. 3 und S. 3 zweiter Abs. sowie
S. 10 Z. 8-27).

Druckschrift D3 offenbart damit die Merkmale M1 bis M7 und M10 des erteilten
Anspruchs 1 sowie die entsprechenden Merkmale N1 bis N7 und N10 des erteil-
ten nebengeordneten Anspruchs 12 des Streitpatents.

Des Weiteren wird in Druckschrift D3 auf die Möglichkeit einer Vermessung der
durch das Werkzeug ausgeführten Arbeiten mittels einer „Auswerteeinrichtung“
und einer Bildanalyse hingewiesen (vgl. S. 7 zweiter Abs.: „Bilderkennungs-Soft-
ware […] Diese Software kann das Bild analysieren […]“). Details bezüglich der
weiteren Verarbeitung und Auswertung der Bilder, welche von den auf einer
Kreisbahn angeordneten „Kameras 3, 4 und 5“ aufgenommen werden, sind in
Druckschrift D3 jedoch nicht aufgeführt (Merkmale M8 und M9 bzw. N8 und N9
fehlen).

Der Fachmann, der das aus Druckschrift D3 bekannte Verfahren bzw. eine ent-
sprechende Vorrichtung letztendlich nachbilden bzw. bauen soll, hat aufgrund der
fehlenden Informationen in der D3 zur weiteren Verarbeitung und Auswertung der
- 28 -
durch mehrere Kameras erstellten Bilder hinreichend Veranlassung, im Stand der
Technik nach weiteren Informationen zu suchen, welche die weitere Verarbeitung
bzw. Auswertung der Kamerabilder und eine Bildanalyse beschreiben.

Eine solche Information findet der Fachmann in dem Konferenzbeitrag gemäß
Druckschrift D4, in dem auf eine entsprechende Bildanalyse mit mehreren Kame-
ras hingewiesen wird (vgl. Titel und Abstract, dritter Abs.: „one (or more) cameras
[…]“). In Abschnitt 4 der D4 wird dabei die Detektion von Kanten mittels eines
Caliper-Tools beschrieben (vgl. Fig. 2 und zugeh. Text). Des Weiteren wird in Ab-
schnitt 7 der D4 die Nutzung von Bildanalyse-Werkzeugen gelehrt, welche auf Ba-
sis von Polarkoordinaten und kreisförmigen Informationen arbeiten („Polar Co-or-
dinate vision tools“). Polarkoordinaten werden dabei – wie vorstehend unter Ab-
schnitt A. I. 2. ausgeführt – vom Fachmann als ein globales Koordinatensystem
mit Winkelwerten zwischen 0° und 360° angesehen, wie es in den Ansprüchen 1
und 12 mit den Merkmalen M9 bzw. N9 aufgeführt ist. Die Angaben in der D4 zu
einer kamerabasierten Analyse von Strukturen unter Nutzung eines sogenannten
Calipers mitsamt den Angaben zur Benutzung von Polarkoordinaten und kreisför-
migen Informationen lehren den Fachmann damit, bei einem wie aus Druckschrift
D3 bekannten Verfahren bzw. einer wie aus D3 bekannten Vorrichtung ein
Caliper-Bildanalysewerkzeug nach dem Vorbild der Druckschrift D4 einzusetzen.
Aufgrund der vorstehend genannten Lehre der Druckschrift D3 zur Anordnung von
Kameras auf einer umlaufenden Bahn um die Auftragseinrichtung herum liegt es
daher für den Fachmann in Kenntnis der Druckschrift D4 nahe, einen kreisförmi-
gen Caliper entsprechend den Merkmalen M8 und M9 bzw. den Merkmalen N8
und N9 zu bilden.

Den Ausführungen der Beklagten, dass der Fachmann keine Veranlassung habe,
die Lehre der Druckschrift D3 mit der Lehre der Druckschrift D4 bezüglich eines
Calipers im Zusammenhang mit einer Kamera zu kombinieren, da Druckschrift D3
auf dreidimensionale Messungen mittels Kamera-Stereopaaren abziele, kann nicht
zugestimmt werden. Denn in D3 wird nicht nur auf die Möglichkeit von dreidimen-
sionalen Messungen hingewiesen (vgl. S. 7, dritter Abs. und S. 11 zweiter Abs.),
- 29 -
sondern auch auf die Möglichkeit einer Vermessung der durch das vorstehend
genannte Werkzeug ausgeführten Arbeiten in Form einer aufgebrachten Kleber-
spur mittels einer nicht weiter erläuterten Bildanalyse durch eine „Bilderkennungs-
Software“ (vgl. S. 7 zweiter Abs. und die vorherigen Ausführungen zu D3). Der
Fachmann hat damit – entgegen der Auffassung der Beklagten – hinreichend Ver-
anlassung, die Lehre der D4 hinsichtlich eines Caliper-Bildanalysewerkzeugs zur
Ausgestaltung der in der D3 nicht weiter ausgeführten Bildanalyse heranzuziehen.

Auch den Ausführungen der Beklagten, dass eine Kombination der Lehren der
Druckschriften D3 und D4 jedenfalls nicht zu den Gegenständen der erteilten An-
sprüche 1 und 12 führen würde, da bei einer solchen Kombination kein Kreis-
caliper entstehen würde, sondern vielmehr jede Kamera in ihrem Überwachungs-
bereich nur jeweils ein kreisförmiges Objekt wie beispielsweise ein Zahnrad su-
chen würde, ist nicht zuzustimmen. Druckschrift D4 befasst sich mit einem
„Caliper tool“ als Bildanalyse-Werkzeug, wobei auch auf Polarkoordinaten sowie
kreisförmige Informationen bzw. kreisförmige Untersuchungsobjekte hingewiesen
wird (vgl. D4, Abschnitt 7 erster Abs.: „Polar Co-ordinate vision tools […] very
useful for applications in which the relevant information is arranged in circular
form“). Der in diesem Zusammenhang in der D4 angegebene Anwendungsbereich
ist jedoch nicht nur auf die von der Beklagten genannten kreisförmigen Objekte
beschränkt, vielmehr werden in Abschnitt 7 der Druckschrift D4 auch andere bo-
genförmige Objekte wie etwa per Druck um einen Bogen aufgetragende Struktu-
ren als Anwendungsbeispiele für die Bildanalyse genannt (vgl. Abschnitt 7 zweiter
Abs.: „[…] codes printed around an arc, etc.“), wobei bereits im Abstract der D4
auf die Möglichkeit des Einsatzes von mehreren Kameras („use of one (or more)
cameras“) hingewiesen wird, was – entgegen den Ausführungen der Beklagten –
der Lehre der Druckschrift D3 hinsichtlich des Erkennens von Strukturen mittels
mehrerer Kameras entspricht.

Der Gegenstand des Verfahrensanspruchs 1 mit sämtlichen Merkmalen M1 bis
M10 wie auch der Gegenstand des damit korrespondierenden nebengeordneten
Vorrichtungsanspruchs 12 mit sämtlichen Merkmalen N1 bis N10 ergibt sich damit
- 30 -
für den Fachmann in naheliegender Weise aus der Kombination der Lehre der
Druckschrift D3 mit der Lehre der Druckschrift D4.

Die Gegenstände der nebengeordneten Ansprüche 1 und 12 nach Hauptantrag
beruhen somit nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit. Die Ansprüche 1 und 12
sind daher nicht patentfähig.

c) Die weiteren Patentansprüche des Hauptantrags bedürfen keiner weiteren,
isolierten Prüfung, weil die Beklagte sowohl schriftsätzlich als auch in der mündli-
chen Verhandlung zu erkennen gegeben hat, dass sie den Hauptantrag als ge-
schlossenen Anspruchssatz versteht und das Streitpatent nur in der Reihenfolge
des Hauptantrags und der Hilfsanträge jeweils als Ganzes verteidigt (vgl. BGH,
Urteil vom 29. September 2011 – X ZR 109/08, GRUR 2012, 149 – Sensoranord-
nung; BPatG, Urteil vom 29. April 2008 – 3 Ni 48/06 (EU), BPatGE 51, 45 – Io-
nenaustauschverfahren).


III. Zu Hilfsantrag 1

Während dem Streitpatent in der erteilten Fassung somit der Nichtigkeitsgrund der
mangelnden Patentfähigkeit entgegensteht, erweist sich das Streitpatent in der
zulässig beschränkten Fassung nach Hilfsantrag 1 als schutzfähig.

1. Die nebengeordneten Ansprüche 1 und 11 gemäß Hilfsantrag 1 unterschei-
den sich jeweils von der erteilten Fassung durch die Hinzufügung des – wortiden-
tischen – Merkmals M11 bzw. N11, das wie folgt lautet:

M11 / N11 „wobei bei dem Verlauf der Kleberspur von einer Kamera zur
nächsten automatisch umgeschaltet wird, wenn die Kleberspur
von dem Segment der Kreisbahn einer Kamera über den
Überlappungsbereich in das Segment der Kreisbahn einer an-
deren Kamera verläuft.“
- 31 -
2. Die Beschränkung der erteilten Ansprüche 1 und 12 mit diesem Merkmal ist
zulässig. Das hinzugefügte Merkmal M11 des Anspruchs 1 nach Hilfsantrag 1 ist
in unveränderter Form dem erteilten Unteranspruch 9 entnommen. Da die Vor-
richtung nach dem erteilten Anspruch 12, der in Hilfsantrag 1 als Anspruch 11
fortgeführt wird, der Durchführung des Verfahrens nach den erteilten Ansprü-
chen 1 bis 11 dient, ist die Aufnahme dieses Merkmals in Anspruch 11 des Hilfs-
antrag 1 ebenfalls zulässig. Ungeachtet dessen hat auch die Klägerin gegen die
Zulässigkeit einer beschränkten Verteidigung des Streitpatent mit dem Hilfsan-
trag 1 keine Einwände erhoben.

3. In der beschränkten Fassung nach Hilfsantrag 1 sind die jeweiligen Gegen-
stände der nebengeordneten Ansprüche 1 und 11 neu und beruhen auf einer er-
finderischen Tätigkeit.

a) Neuheit

Keine der vorstehend unter Ziffer II. 2. b) abgehandelten Druckschriften D3 und
D4 offenbart die Umschaltung von einer Kamera zur nächsten Kamera (vgl. u. a.
die Zitatstellen a. a. O.). Dementsprechend ist auch keiner dieser Druckschriften
zu entnehmen, dass entsprechend dem zusätzlich in den Anspruch 1 nach Hilfs-
antrag 1 aufgenommenen Merkmal M11 bzw. dem inhaltsgleichen Merkmal N11
des nebengeordneten Anspruchs 11 nach Hilfsantrag 1 automatisch von einer
Kamera zur nächsten umgeschaltet wird, wenn eine Struktur oder Kleberspur von
dem Segment der Kreisbahn einer Kamera über den Überlappungsbereich in das
Segment der Kreisbahn einer anderen Kamera verläuft (Merkmal M11 bzw. N11
fehlt).

Auch den weiteren im Verfahren befindlichen Druckschriften gemäß den Anlagen
NK4 bis NK18 und D1 offenbaren nicht die Merkmale M11 und N11, die jeweils
das Umschalten von einer Kamera zur nächsten im Zusammenhang mit dem
Verlauf einer Struktur von dem Kreisbahn-Segment einer Kamera in ein Segment
der Kreisbahn einer anderen Kamera betreffen. Die Klägerin hat im Übrigen derar-
- 32 -
tiges bezüglich der Neuheit der Gegenstände der nebengeordneten Ansprüche 1
und 11 nach Hilfsantrag 1 auch nicht in der mündlichen Verhandlung geltend ge-
macht.

Das Verfahren gemäß Anspruch 1 und die Vorrichtung gemäß Anspruch 11 nach
Hilfsantrag 1 sind damit neu gegenüber dem im Verfahren befindlichen Stand der
Technik.

b) Erfinderische Tätigkeit

Wie vorstehend ausgeführt, sind dem im Verfahren befindlichen Stand der Technik
die jeweils inhaltsgleichen Merkmale M11 und N11 der nebengeordneten Ansprü-
che 1 bzw. 11 gemäß Hilfsantrag 1 nicht zu entnehmen.

Den Ausführungen der Klägerin, dass es bei einem mitfahrenden optischen Sen-
sorkopf, wie er aus dem nächstliegenden Stand der Technik gemäß Druckschrift
D3 mit den auf einer Kreisbahn angeordneten Kameras bekannt sei, für den
Fachmann geradezu zwingend sei, eine Umschaltung von einer Kamera zur
nächsten vorzunehmen, wenn eine Kleberspur bzw. Kleberraupe von dem Seg-
ment der Kreisbahn einer Kamera über den Überlappungsbereich von zugehöri-
gen Bildern in das Segment der Kreisbahn einer der anderen Kameras verlaufe,
kann nicht beigetreten werden. Vielmehr wird in Druckschrift D3 in Bezug auf die
genannten Kameras und eine „zügige Arbeitsgeschwindigkeit des Werkzeugs“
darauf hingewiesen, dass eine „Auswerteeinrichtung 16“ die Bilder der Kameras,
welche zugleich auf den Überwachungsbereich gerichtet sind, „parallel verarbei-
tet“, was für den Fachmann nichts anderes bedeutet, als dass es von Vorteil ist,
dass die genannten Kameras (ohne Umschaltung) gleichzeitig aktiv sind (vgl. S. 9
zweiter Abs., S. 10 zweiter Abs. und S. 11 erster Abs., insbes. Z. 11-12 sowie
S. 11 zweiter Abs. Z. 18-21). Druckschrift D3 führt den Fachmann damit von ei-
nem automatischen Umschalten von einer Kamera zur nächsten Kamera weg.
Daher ist es für den Fachmann – ausgehend von der Druckschrift D3 – alles an-
dere als zwingend, eine automatische Umschaltung entsprechend Merkmal M11
- 33 -
bzw. Merkmal N11 vorzunehmen. Ausgehend von der Druckschrift D3 hat der
Fachmann damit auch keine Veranlassung, die in den Merkmalen M11 und N11
aufgeführten Maßnahmen vorzusehen.

Die diesbezüglich von der Klägerin zusätzlich genannte Druckschrift gemäß An-
lage NK17 beschreibt eine Vorrichtung zur Inspektion der Innenwände von Druck-
gasflaschen im Zusammenhang mit einer Umschaltung von einer „Wandbeleuch-
tung 7“ bzw. einer „Miniaturkamera 6 mit dem Umlenkprisma 5“ an einer „Lanze
2“, wobei eine „Miniaturkamera 3 (Bodenkamera)“ aktiviert wird, falls die Spitze
der genannten „Lanze“ die Nähe des Bodens einer Druckgasflasche erreicht, wel-
cher von der erstgenannten Kamera („Miniaturkamera 6“), die zur Inspektion der
seitlichen Innenwand einer Gasflasche dient, nicht erfasst wird (vgl. Fig. 1 sowie
Sp. 5 Z. 36-43, Sp. 5 Z. 67 bis Sp. 6 Z. 5 und Sp. 6 Z. 23-43). Wie vorstehend
dargelegt, lehrt der nächstliegende Stand der Technik gemäß Druckschrift D3,
dass eine Auswerteeinrichtung die Bilder von mehreren Kameras, die alle auf ei-
nen Überwachungsbereich gerichtet sind, wegen der zügigen Arbeitsgeschwindig-
keit „parallel verarbeitet“, was für den Fachmann nichts anderes bedeutet, als
dass sämtliche Kameras gleichzeitig aktiv sind. Der Fachmann hat damit – ausge-
hend von der Druckschrift D3 und der Erstellung von „parallel“ verarbeiteten Ka-
merabildern mittels kreisförmig angeordneter Kameras – keine Veranlassung, den
Stand der Technik gemäß Anlage NK17 heranzuziehen, der sich mit der Inspek-
tion von Druckgasflaschen und einem Umschalten auf eine „Bodenkamera“ be-
fasst, um einen Bereich zu inspizieren, der von einer anderen Bildaufnahmeein-
richtung („Miniaturkamera 6“ / „Umlenkprisma 5“) für die Überprüfung der seitli-
chen Innenwände von Gasflaschen nicht erfasst wird.

Die weiteren im Verfahren befindlichen Druckschriften kommen dem Patentge-
genstand nicht näher als die vorstehend abgehandelten Druckschriften D3 und D4
sowie der Stand der Technik gemäß Anlage NK17 und stehen daher der Patentfä-
higkeit des Anspruchs 1 bzw. des nebengeordneten Anspruchs 11 gemäß Hilfs-
antrag 1 nicht entgegen. Auch die Klägerin hat derartiges nicht geltend gemacht.

- 34 -
Die Gegenstände der Ansprüche 1 und 11 gemäß Hilfsantrag 1 sind damit nicht
durch den Stand der Technik nahegelegt und patentfähig.

4. Soweit die Klägerin die Ausführbarkeit des erteilten Unteranspruchs 2, der
in unveränderter Form auch Bestandteil der Fassung nach Hilfsantrag 1 ist, be-
stritten hat, ist auf die obigen Ausführungen zu verweisen. Im Übrigen sind Be-
denken gegen die Zulässigkeit und Schutzfähigkeit der (mit Ausnahme von Unter-
anspruch 2) übrigen unverändert fortgeführten Unteransprüche nach Hilfsantrag 1,
die jeweils spezielle Ausführungsformen betreffen, weder seitens der Klägerin
geltend gemacht worden noch anderweitig ersichtlich.


IV.

Da sich die beschränkte Verteidigung in der Fassung des Hilfsantrags 1 somit als
zulässig und schutzfähig erweist, war das Streitpatent teilweise nur hinsichtlich der
erteilten Fassung für nichtig zu erklären, während die Klage im Hinblick auf die
Fassung laut Hilfsantrag 1 abzuweisen war.

- 35 -
B.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 Abs. 2 PatG i. V. m. § 92 Abs. 1 ZPO.
Dabei hat der Senat berücksichtigt, inwieweit der nach Hilfsantrag 1 als schutzfä-
hig verbleibende Patentgegenstand gegenüber demjenigen der erteilten Fassung
eingeschränkt ist. Da es sich nach Auffassung des Senats nur um eine geringfü-
gige Einschränkung handelt, ist es gerechtfertigt, der Klägerin trotz des teilweisen
Klageerfolgs 3/4 der Rechtsstreitkosten aufzuerlegen.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 99 Abs. 1
PatG i. V. m. § 709 ZPO.


C.

R e c h t s m i t t e l b e l e h r u n g

Gegen dieses Urteil ist das Rechtsmittel der Berufung gegeben.

Die Berufungsschrift, die auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe der
Verordnung über den elektronischen Rechtsverkehr beim Bundesgerichtshof und
Bundespatentgericht (BGH/BPatGERVV) vom 24. August 2007 (BGBl. I S. 2130)
eingereicht werden kann, muss von einer in der Bundesrepublik Deutschland zu-
gelassenen Rechtsanwältin oder Patentanwältin oder von einem in der Bundes-
republik Deutschland zugelassenen Rechtsanwalt oder Patentanwalt unter-
zeichnet oder im Fall der elektronischen Einreichung mit einer qualifizierten elekt-
ronischen Signatur nach dem Signaturgesetz oder mit einer fortgeschrittenen
elektronischen Signatur versehen sein, die von einer internationalen Organisation
auf dem Gebiet des gewerblichen Rechtsschutzes herausgegeben wird und sich
zur Bearbeitung durch das jeweilige Gericht eignet. Die Berufungsschrift muss die
Bezeichnung des Urteils, gegen das die Berufung gerichtet wird, sowie die Erklä-
rung enthalten, dass gegen dieses Urteil Berufung eingelegt werde. Mit der Beru-
- 36 -
fungsschrift soll eine Ausfertigung oder beglaubigte Abschrift des angefochtenen
Urteils vorgelegt werden.

Die Berufungsschrift muss innerhalb eines Monats schriftlich beim Bundesge-
richtshof, Herrenstraße 45a, 76133 Karlsruhe eingereicht oder als elektronisches
Dokument in die elektronische Poststelle des Bundesgerichtshofes
(www.bundesgerichtshof.de/erv.html) übertragen werden. Die Berufungsfrist be-
ginnt mit der Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils, spätestens
aber mit dem Ablauf von fünf Monaten nach der Verkündung. Die Frist ist nur
gewahrt, wenn die Berufung vor Fristablauf beim Bundesgerichtshof eingeht.


Friehe Richter Schwarz
befindet sich in
Urlaub; er ist da-
her an der Beifü-
gung der Unter-
schrift gehindert
Friehe
Dr. Schwengelbeck Dr. Otten-
Dünnweber
Dr. Flaschke

prö


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