3 Ni 20/15  - 3. Senat (Nichtigkeit)
Karar Dilini Çevir:

BPatG 253
08.05

BUNDESPATENTGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES

3 Ni 20/15
(Aktenzeichen)

URTEIL


Verkündet am
7. Februar 2017





In der Patentnichtigkeitssache



- 2 -




betreffend das ergänzende Schutzzertifikat
12 2005 000 053.1

hat der 3. Nichtigkeitssenat des Bundespatentgerichts auf Grund der
mündlichen Verhandlung vom 7. Februar 2017 durch den Richter Kätker als
Vorsitzenden, die Richterin Martens sowie die Richter Dipl.-Chem. Dr. Egerer,
Dipl.-Chem. Dr. Wismeth und Dipl.-Chem. Dr. Freudenreich

für Recht erkannt:

I. Die Klage wird abgewiesen.

II. Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits.

III. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120 %
des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.


Tatbestand

Die Beklagten sind eingetragene Inhaberinnen des ergänzenden Schutzzertifikats
12 2005 000 053.1 für „Erlotinib und pharmazeutisch annehmbare Salze davon in
allen unter das Grundpatent fallenden Formen“, mit einer Laufzeit bis zum
21. März 2020 (Streitzertifikat).

Das Streitzertifikat ist auf der Grundlage des inzwischen erloschenen, mit Wirkung
für die Bundesrepublik Deutschland erteilten europäischen Patents 0 817 775
(Grundpatent) erteilt worden. Das in englischer Verfahrenssprache erteilte Grund-
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patent nimmt die Priorität aus der US-Patentanmeldung 413300 vom
30. März 1995 in Anspruch und wird vom Deutschen Patent- und Markenamt unter
der Nummer 695 22 717 geführt. In der deutschen Übersetzung trägt es die Be-
zeichnung: „Chinazolinderivate“. Es umfasst 28 Patentansprüche. Wegen des
Wortlauts der Patentansprüche wird auf die Patentschrift verwiesen.

Die Nichtigkeitsklage richtet sich gegen das Streitzertifikat. Sie wird auf den Nich-
tigkeitsgrund nach Art. 15 Abs. 1 c) der Verordnung (EG) Nr. 469/2009 des Euro-
päischen Parlaments und des Rates vom 6. Mai 2009 über das ergänzende
Schutzzertifikat für Arzneimittel gestützt. Die Klägerin macht die Nichtigkeit des
Streitzertifikats nach dieser Vorschrift geltend, weil Nichtigkeitsgründe vorlägen,
die die Nichtigerklärung oder Beschränkung des inzwischen erloschenen Grund-
patents gerechtfertigt hätten, jedenfalls in dem Umfang, dass das Erzeugnis, für
welches das Zertifikat erteilt worden ist, nicht mehr von den Ansprüchen des
Grundpatent erfasst werde.

Die Klägerin stützt ihr Vorbringen auf folgende Entgegenhaltungen:

NIK3 Versuchsbericht der Green Pharma S.A.S. „Evaluation of Activities
of 2 Compounds on Epidermal Growth Factor Receptor Kinase“,
vom 10.03.2014
NIK3a ratiopharm Certificate of Analysis Erlotinib Hydrochlorid vom
9. September 2013
NIK3a´ NIK3a, aktualisiert vom 13.10.2016
NiK3b TEVA Certificate of Analysis Methylaniline analog of Erlotinib
(RN5953) v. 03.09.2013
NIK3b´ NIK3b, aktualisiert vom 14.11.2016
NIK4 EP 0 566 226 A1
NIK5 A.J. Barker et al.: „Structure Activity Relationships of 4-
Anilinoquinazolines as Inhibitors of EGFR-Tyrosine Kinase
Activity”, Official Journal of the European Society for Medical
- 4 -
Oncology, 8th NCI-EORTC Symposium on New Drugs in Cancer
Therapy, March 15-18, 1994, Amsterdam, NL, Abstract-No. 120
NIK6 R.J. Fessenden, J.S. Fessenden: „Basic Chemistry for the Health
Sciences”, 1984, Allyn and Bacon Inc., Kapitel 15, S. 253 bis 274
NIK7 D. Bartholomew et al.: “A Novel Class of Benzamide Fungicides”,
in: Synthesis and Chemistry for Agrochemicals III, ACS
Symposium Series 504, American Chemical Society 1992,
Chapter 40, S. 443 bis 456
NIK8 EP 0 520 722 A1
NIK9 H.J. Roth, H. Fenner: Pharmazeutische Chemie III-Arzneistoffe,
2., überarb. Aufl., Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 1994,
Kapitel 45.2: Sexual-Hormone und Derivate, S. 560 bis 569 und
573 bis 574
NIK10 The Merck Index, 11. Aufl. 1989, Nr. 225 Alfaprostol, Nr. 1845
Carfinate, Nr. 3683 Ethchlorvynol, Nr. 4514 Haloprogin, Nr. 4616
Hexapropymate, Nr. 5732 Meparfynol Carbamate, Nr. 5904
Methohexital Sodium, Nr. 6908 Oxybutynin Chloride, Nr. 6988
Pargyline, Nr. 6993 Parsalmide, Nr. 7348 Phthalofyne, Nr. 7411
Pinazepam, Nr. 9086 Terbinafine;
The Merck Index, 12. Aufl. 1996, Nr. 1190 Beraprost, Nr. 4940
Iloprost, Nr. 8569 Selegiline.
NIK11 H. Auterhoff, J. Knabe: Lehrbuch der pharmazeutischen Chemie,
6. Aufl., Wiss. Verlagsgesellschaft Stuttgart 1971, S. 120 bis 122
NIK12 Römpp Chemie Lexikon, 9. Aufl. Thieme Stuttgart 1995 Bd. 1,
S. 105 bis 106, Eintrag „Alkine“
NIK13 K.E. Schulte, G. Rücker: „Synthetische und natürliche Acetylen-
Verbindungen als Arzneistoffe“, in: Fortschr. Arzneimittelforsch.14
(1970) 387 bis 563
NIK14 Seydel und Schaper: Chemische Struktur und biologische Aktivität
von Wirkstoffen, Verlag Chemie Weinheim 1979, auszugsweise
S. 68, 266 bis 268
- 5 -
NIK15 R. Franke: Optimierungsmethoden in der Wirkstoff-Forschung -
Quantitative Struktur-Wirkungs-Analyse, Akademie-Verlag Berlin
1980, Kap. 6, auszugsw. S. 141 bis 144
NIK16 R. Silverman: Medizinische Chemie, VCH Weinheim 1995,
Kapitel 2.2, auszugsweise S. 39 bis 42
NIK17 Craig-Diagramm analog zu NIK16 mit Zahlenwerten aus der
NIK14.
NIK18 David W. Fry et al., Science 265 (1994) 1093 bis 1095
NIK19 A. Verloop et al., Drug Design, Bd. III, Chapter 4, Hrsg. Ariens
1976, S. 165 bis 207
NIK20 Gutachten Prof. Achiel Haemers vom 8. November 2016,
NIK21 Reaction Biology Corp. Report vom 8. November 2016 „HotSpot
Kinase profiling”,
NIK22 TEVA Certificates of Analysis, Verbindungen RN6567, RN6568,
RN6569, RN6571
NIK23 E.G. Barbacci et al., Cancer Res. 63 (2003) 4450 - 4459

(ohne Nr.) Tabellarische Zusammenstellung der IC50-Werte verschiedener
Verbindungen.

Die Klägerin ist der Auffassung, es lägen Gründe vor, die die Nichtigerklärung des
Grundpatents jedenfalls in dem Umfang gerechtfertigt hätten, dass das Erzeugnis,
für welches das Zertifikat erteilt worden ist, nicht mehr von den Ansprüchen des
Grundpatent erfasst werde. Dazu macht die Klägerin geltend, dass der Gegen-
stand des Grundpatents nicht patentfähig sei, da er nicht auf erfinderischer Tätig-
keit beruhe (Art. 138 I a), 56 EPÜ), und dass die Erfindung nicht so deutlich und
vollständig offenbart sei, dass ein Fachmann sie ausführen könne (Art. 138 I b), 83
EPÜ).

Es fehle an einer zureichenden Offenbarung, jedenfalls der Patentansprüche 22
bis 28 des Grundpatents. Der Fachmann sei nicht in der Lage, ohne unzumutba-
ren Aufwand die therapeutische Wirksamkeit nach den Patentansprüchen 22
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bis 28 unter Verwendung der Informationen, die ihm zum Prioritätszeitpunkt des
Grundpatents vorlagen, zu verifizieren. Die Patentschrift stelle keine experimen-
tellen Daten bereit, sondern behaupte nur, dass die aktiven Verbindungen der Er-
findung potente Inhibitoren der onkogenen u. proto-onkogenen Proteintyrosinkina-
sen seien. Zudem verweise es auf „in vitro“- und „in vivo“-Verfahren, mit denen die
hemmende Wirkung der Verbindung ermittelt werden könne. Das Ergebnis des
von der Klägerin in Auftrag gegebenen Versuchsberichts NIK3 zeige jedoch, dass
die im Grundpatent beschriebenen Verfahren nicht geeignet seien, die notwendi-
gen Ergebnisse zu liefern. Der Rezeptor habe unter den Bedingungen nicht aufge-
reinigt und somit die Phosphorylierungsreaktion nicht gemessen werden können.
Ein Nachweis der Brauchbarkeit der beschriebenen Verbindungen für therapeuti-
sche Zwecke sei damit nicht erbracht, so dass es an einer ausführbaren Offenba-
rung fehle.
Nachdem der Senat in seinem vorterminlichen Hinweis vom 8. September 2016
Zweifel an der Aussagekraft der im Versuchsbericht NIK3 festgestellten Daten ge-
äußert habe und die IC50-Werte für Erlotinib zwischen den in der NIK3 und in den
von der Beklagten eingereichten Unterlagen HE10 und HE4 stark voneinander
abwichen, hat die Klägerin mit Schriftsatz vom 8. November 2016 (2. Schriftsatz
vom gleichen Tag) den Versuchsbericht NIK21 eingereicht. In diesem Versuchs-
bericht sind die für verschiedene 6,7-Di-(2-Methoxyethoxy)-4-3´-substituierte Ani-
linochinazoline gemessenen IC50-Werte tabellarisch wiedergegeben.

Außerdem beruhten die Gegenstände des Grundpatents nicht auf erfinderischer
Tätigkeit, wobei angesichts der Offenbarungsmängel hinsichtlich der Wirkungs-
daten im Grundpatent auch der Offenbarungsgehalt des Standes der Technik,
insbesondere die Wirksamkeit darin offenbarter Verbindungen, mit gleichen Maß-
stäben zu würdigen sei. Die Aufgabe des Streitpatents sei bestenfalls die Bereit-
stellung alternativer Strukturen zu den bekannten Tyrosinkinase-Inhibitoren des
Standes der Technik.

Für die Lösung dieser Aufgabe biete sich die Druckschrift NIK4 als Ausgangspunkt
an, die die Klägerin zusammen mit den Druckschriften NIK5 und NIK8 als Teil ei-
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ner sachlich zusammenhängenden Gruppe betreffend Anilino-Chinazoline als
Leitstruktur ansieht. Hierbei sei zu berücksichtigen, dass beim Übergang von Sub-
stitutionsmustern der (älteren) NIK8 zu solchen der (jüngeren) NIK4 ein Trend zu
einer Wirkungsverstärkung zu beobachten sei. Der Fachmann habe daher Veran-
lassung, den Verbindungen gemäß der NIK4 Beachtung zu schenken und zu
überlegen, ob ihm eine oder mehrere davon als besonders geeignet für die Lö-
sung offenbart würden.

In der NIK4, in der Verbindungen mit besserer Wirksamkeit als in der NIK8 oder
NIK5 beschrieben seien, werde (in Patentanspruch 9 und in der Beschreibung) die
Verbindung gemäß dem Beispiel 51 besonders herausgehoben. Die Druckschrift
offenbare Chinazolin-Derivate mit Tyrosinkinase-hemmenden Eigenschaften, de-
ren Grundstruktur den Verbindungen des Grundpatents entspreche. Einziger Un-
terschied der Verbindung nach Beispiel 51 zu dem zertifikatsgeschützten Wirkstoff
Erlotinib sei der Unterschied im Substituenten an der Metaposition des Phenyl-
rings, wo die NIK4 (Bsp. 51) einen Methyl-, das Grundpatent hingegen einen Ethi-
nyl-Substituenten aufweise.

Auch aus der NIK8, deren offenbarte Verbindungen große Schwankungsbreiten in
den Aktivitätswerten zeigten und in der die 3´-Methylanilino-Chinazolin-Verbindung
mit demselben Substituenten in der 3´-Position wie in NIK4, Bsp. 51, die geringste
Aktivität aufweise, entnehme der Fachmann einen Hinweis darauf, dass der Aus-
tausch des Methylsubstituenten zu Verbesserungen führen dürfte. Zudem zeige
die NIK8 weiter, dass die relativ kleinen und unpolaren Halogen-Substituenten
Chlor und Brom gegenüber Methyl deutlich bessere Aktivitätswerte erbrächten,
was den Schluss rechtfertige, dass andere Chlor- und Brom-ähnliche Substituen-
ten ebenso zu besseren Aktivitätswerten führen dürften.

Als Ausgangspunkt komme auch die NIK18 in Betracht, wobei es naheliegend sei,
dass der Fachmann die Verbindung von NIK4, Bsp. 51 mit der nach NIK18 fusio-
niere, um die Verbindung auch mit der Struktur nach NIK18 auszuprobieren und
so zu einer brauchbaren Verbindung zu kommen. Da eine solche Verbindung mit
- 8 -
einem Brom-Substituenten an 3´-Position aber bereits patentgeschützt sei, stelle
dies für den Fachmann eine Motivation dar, nach Möglichkeiten zu suchen, dem
Patentschutz auszuweichen. Dabei werde er bemerken, dass in der NIK4 bereits
zahlreiche Chinazolin-Derivate offenbart seien, nicht aber Verbindungen mit Sub-
stituenten am Anilino-Ring.

Aus der NIK5 entnehme der Fachmann den Hinweis, dass die wirksamsten
EGFR-Tyrosinkinase-Inhibitoren kleine und relativ unpolare Substituenten in der
Meta-Position des Anilino-Rings besäßen. Hierbei hätten die Autoren der NIK5
eine Abstraktion vorgenommen, die sich auch auf andere als die in dieser Druck-
schrift besprochenen Verbindungen übertragen ließen.

Aufgrund seines Fachwissens, dokumentiert in NIK6 und NIK7, wisse der Fach-
mann, dass Alkine, insbesondere Ethinyl kleine und relativ unpolare Substituenten
darstellten. Dementsprechend sei nur noch eine routinemäßige Auswahl aus den
bekannten Substituenten erforderlich gewesen, um zum Gegenstand des Grund-
patents zu gelangen. Hierbei habe der Fachmann auf sein Fachwissen zu Struk-
tur-Wirkungsbeziehungen zurückgreifen und Parameter-basierte Modelle zur
Trendvorhersage anwenden können, mit denen er einen Trend konstruieren könne
und dann die entsprechenden Substituenten auffinde. Dabei zeige sich, dass eine
weitgehende Übereinstimmung der entsprechenden Deskriptoren für die
Ethinylgruppe mit allen relevanten Parametern der Halogene bestehe, so dass der
Fachmann, ohne erfinderisch tätig sein zu müssen, zum Gegenstand des Grund-
patents gelangt wäre.

Die Beklagten treten dem Vorbringen der Klägerin in allen Punkten entgegen. Sie
verweist auf folgende Dokumente:

HE1 Packungsbeilage für das Medikament Tarceva®, Stand:
Dezember 2013
HE2 V.C. Muir, S. Dhillon: „Erlotinib – As Maintenance Monotherapy in
Non-Small-Cell Lung Cancer”, Biodrugs 25(3) (2011) 139 - 146
- 9 -
HE3 G. N. Gill, W. Weber: „Purification of Functionally Active Epidermal
Growth Factor Receptor Protein Using a Competitive Antagonist
Monoclonal Antibody and Competitive Elution with Epidermal
Growth Factor”, Meth. Enzymol. 146 (1987) 82 - 88
HE4 Datentabelle: „Examples listed in claim 10 of EP817775B1”
HE5 T. R.Burke, Jr.: „Protein-tyrosine kinase inhibitors”, Drugs of the
Future 17(2) (1992) 119 - 131
HE6 M.B. Smith, J. March: „March’s Advanced Organic Chemistry:
Reactions, Mechanisms and Structure, 6th Ed., Wiley-Interscience
John Wiley & Sons 2007, S. 16 - 23
HE7 I.N.H. White: “Suicidal Destruction of Cytochrome P-450 by
Ethynyl Substituted Compounds”, Pharmaceutical Research 1984,
141 -148
HE8 P.R. Ortiz de Montellano, M.A. Correia: „Suicidal Destruction of
Cytochrome P-450 During Oxidative Drug Metabolism”, Ann. Rev.
Pharmacol. Toxicol. 23 (1983) 481 - 503
HE9 P.R. Ortiz de Montellano, K.L. Kunze: „Self-catalyzed Inactivation
of Hepatic Cytochrome P-450 by Ethynyl Substrates”, J. Biol.
Chem. 255(12) (1980) 5578 - 5585
HE10 Hyun Seung Ban et al.: „Allene as an Alternative Functional Group
for Drug Design: Effect of C-C Multiple Bonds Conjugated with
Quinazolines on the Inhibition of EGFR Tyrosine Kinase”,
ChemMedChem 3 (2008) 1094 - 1103
HE11 C.M. Rocha-Lima, L. EVRAZ, „Erlotinib (Tarceva) for the
Treatment of Non-Small-Cell Lung Cancer und Pancreatic Cancer,
P&T 34(10) (2009) 554 - 564
HE12 J.D. Moyer et al.: „Induction of Apoptosis and Cell Cycle Arrest by
CP-358,774, an Inhibitior of Epidermal Growth Factor Receptor
Tyrosine Kinase”, Cancer Res. 57 (1997) 4838 - 4848
HE13 V.A. Pollack et al.: „Inhibition of Epidermal Growth Factor
Receptor-Associated Tyrosine Phosphorylation in Human
Carcinomas with CP-358,774: Dynamics of Receptor Inhibition In
- 10 -
Situ and Antitumor Effects in Athymic Mice”, JPET 291(2) (1999)
739 - 748
HE14 EP 0 602 851 A1
HE15 EP 0 635 498 A1
HE16 EP 0 635 507 A1
HE17 E. Marley et al.: „Toxic Effects And Side-Effects Of
Methylpentynol”, British Medical Journal (1956) 1467 - 1470
HE18 Gutachten Prof. Dr. Mutschler v. 7. Juli 2016
Anlage 1 Wissenschaftlicher Lebenslauf
Anlage 2 Curriculum Vitae
Anlage 3 A. Gazit et al.: „Tyrphostins I: Synthesis and Biological
Activity of Protein Tyrosine Kinase Inhibitors, J.Med.Chem.
32 (1989) 2344 - 2352
Anlage 4 W.H.J. Ward et al.: „Epidermal Growth Factor Receptor
Tyrosine Kinase” Biochem. Pharmacol. 48(4) (1994)
659 - 666
Anlage 5 D.W. Fry et al.: „A Specific Inhibitor of the Epidermal Growth
Factor Receptor Tyrosine Kinase”, Science 265 (1994)
1093 - 1095
Anlage 6 Nogrady: Medicinal Chemistry, 1985, S 3 - 55
(Physicochemical Principles of Drug Action),
Anlage 7 Silverman: Medizinische Chemie, VCH, 1994, Kapitel 2.2.3
„Struktur-Wirkungs-Beziehungen”, S. 15 - 53
Anlage 8 Steinhilber et al.: Medizinische Chemie, Deutscher
Apotheker Verlag, 2. Aufl., 2010, S 8 - 12, 14 - 20
Anlage 9 March, Advanced Organic Chemistry, 4. Aufl., 1992, S. 178,
269 - 270
Anlage 10 Auterhoff et al.: Lehrbuch der Pharmazeutischen Chemie,
WVG Stuttgart, 12. Aufl., 1991, S. 35 - 42
Anlage11 Ioannides, CRC Press, 1996, S. 34 u. 61
Anlage12 Jie Ling et al.: „Metabolism and Excretion of Erlotinib”, Drug
Metabolism And Disposition 34(3) (2006) 420 - 426
- 11 -
Anlage 13 Komives/Ortiz de Montellano: „Mechanism of Oxidation of π-
bonds by cytochrome P-450”, J. Biol. Chem. 262(20) (1987)
9793 - 9802
Anlage 14 Brown et al., Organic Chemistry, 7th ed., 2013, S. 308
Anlage 15 Böhm et al., Wirkstoffdesign, 1. Aufl. 1996, S 372 - 374
Anlage 16 Teehan et al.: „Acute Ethchlorvynol (Placidyl®) Intoxication”,
Ann Intern Med 72(6) (1970) 875 - 882
Anlage 17 Gustafsson et al.: „Hexapropymate Self-Poisoning Causes
Severe and Long-Lasting Clinical Symptoms”, Med. Toxicol.
Adverse Drug Exp. 4(4) (1989) 295 - 301
Anlage 18 E. Marley et al.: „Toxic Effects And Side-Effects of
Methylpentynol”, British Medical Journal (1956) 1467 - 1470
(ohne Nr.) Weber et al.: „Immunoaffinity Purification of the Epidermal
Growth Factor Receptor”, J. Biol. Chem. (1984)
14631 - 14636
(ohne Nr.) Yeaton et al.: „Calcium-mediated Degradation of Epidermal
Growth Factor Receptor in Dislodged A431 Cells and
Membrane Preparations”, J. Biol. Chem. (1983) 9254 - 9261
HE19 Versuchsbericht der TGA Sciences, Inc., „Determining the Activity
of Purified EGFR Kinase, Development Report”, v.
7. November 2016
HE20 Laborbericht Stern/Tanaka v. 7. November 2016 (urspr.
eingereicht als HE18)
HE21 Versuchsbericht der TGA Sciences, Inc., Inhibtion of the EGFR
Kinas Enzyme, R&D Sample Analysis v. 16. Dezember 2016

Nach Auffassung der Beklagten ist das Patent ausführbar offenbart. Die im Auftrag
der Klägerin durchgeführte Nacharbeitung gemäß der NIK3 weiche in entschei-
denden Punkten von der im Grundpatent angegebenen Methode ab. Die Nachar-
beitbarkeit habe sich auch in den Versuchen bestätigt, zu denen die Beklagten die
Versuchsberichte HE20 (urspr. eingereicht als HE18) und HE19 vorgelegt haben.
Auch die Diskrepanzen zur später von der Klägerin vorgelegten weiteren Nachar-
- 12 -
beitung NIK21 zeigten die Unzuverlässigkeit der experimentellen Daten. Die Er-
gebnisse seien daher irrelevant.

Der Gegenstand des Streitpatents sei auch patentfähig, insbesondere beruhe er
auf erfinderischer Tätigkeit. Bereits die Wahl der NIK4 als Ausgangspunkt sei an-
gesichts der im Stand der Technik bekannten Vielzahl von Strukturen mit Tyrosin-
Kinase-inhibitorischen Eigenschaften rückschauend, zumal deren Verbindungs-
struktur keine wesentlichen Entsprechungen zu der von Erlotinib aufweise. Dies
gelte insbesondere für die Verbindung gemäß Beispiel 51 der NIK4, die nicht die
Hauptrichtung der Strukturvariation von NIK4 wiedergebe und zu der auch keine
Aktivitätsdaten angegeben seien.

Eine von den Beklagten in Auftrag gegebene Untersuchung (HE21) der Wirksam-
keit der Verbindung nach NIK4, Bsp. 51, im Vergleich zu der Wirksamkeit von Er-
lotinib und der 3´-Chlorverbindung der NIK5 zeige, dass Erlotinib eine bessere in-
vitro-Wirkung habe als die Verbindungen nach NIK4 und NIK5.

Aus der NIK5 erhalte der Fachmann keine Anregung für Modifikationen, die über
den Offenbarungsgehalt der NIK4 hinausgingen, denn die NIK5 fasse lediglich Er-
gebnisse zu einer nichtidentifizierten Gruppe nichtpolarer Substituenten zusam-
men und nenne als Beispiel nur Chlor. Zudem betreffe sie keine Verbindungen mit
Substituenten in 6,7-Position.

Eine Kombination der NIK4 mit NIK5 sei wegen ihrer unterschiedlichen Substi-
tuenten-Positionen nicht möglich.

Auch die NIK18 gebe keine Anregung. Soweit der Brom-Substituent gemäß NIK18
in 3´-Position zu einem besonders niedrigen IC50-Wert führe, lege dies allenfalls
die Verwendung von Brom- oder Halogen-Substituenten in dieser Position nahe,
nicht aber, die Verbindung der NIK4, Bsp. 51, erfindungsgemäß zu modifizieren.

- 13 -
Ebenso führe auch die NIK18 als Ausgangspunkt nicht zum Gegenstand des
Grundpatents.

Betrachte man die Lehren der NIK4 und NIK8 zusammen, so ließen sich die bes-
ten Ergebnisse erwarten, wenn 6,7-Dimethoxy- und 3´-Brom-Substituenten ver-
wendet würden.

Schließlich stellten die auf Parametern basierenden Erwägungen der Klägerin eine
künstliche und ungeeignete Herangehensweise dar. Die Auswahl der Parameter
durch die Klägerin sei willkürlich, da sie nicht mit bekannten Eigenschaften der
Verbindung korrelierten und auch nicht gezeigt sei, dass sie für die Wirkung der
infrage stehenden Verbindung relevant seien.

Im Übrigen zähle Ethinyl nicht zu den üblicherweise in pharmazeutischen Verbin-
dungen verwendeten Gruppen.

Die von der Klägerin zum Beleg des Fachwissens herangezogenen Lehrbücher
beträfen auch keine Alkinyl-, insb. Ethinyl-Substituenten in Wirkstoffen für die On-
kologie.


Entscheidungsgründe

Die auf den Nichtigkeitsgrund des Art. 15 Abs. 1 c) der Verordnung (EG)
Nr. 469/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Mai 2009 über
das ergänzende Schutzzertifikat für Arzneimittel gestützte Klage ist zulässig. In
der Sache erweist sie sich jedoch nicht als begründet. Nach dem Erlöschen des
Grundpatents liegen keine Gründe vor, die seine Nichtigerklärung oder Beschrän-
kung gerechtfertigt hätten, jedenfalls nicht in einem Umfang, dass das Erzeugnis,
für welches das Zertifikat erteilt worden ist, nicht mehr von den Ansprüchen des
Grundpatent erfasst wird.

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I.

1. Das angegriffene Schutzzertifikat betrifft gemäß dem nach Beschwerde
geänderten Erteilungsbeschluss „Erlotinib und pharmazeutisch annehmbare Salze
davon in allen unter das Grundpatent fallenden Formen“.

In den zugrundeliegenden Genehmigungen für das Inverkehrbringen in der Euro-
päischen Gemeinschaft wird als Erzeugnis Tarceva-Erlotinib identifiziert und Erlo-
tinib in Form des Erlotinib-Hydrochlorids als Wirkstoff bzw. wirksamer Bestandteil
bezeichnet.


Erlotinib-Hydrochlorid (Handelsname: Tarceva)

Die im Erteilungsbeschluss bezeichnete Laufzeit des Schutzzertifikats beginnt am
7. Juni 2015 und endet am 21. März 2020.

2. Die Erfindung des im angegriffenen Schutzzertifikat benannten Grundpatents
EP 0 817 775 B1, das aus der in Form der WO 96/30347 A1 offengelegten
internationalen Anmeldung PCT/IB95/00436 vom 6. Juni 1995 hervorgegangen ist,
betrifft Chinazolin-Derivate, die in 4-Stellung des Chinazolins einen ein- oder
mehrfach substituierten Phenylamin-Rest aufweisen und die zur Behandlung von
hyperproliferativen Erkrankungen wie beispielsweise Krebs brauchbar sind (vgl.
EP 0 817 775 B1 S. 2 0001).

Zahlreiche Onkogene codieren Proteine, die unter anderem als Tyrosinkinasen
fungieren, in Krebszellen überexprimiert sind und über die Phosphorylierung spe-
zifischer Tyrosinreste in zellulären Proteinen die Zellproliferation bis hin zur
- 15 -
Transformation normaler Zellen in Krebszellen beeinflussen. Chemische Verbin-
dungen mit der Eigenschaft zur gegebenenfalls selektiven Hemmung der Tyrosin-
kinasen sind deshalb in der Lage, das Wachstum bestimmter Krebszellen zu ver-
langsamen.

Die Erfindung geht aus von bereits bekannten Chinazolin-Derivaten, deren Eig-
nung zur Behandlung von Krebserkrankungen auf ihrer Hemmwirkung der Tyro-
sinkinase-Aktivität des epidermalen Wachstumsfaktorrezeptors (EGFR-TK) beruht
(vgl. EP 0 817 775 B1 S. 2 0003 bis 0006, insbes. dort zitierte NIK4, NIK8,
HE14, HE15, HE16). Die TK-inhibierende Wirkung dieser Chinazolin-Derivate
kann mittels bereits bekannter in-vitro und/oder in-vivo Testmethoden bestimmt
werden (vgl. EP 0 817 775 B1 S. 12 Z. 19 bis 22; S. 12 Z. 41 bis 58).

Im zellfreien in-vitro Test wird die Hemmung der TK-katalysierten Phosphorylie-
rung eines geeigneten Peptidsubstrats an einem oder mehreren Tyrosinrest(en)
mit radioaktiv markiertem Adenosintriphosphat (gamma-32P-ATP oder gamma-33P-
ATP) gemessen. Im vorveröffentlichten Stand der Technik werden strukturell un-
terschiedliche Tyrosin-haltige Peptide als Substrate eingesetzt: Lys3-Gastrin; poly
GluTyr (4:1); Arg-Arg-Leu-Ile-Glu-Asp-Ala-Glu-Tyr-Ala-Ala-Arg-Gly; Angiotensin II;
Teilpeptid der Phospholipase C-γ1 Lys-His-Lys-Lys-Leu-Ala-Glu-Gly-Ser-Ala-Tyr-
Glu-Glu-Val (vgl. NIK3 S. 3; NIK4 S. 20 Z. 35/36; NIK8 S. 6 Z. 38/39; HE3 S. 85
Abs. 2; NIK18 S 1094 Fig. 2 Legende; J. Biol. Chem. 267 (1992) 20638 – zitiert in
EP 0 817 775 B1 S. 12 Z. 20/21).

3. Davon ausgehend liegt dem Grundpatent die Aufgabe zugrunde, neue
verbesserte Arzneistoffe gleicher Wirkungsrichtung bereitzustellen, die in der Lage
sind, die EGFR-Tyrosinkinase zu inhibieren und dadurch die Möglichkeit zur Be-
handlung diverser hyperproliferativer Erkrankungen, insbesondere die Möglichkeit
zur Behandlung von Krebserkrankungen eröffnen.

a) Gelöst wird diese Aufgabe durch ein- oder mehrfach substituierte 4-Phenyla-
min-chinazoline der Formel I gemäß den Patentansprüchen 1 bis 12 und 19,
- 16 -
pharmazeutische Zusammensetzungen gemäß Patentanspruch 22 enthaltend
Verbindungen der Formel I und durch die Verwendung dieser Verbindungen (zur
Herstellung von Arzneimitteln) zur Behandlung hyperproliferativer Erkrankungen,
insbesondere verschiedener Krebserkrankungen gemäß den Patentansprü-
chen 23 bis 28 des Grundpatents in der nachfolgenden maßgeblichen englisch-
sprachigen Fassung:

- 17 -


- 18 -

- 19 -

- 20 -

- 21 -

- 22 -


b) Sämtlichen Verbindungen gemäß Patentanspruch 1 des Grundpatents ist ein
Azido- oder ein gegebenenfalls substituierter Ethinyl-Rest am Phenylring des
Phenylamin-Substituenten in 4-Stellung des Chinazolins gemeinsam. Die Pa-
tentansprüche 10 bis 12 sind – abgesehen von einzelnen wenigen Azidophenyl-
amino-Derivaten – auf besonders bevorzugte, gegebenenfalls subsituierte
Ethinylphenylamin-Derivate gerichtet (vgl. EP 0 817 775 B1 S. 4 0012 i. V. m.
Beisp: 2 bis 20, 23 bis 105), wobei 6,7-(2-Methoxy-ethoxy) substituierte
Chinazoline als ein stofflicher Schwerpunkt der Erfindung des Grundpatents her-
ausgestellt sind (vgl. EP 0 817 775 B1 S. 6 [0014] i. V. m. S. 29 Prepns 1 bis 3
sowie Anspr. 20 und 21).

Patentanspruch 19 hat die gemäß Ausführungsbeipiel 20 hergestellte Einzelver-
bindung 6,7-Bis-(2-methoxyethoxy)-chinazolin-4-yl-(3-ethinylphenyl)-amin (INN-
Name: Erlotinib) in Form ihres pharmazeutisch annehmbaren Hydrochlorid-Salzes
zum Gegenstand.

4. Als Fachmann ist ein Team anzusetzen, das einen Chemiker der Fachrich-
tung organische Chemie, einen Pharmakologen und einen in der Forschung täti-
- 23 -
gen Mediziner umfasst, die jeweils promoviert haben und mit der Herstellung und
Entwicklung von Wirkstoffen gegen Krebs befasst und vertraut sind.

II.

Dem Gegenstand der Patentansprüche des Grundpatents kann die Ausführbarkeit
und die Patentfähigkeit nicht abgesprochen werden, jedenfalls nicht in der Ausge-
staltung des in dem angegriffenen Schutzzertifikat identifizierten Wirkstoffs
Erlotinib-Hydrochlorid.

Der Gegenstand des Grundpatents ist so deutlich und vollständig offenbart, dass
ein Fachmann die betreffende Lehre im beanspruchten Umfang sowohl in stoffli-
cher Hinsicht als auch zum Beleg der geltend gemachten physiologischen Wir-
kung ausführen kann (Art. 83 EPÜ).

Der Gegenstand des Grundpatents weist gegenüber dem vorgebrachten Stand
der Technik die erforderliche Neuheit auf (Art. 54 EPÜ). Er beruht zumindest in der
Ausgestaltung des 6,7-Bis-(2-methoxyethoxy)-chinazolin-4-yl-(3-ethinylphenyl)-
amins (Erlotinib) und seiner pharmazeutisch annehmbaren Salze, insbesondere in
Form des Erlotinib-Hydrochlorids gemäß Patentanspruch 19 sowie der darauf
rückbezogenen Patentansprüche 22 bis 28 auch auf einer erfinderischen Tätigkeit
(Art. 56 EPÜ), so dass das angegriffene Schutzzertifikat Bestand hat.

1. Der Gegenstand des Grundpatents kann ohne weiteres nachgearbeitet wer-
den, so dass die Erfindung des Grundpatents ausführbar offenbart ist. Dies gilt
nicht nur für die Chinazolin-Derivate der Formel I und dabei vor allem für 6,7-Bis-
(2-methoxyethoxy)-chinazolin-4-yl-(3-ethinylphenyl)-amin-hydrochlorid (Erlotinib-
Hydrochlorid) als Erzeugnis bzw. Wirkstoff des streitgegenständlichen Schutzzer-
tifikats, sondern auch für deren Verwendung zur Hemmung der EGFR-TK und zur
Behandlung hyperproliferativer Erkrankungen, insbesondere zur Behandlung von
Krebserkrankungen.

- 24 -
a) Die Herstellbarkeit der unter die Markush-Formel des Patentanspruchs 1
fallenden Chinazolin-Derivate ist anhand zahlreicher konkreter Ausführungsbei-
spiele und anhand allgemeiner Verfahrenswege und Arbeitsmethoden in der Be-
schreibung erläutert (vgl. WO 96/30347 A1 z. B. Anspr. 13 i. V. m. S. 6 Z. 30 bis
S. 9 Z. 3, S. 10 bis S. 19 Z. 3 sowie S. 50 bis 51 Prepns 1 und 2; EP 0 817 775 B1
S. 4 0013 bis S. 11 0050, insbes. S. 6 0014, S. 11 0049), so dass diese
Verbindungen im beanspruchten Umfang ohne weiteres zugänglich sind.

Aus der Markush-Formel des Patentanspruchs 1 sind sowohl bereits in den ur-
sprünglichen Anmeldeunterlagen als auch in dem daraus hervorgegangenen
Grundpatent zahlreiche Einzelverbindungen expressis verbis beschrieben und
damit individuell hervorgehoben, darunter 6,7-Bis-(2-methoxyethoxy)-chinazolin-
4-yl-(3-ethinylphenyl)-amin (Erlotinib) und dessen Hydrochlorid (vgl.
WO 96/30347 A1 und EP 0 817 775 B1, jeweils Beisp. 1 bis 105). Die Herstellbar-
keit der Base Erlotinib, ihres Hydrochloridsalzes gemäß Patentanspruch 19 und
weiterer pharmazeutisch annehmbarer Salze steht aufgrund der experimentellen
Anleitung in dem Ausführungsbeispiel 20 sowie in der Beschreibung außer Frage
(vgl. WO 91/30347 A1 S. 21 Beisp. 20 i. V. m. S. 18 Z. 20 bis S. 19 Z. 3 und S. 50
bis 51 Prepns 1 und 2; EP 0 817 775 B1 S 17/18 Beisp. 20 i. V. m. S. 11 0049).
Entsprechendes gilt für die Herstellbarkeit von pharmazeutischen Zusammenset-
zungen gemäß Patentanspruch 22, die diese Wirkstoffe enthalten (vgl.
WO 96/30347 A1 S. 21 Z. 26 bis S. 23 Z. 6; EP 0 817 775 B1 S. 13 0058 bis
0064).

Für die Verbindungen des beanspruchten Stoffkollektivs gemäß Patentanspruch 1
ist die Hemmung der EGFR-Tyrosinkinase beschrieben und diese inhibitorische
Wirkung – unter Bezugnahme auf Referenzliteratur – mittels im in-vitro Test er-
haltener IC50-Werte im Bereich von 0,1 nM bis 30 M belegt (vgl. WO 96/30347 A1
S. 19 Z. 13 bis S. 21 Z. 25, insbes. S. 20 Z. 28 bis 32; EP 0 817 775 B1 S. 12, ins-
bes. Z. 37 bis 40). Die Einzelverbindungen des anspruchsgemäßen Stoffkollektivs
unterscheiden sich bedingt durch ihre individuelle Feinstruktur trotz einer gemein-
samen, gegenüber dem Stand der Technik weiterentwickelten Leitstruktur
- 25 -
zwangsläufig mehr oder weniger in ihrer in-vitro Hemmwirkung, in ihrem in-vivo
Wirkungs- und Nebenwirkungsprofil sowie in ihrer Pharmakokinetik und Pharma-
kodynamik.

Einer lückenlosen Ausführbarkeit über die beanspruchte Breite eines Stoff-
und/oder eines Verwendungsanspruchs im Sinne eines lückenlosen Wirkungs-
nachweises anhand von in-vitro Daten bedarf es ohnehin nicht. Vielmehr genügt
ein zum Ziel führender Weg (vgl. BGH GRUR 2001, 813 - Taxol; BGH
GRUR 2013, 1210 - Dipeptidyl-Peptidase-Inhibitoren; BGH X ZR 88/13 v.
10. November 2015).

Durch den Rückbezug der anwendungsbezogenen Patentansprüche 22 bis 24 auf
den Stoffanspruch 19 bzw. den Stoffanspruch 12 liegen Erlotinib und dessen Hyd-
rochlorid, basierend auf der Hemmung der EGFR-TK, als Mittel zur Behandlung
von hyperproliferativen Erkrankungen und von Krebserkrankungen im Fokus der
Lehre des Grundpatents, so dass auch diesbezüglich die Ausführbarkeit der Lehre
des Grundpatents insbesondere betreffend das Erzeugnis bzw. den Wirkstoff des
angegriffenen Schutzzertifikats außer Frage steht.

b) Dass Erlotinib-Hydrochlorid als Einzelverbindung nicht bereits in den
ursprünglichen Unterlagen Gegenstand eines gesonderten Patentanspruchs ge-
wesen ist, sondern Patentanspruch 19 erst im Verlauf des Prüfungsverfahrens als
Bestandteil der zur Erteilung des Grundpatents vorgesehenen Anspruchsfassung
formuliert wurde, vermag weder die ursprüngliche Offenbarung von Erlotinib und
seines Hydrochlorids als Wirkstoff zur Hemmung der EGFR-Tyrosinkinase noch
den Patentanspruch 19 als solchen, insbesondere nicht dessen Zulässigkeit, in
Frage zu stellen. Denn in den ursprünglichen Unterlagen sind Erlotinib und sein
pharmakologisch zu verabreichendes Hydrochloridsalz nicht nur in individualisier-
ter Form, sondern auch bereits als eine bevorzugte Ausführungsform erkennbar
beschrieben (vgl. WO 96/30347 A1 S. 31 Beisp. 20 i. V. m. Anspr. 12 S. 58 Z. 2
sowie S. 50 bis 51 die Zwischenverbindungen der Prepns 1 und 2).

- 26 -
c) Für die Ausführbarkeit der Stofferfindung des Grundpatents sind konkrete in-
vitro und/oder in-vivo Zahlenwerte einer physiologischen Wirkung einzelner der
beanspruchten Chinazolin-Derivate am Anmelde- bzw. Prioritätstag nicht erforder-
lich. Denn die Stofferfindung ist mit der Bereitstellung eines Stoffes mit neuer che-
mischer Konstitution fertig (BGH GRUR 1972, 541 - Imidazoline).

Physiologische Daten können im Rahmen der ursprünglichen stofflichen und wir-
kungsgemäßen Offenbarung regelmäßig nachgebracht werden, beispielsweise im
Prüfungsverfahren nach Aufforderung im Prüfungsbescheid. Über in-vitro und/oder
in-vivo Versuche an Zellkulturen hinausgehende Daten am lebenden Tier oder am
Menschen sind zur Offenbarung der Ausführbarkeit der Lehre des vorliegenden
Grundpatents ohnehin nicht zu fordern.

Davon zu unterscheiden sind die über das Patenterteilungs-, Einspruchs- und
Nichtigkeitsverfahren des Grundpatents hinausgehenden, für die Genehmigung für
das Inverkehrbringen eines Arzneimittel(wirkstoffs) in der Europäischen Gemein-
schaft notwendigen Daten der präklinischen und klinischen Prüfphasen, die
wiederum Voraussetzung für die Erteilung eines ergänzenden Schutzzertifikats für
Arzneimittel auf Basis eines in Kraft befindlichen Grundpatents sind. Die zur Zu-
lassung des Erzeugnisses bzw. Wirkstoffs Erlotinib-Hydrochlorid und damit zur
Erteilung eines ergänzenden Schutzzertifikats erforderlichen Ergebnisse der Be-
handlung am Tier und am Menschen lagen – von der Klägerin unbestritten – je-
denfalls zum Zeitpunkt der Anmeldung des angegriffenen Schutzzertifikats in Form
der Genehmigung EU/1/05/311/001-003 vom 19. September 2005 vor (EG-
V Nr. 469/2009 v. 6. Mai 2009, Art. 3b).

d) Deshalb greift auch das Vorbringen der Klägerin nicht, das Grundpatent lie-
fere mangels konkreter experimenteller in-vitro und in-vivo Daten sowie wegen
fehlender Ergebnisse präklinischer und/oder klinischer Studien keinen Beleg für
die therapeutische Wirksamkeit der beanspruchten Chinazolin-Derivate, insbe-
sondere auch nicht für Erlotinib-Hydrochlorid, so dass die Lehre der Patentan-
sprüche 22 bis 28 nicht ausführbar sei. Denn durch Patentanspruch 19 als einzi-
- 27 -
gem auf eine Einzelverbindung gemäß der Markush-Formel gerichteten Stoffan-
spruch wird Erlotinib-Hydrochlorid als besonders bevorzugte Ausführungsform
bzw. Zielverbindung der Erfindung des Grundpatents hervorgehoben und durch
die darauf unmittelbar bezogenen Patentansprüche 22 bis 24 in Verbindung mit
den darauf wiederum mittelbar Bezug nehmenden Patentansprüchen 25 bis 28 die
Entwicklung zur Marktreife als Zielsetzung erkennbar. Eine derartige Selektion des
Erlotinib-Hydrochlorids als potentielles Entwicklungsprodukt ist nur in Kenntnis be-
sonders günstiger in-vitro und in-vivo Daten möglich, die zwar in den Erstunterla-
gen und im Grundpatent nicht angegeben sind und – wie vorstehend ausgeführt –
ursprünglich auch nicht offenbart sein müssen. Diese in-vitro und in-vivo Daten
waren jedoch am Prioritäts- bzw. Anmeldetag auf Basis der bereits bekannten und
in den Erstunterlagen zitierten Testmethoden ohne weiteres messbar und sind
deswegen jedenfalls für das Erlotinib-Hydrochlorid als mitoffenbart anzusehen
(vgl. WO 96/30347 A1 S. 19 Z. 13 bis S. 21 Z. 25; EP 0 817 775 B1 S. 12 Z. 19 bis
22, 41 bis 58).

Soweit sich die Klägerin auf die Entscheidung T 609/02 der Technischen Be-
schwerdekammer des Europäischen Patentamts bezieht, ist diese Entscheidung
für den vorliegenden Fall der Stofferfindung des Grundpatents nicht einschlägig
und damit auch nicht maßgeblich. Denn das der Entscheidung T 609/02 zugrunde
liegende Patent EP 0 552 202 B1 und dessen Patentansprüche betreffen – anders
als das Grundpatent des hier angegriffenen Schutzzertifikats – lediglich ein (Ar-
beits)Verfahren bzw. eine Methode zur Identifizierung von Steroidhormonen und
deren Analoga sowie deren Anwendung in pharmazeutischen Zusammensetzun-
gen zur Behandlung anormaler Zellen und daraus resultierender Erkrankungen,
ohne dabei auch nur einen einzigen Wirkstoff oder ein stofflich konkret bezeich-
netes Kollektiv von Wirkstoffen bereitzustellen. Die Entscheidung T 609/2 befasst
sich demnach mit der Frage der Patentfähigkeit eines sogenannten Durchgriffsan-
spruchs (Reach-Through Claim) bzw. der Durchführung eines Forschungsauftrags
an sich (vgl. EPA T 1063/06 vom 3. Februar 2009), und nicht mit der Frage der
Patentfähigkeit einer (Wirk)Stofferfindung des vorliegenden Streitfalls.

- 28 -
Selbst wenn am Anmeldetag des Grundpatents nicht bekannt war, ob und gege-
benenfalls welche der über die synthetisierten Einzelverbindungen der Ausfüh-
rungsbeispiele 1 bis 105, insbesondere über die in den Unteransprüchen expres-
sis verbis hervorgehobenen Wirkstoffe hinausgehenden Verbindungen aus dem
Markush-Kollektiv des Patentanspruchs 1 tatsächlich eine zumindest brauchbare
in-vitro Aktivität aufweisen, steht dies der Ausführbarkeit der Erfindung und damit
einer Patentierung der neuen Chinazolin-Derivate im beanspruchten Umfang nicht
entgegen. Die Erfindung des Grundpatents betrifft nicht die Verwendung neuer
Chinazolinderivate zur Behandlung von Krebserkrankungen ohne Offenbarung ei-
ner konkreten Wirkfunktion, sondern die spezifische und selektive Inhibierung der
EGFR-Tyrosinkinase als Zielmolekül, die mittels der bereits in den Anmeldeunter-
lagen offenbarten Arbeitsweisen auch ohne weiteres zu messen ist.

Eine Beschränkung der Patentansprüche auf Ausführungsformen, hier Einzelver-
bindungen, die in den ursprünglich eingereichten Unterlagen expressis verbis be-
schrieben sind, ist nicht erforderlich. Es kann zulässig sein, im Patentanspruch
verallgemeinernd eine Gruppe von Stoffen aufzuführen, auch wenn nicht sämtli-
che zu dieser Gruppe gehörenden Stoffe in überlegener Weise geeignet sind, so-
fern der Fachmann die Eignung der einzelnen Stoffe unschwer durch Versuche
feststellen kann. Dies gilt sogar dann, wenn – wie vorliegend nicht der Fall – unter
einen so gefassten Patentanspruch auch Substanzen fallen, die es derzeit noch
nicht gibt oder die bislang noch nicht aufgefunden wurden. Für eine deutliche und
vollständige Offenbarung ist nicht einmal erforderlich, dass die Beschreibung Hin-
weise darauf enthält, wie sämtliche denkbaren Ausführungsformen der Erfindung,
in vorliegenden Fall die unter die funktionelle Definition der Patentansprüche 24
bis 28 (i. V. m. Beschr. S. 12 0051 bis 0057) fallenden Chinazolinderivate des
Patentanspruchs 1, zu erhalten sind (vgl. EPA T 609/02; BGH GRUR 2013, 1210 -
Dipeptidyl-Peptidase-Inhibitoren).

e) Auch dem weitergehenden Vorbringen der Klägerin zur mangelnden Ausführ-
barkeit unter Bezugnahme auf den Versuchsbericht NIK3, wonach die im Grund-
patent offenbarten Verfahren und Arbeitsweisen nicht zur Aufreinigung des huma-
- 29 -
nen EGF-Rezeptors geeignet seien und deshalb die zu hemmende Phosphorylie-
rungsreaktion nicht habe gemessen werden können, kann nicht beigetreten wer-
den. Denn die in dem Grundpatent zitierten Originalarbeiten zur Durchführung der
in-vitro und in-vivo Experimente (vgl. EP 0 817 775 B1 S. 12 0055 bis 0057),
vor allem das Affinitätsverfahren zur Herstellung des solubilisierten humanen
EGF-Rezeptors aus A431 Zellen (vgl. die in EP 0 817 775 B1 S. 12 Z. 22 bis 23
zitierte HE3), geben keinen Anlass, an der Herstellbarkeit des EGF-Rezeptors und
an der Bestimmbarkeit der TK-inhibierenden Wirkung der beanspruchten Chinazo-
lin-Derivate, damit auch des Erlotinib-Hydrochlorids, am Anmeldetag des Gund-
patents zu zweifeln.

In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass der seitens der Klägerin einge-
reichte Versuchsbericht NIK3 – wie darin im Übrigen auch zugestanden – von den
Arbeitsweisen zur Reinigung eines EGFR-Proteins mit funktionsfähiger Tyrosin-
kinase der im Grundpatent zitierten HE3 abgewichen ist und damit jedenfalls in-
soweit die Lehre des Grundpatents (vgl. EP 0 817 775 B1 S. 12 0055 bis 0056)
verlassen hat, was auch zu einer niedrigeren Konzentration des gereinigten EGF-
Rezeptorproteins und damit zu nicht vergleichbaren Bedingungen geführt hat (vgl.
NIK3 S. 15 le. Abs. bis S. 16 etwa Mitte, S. 19 Abs. 5).

2. Die im Übrigen nicht angegriffene Neuheit der Gegenstände der zueinander
in Nebenordnung stehenden Patentansprüche 1 und 13 sowie 22 bis 24 des
Grundpatents ist anzuerkennen, da aus keiner der vorgebrachten zeitrangälteren
Druckschriften Chinazolin-Derivate der Formel I und sie enthaltende pharmazeuti-
sche Zusammensetzungen und/oder deren Verwendung zur Behandlung
hyperproliferativer Erkrankungen einschließlich Krebserkrankungen hervorgehen.
Dies gilt auch für das Erzeugnis bzw. den Wirkstoff Erlotinib und für dessen phar-
makologisch annehmbare Salze des angegriffenen Schutzzertifikats.

3. Die Verbindungen gemäß Formel I des Patentanspruchs 1 des Grundpa-
tents, insbesondere das in dem angegriffenen Schutzzertifikat als Erzeugnis bzw.
- 30 -
Wirkstoff identifizierte Erlotinib-Hydrochlorid des Patentanspruchs 19, beruhen
auch auf einer erfinderischen Tätigkeit.

Unter Berücksichtigung der Aufgabe (vgl. Absatz I.3) ist für die Beurteilung der er-
finderischen Tätigkeit zunächst zu untersuchen, ob der Fachmann ausgehend von
den vorbeschriebenen Chinazolin-Derivaten mit TK-inhibitorischer Wirkung (vgl.
NIK4, NIK5, NIK8, NIK18, HE14, HE15, HE16) unter Berücksichtigung seines
Fachwissens, zu dem auch die seitens der Klägerin vorgebrachten Arbeiten zur
Beziehung zwischen Struktur und Wirkung bei Arzneimittelwirkstoffen (vgl. NIK6,
NIK7, NIK9 bis NIK16, NIK19 und NIK20) zählen, ohne erfinderisches Zutun zum
Gegenstand des Patentanspruchs 1 und/oder des Patentanspruchs 19 des
Grundpatents gelangen konnte.

Darüber hinaus ist zu untersuchen, ob mit der Bereitstellung der neuen Chinazo-
linderivate gleicher Wirkungsrichtung auch eine verbesserte Wirkung bzw. eine
therapeutische Verbesserung gegenüber den strukturell nächstkommenden Ver-
bindungen des Standes der Technik erzielt wird, was als Anzeichen bzw. Nach-
weis für das Vorliegen einer erfinderischen Tätigkeit zu werten ist.

a) Die zeitrangälteste der vorgebrachten Druckschriften NIK8 (vgl. a. a. O.
S. 16/17 Anspr. 1 und 3) betrifft pharmazeutische Zusammensetzungen enthal-
tend bereits bekannte oder neue Chinazolin-Derivate mit inhibitorischer Wirkung
auf die EGFR-Tyrosinkinase der allgemeinen Formel

,

in der

- 31 -




(o. g. Übersetzung übernommen aus dem deutschsprachigen Anspruch 1 der B1-
Schrift)

Gemäß NIK8 wurden auf ihre Hemmwirkung exemplarisch (Chinazolin-4-yl)-(3-
methylphenyl)-amin mit einem IC50 von 0,18 M, (Chinazolin-4-yl)-(3-chlorphenyl)-
amin mit einem IC50 von 0,04 M, (Chinazolin-4-yl)-(3-bromphenyl)-amin mit ei-
nem IC50 von 0,02 M und (7-Chlorchinazolin-4-yl)-(3-chlorphenyl)-amin mit einem
IC50 von 0,02 M jeweils im in-vitro Test mit teilweise gereinigter solubilisierter
EGFR-TK getestet (vgl. NIK8 S. 7 Z. 4 bis 13 i. V. m. S. 6 Z. 17 bis 54).

Die NIK5 untersucht eine Stoffauswahl der nachfolgenden Formel, die unter das
Stoffkollektiv der NIK8 fällt, hinsichtlich möglicher Struktur-Wirkung-Beziehungen
(SAR) der Hemmung der EGFR-Tyrosinkinase und einer darauf beruhenden An-
tikrebswirkung.



Dabei wird der Substituent R mit Ausnahme R = m-Cl weder hinsichtlich seiner
Position am Phenylring noch hinsichtlich seiner stofflichen Beschaffenheit expres-
- 32 -
sis verbis benannt. Als Ergebnis wird ausgeführt, dass die wirksamsten Verbin-
dungen die EGFR-TK kompetitiv zu ATP und nicht-kompetitiv zum Peptid- bzw.
Proteinsubstrat inhibieren, in der Meta-Position des 4-Anilinrestes kleine, relativ
unpolare Substituenten aufweisen und ihre IC50-Werte bei etwa 20 nM liegen. Aus
diesem Kollektiv wird lediglich für die konkrete Einzelverbindung R = m-Cl bei hu-
manen KB nasopharyngealen Krebszellen ein Hemmwert von 4 M im in-vitro
Test angegeben, wobei die übrigen Verbindungen im Bereich von 1 bis 10 M lie-
gen. Der Unterschied zwischen den Hemmwerten isolierter EGFR-TK und dem
zellgebundenen Enzym wird auf eine gegenüber einer Konzentration von 20 M
im Test mit dem freien solubilisierten Enzym mit 2 mM höhere lokale intrazelluläre
Konzentration des ATP zurückgeführt. Zur Bedeutung gegebenenfalls weiterer zu-
sätzlicher Substituenten am Phenyl- und/oder Chinazolinring erhält der Fachmann
aus der NIK5 keinerlei Information.

Auch die gegenüber der NIK8 später angemeldete NIK4 (vgl. a. a. O. S. 58/59
Anspr. 1) betrifft Chinazolin-Derivate der allgemeinen Formel

,

in der
- 33 -



(o. g. Übersetzung übernommen aus dem deutschsprachigen Anspruch der B1-
Schrift)

Gemäß NIK4 wurden auf ihre Hemmwirkung exemplarisch (6,7-Dimethoxy-
chinazolin-4-yl)-(3-methylphenyl)-amin mit einem IC50 von 5 nM, (6,7-Dimethoxy-
- 34 -
chinazolin-4-yl)-(3-trifluormethylphenyl)-amin mit einem IC50 von 0,01 M, (6-Ami-
nochinazolin-4-yl)-(3-methylphenyl)-amin mit einem IC50 von 0,055 M, (6-Aceta-
midochinazolin-4-yl)-(3-methylphenyl)-amin mit einem IC50 von 0,01 M 7-(2-Hyd-
roxyethoxy)-6-methoxy-chinazolin-4-yl-(3-methylphenyl)-amin mit einem IC50 von
5 nM jeweils im in-vitro Test mit teilweise gereinigter solubilisierter EGFR-TK ge-
testet (vgl. NIK4 S. 21 Z. 17 bis 30 i. V. m. S. 20 Z. 14 bis 51).

Die NIK18 beschreibt das in dem Stoffkollektiv der NIK4 bereits als Einzelverbin-
dung identifizierte (6,7-Dimethoxy-chinazolin-4-yl)-(3-bromphenyl)-amin (vgl. NIK4
S 24 Beispiel 2, Verbindung Nr. 2), ein Entwicklungsprodukt der Parke-Davis
Pharmaceutical Research mit dem Code PD 153035



als besonders potenten in-vitro Hemmstoff. Für dieses Chinazolin-Derivat wird im
in-vitro Test mit einem entsprechend der HE3 isolierten EGFR ein IC50-Wert von
29 +/- 5,1 pM ermittelt (vgl. NIK18 S. 1093 re. Sp. le. Abs. i. V. m. S. 1094 Fig. 2
nebst Legende).

Neben den in NIK4, NIK5, NIK8 und NIK18 beschriebenen Chinazolin-Derivaten
mit TK-inhibitorischer Wirkung waren dem Fachmann vor dem Prioritätstag des
Grundpatents noch zahlreiche andere strukturell weiterentwickelte Chinazolin-De-
rivate gleicher Wirkungsrichtung bekannt, darunter auch die Chinazolin-Derivate
aus den bereits im Grundpatent zitierten Druckschriften HE14

- 35 -


mit einem 9- oder 10-Atome aufweisenden Heterobicyclus als Rest Q,

HE15


mit ähnlichen, teilweise mit NIK4 überlappenden Substituenten R1, R2, R3 und
deshalb zahlreichen identischen Verbindungen zu NIK4 und

HE16


- 36 -
worin R1 und R2 zusammen einen am Benzolring des Chinazolins ankondensier-
ten 5- oder 6-Heterocyclus bilden.

b) Die Chinazolin-Derivate des Grundpatents lassen sich für den Fachmann
nicht in nahe liegender Weise aus dem vorveröffentlichten, vorstehend unter 3.a)
abgehandelten Stand der Technik herleiten, auch nicht unter Berücksichtigung
seines Wissens zu Struktur-Wirkungs-Beziehungen von Arzneimittelwirkstoffen im
allgemeinen und von EGFR-Tyrosinkinasen im speziellen. Sowohl bei gesonderter
als auch bei zusammenschauender Betrachtung der Chinazolin-Derivate der
NIK4, NIK5, NIK8 und NIK18 sowie HE14 bis HE16 hat die Bereitstellung der Ver-
bindungen gemäß Patentanspruch 1 des Grundpatents nicht nahegelegen, erst
recht nicht die Bereitstellung des Erlotinib-Hydrochlorids des Patentanspruchs 19,
dem in dem angegriffenen Schutzzertifikat identifizierten Wirkstoff.

b.1) Weder in der Markush-Formel I der NIK4 noch in der Markush-Formel I der
NIK8 ist am Phenylring des Phenylamin-Rests ein Azido- oder ein gegebenenfalls
substituierter Ethinylrest beschrieben, dementsprechend auch nicht in der allge-
meinen Formel 1 der NIK5 und in der lediglich eine Einzelverbindung aus NIK4
betreffenden NIK18. Mangels Vorkommen dieser Substituenten in den weiteren
zum Prioritätstag des Grundpatents bekannten Chinazolin-Derivaten (vgl. insbe-
sondere die im Grundpatent zitierten HE14, HE15, HE16) konnte der Fachmann
aus dem gattungsgemäßen, weil hinsichtlich stofflicher Beschaffenheit und Wir-
kungsrichtung nächstkommenden Stand der Technik keinerlei Anregung erhalten,
die ihn hätte zum Gegenstand des Grundpatents hinführen können. Deswegen
bestand für ihn auch kein Anlass, eine derartige Derivatisierung bereits bekannter
Chinazolin-Derivate vorzunehmen (vgl. BGH GRUR 2009, 1039 - Fischbiss-
anzeiger).

Soweit sich die Klägerin auf den allgemeinen Hinweis auf kleine, relativ unpolare
Substituenten am Phenylamin-Rest in der NIK5 stützt, vermag auch dieser Passus
der NIK5 dem Fachmann keine Anregung zu geben, aus dem zur Verfügung ste-
- 37 -
henden Kollektiv kleiner, relativ unpolarer Substituenten seines Synthesebaukas-
tens gerade den Azido- und/oder den ggf. substituierten Ethinylrest auszuwählen.

b.2) Auch eine zusammenschauende und vergleichende Bewertung der in-vitro
Wirkung der Strukturvarianten derjenigen Einzelverbindungen, die in den Druck-
schriften NIK4, NIK5, NIK8, NIK18 und HE14 bis HE16 anhand von in-vitro IC50-
Hemmwerten hervorgehoben sind, lässt den Fachmann nicht zu Azido- und/oder
Ethinylderivaten gelangen.

b.2.1) Aus dem Kollektiv der durch in-vitro Hemmwerte gekennzeichneten
Chinazoline der NIK4 (vgl. a. a. O. S. 21 Z. 23 bis 30) ragen (6,7-Dimethoxy-chi-
nazolin-4-yl)-(3-methylphenyl)-amin und 7-(2-Hydroxyethoxy)-6-methoxy-chinazo-
lin-4-yl)-(3-methylphenyl)-amin mit IC50 von jeweils 5 nM im zellfreien in-vitro Test
und 50 bzw. 140 nM im Test an Krebszellkulturen hervor, während für Chinazolin-
Derivate mit dem 3-Trifluormethylrest und dem 6-Amino- bzw. 6-Acetamido-Rest
höhere Hemmwerte beschrieben sind. Aus dem Kollektiv der NIK8 (vgl. a. a. O.
S. 7 Z. 9 bis 13) sind ergänzend dazu (Chinazolin-4-yl)-(3-chlorphenyl)-amin mit
40 nM, (Chinazolin-4-yl)-(3-bromphenyl)-amin mit 20 nM und (7-Chlor-chinazolin-
4-yl)-(3-chlorphenyl)-amin mit 20 nM, jeweils im zellfreien in-vitro Test, hervorge-
hoben, wobei sich unter Einbeziehung der Ausführungen in NIK5 in der Gesamt-
schau ein Methyl-, Chlor- oder Bromsubstituent in 3-Stellung des Phenylamin-
Rests sowie ein Methoxy-, 2-Hydroxyethoxy oder ein Chlorsubstituent am Car-
bocyclus des Chinazolins als bevorzugt ergeben. Eine Anregung hin zu einem
Ethinyl- oder Azido-Substituenten in 3-Stellung des Phenylamin-Rests in Kombi-
nation mit zwei 2-Methoxy-ethoxy-Substituenten am Carbocyclus des Chinazolins
erhält der Fachmann daraus nicht, auch nicht unter Berücksichtigung des in NIK18
auf seine Hemmwirkung hin untersuchten (6,7-Dimethoxy-chinazolin-4-yl)-(3-
bromphenyl)-amins des Beispiels 2 Verbindung Nr. 2 der NIK4.

Bei einer zusammenschauenden vergleichenden Struktur-Wirkungs-Analyse vor-
veröffentlichter gattungsgemäßer Chinazolin-Derivate dürfen allerdings diejenigen
Einzelverbindungen nicht unberücksichtigt bleiben, die in den im Grundpatent als
- 38 -
Stand der Technik zitierten HE14 bis HE16 anhand von in-vitro Daten hervorge-
hoben sind. Die Daten der HE14 bis HE16 geben dem Fachmann durchaus An-
lass, in 4-Stellung des Chinazolingerüsts unter Beachtung der in-vitro Hemmwerte
eher einen 5-Indolylamino-Rest vorzusehen (vgl. HE14 S. 15 Z. 40 bis 45: IC50 =
1 nM). Der Verzicht auf einen oder gar beide Alkoxysubstituenten am Carbocyclus
unter Beibehaltung des 3-Methylphenylamin-Rests oder die Disubstitution des
Phenylaminrests (vgl. HE15 S. 11 Z. 1 bis 5: IC50 = 10 nM, 70 nM und 75 nM) füh-
ren dagegen ebenso wie die strukturelle Weiterentwicklung des Chinazolingerüsts
hin zum tricyclischen Imidazochinazolingerüst unter Beibehaltung des 3-Methyl-
phenylamin-Rests (vgl. HE16 S. 10 Z. 11 bis 14: IC50 = 16 nM und 35 nM) eher zu
einer Abschwächung der in-vitro Hemmwirkung.

Demnach lässt sich für den Fachmann eine Kombination aus zwei 2-Me-
thoxyethoxy-Substituenten in 6- und 7-Position und aus einem 3-Ethinyl- oder 3-
Azidophenylamin-Substituenten in 4-Position des Chinazolingerüsts auch nicht in
nahe liegender Weise aus einer eingehenden Analyse der Strukturdaten und in-
vitro Hemmwerte des gattungsgemäßen Standes der Technik ableiten.

b.2.2) Das Vorbringen der Klägerin, aus Gründen einer einfachen „Symmetriebe-
trachtung“ habe der Fachmann die strukturell dem Erlotinib nächstkommende 3-
Methylphenylamin-Verbindung des Beispiels 51 der NIK4, obwohl in der NIK4
selbst nicht durch in-vitro Daten gekennzeichnet, lediglich in nahe liegender Weise
mit der im in-vitro Test herausragenden 3-Bromphenylamin-Verbindung der NIK18
strukturell fusionieren müssen, um zu einem brauchbaren Wirkstoff zu gelangen,
führt jedenfalls nicht zu den 3-Azido- und/oder 3-Ethinylphenylamin-Chinazolinen
des Grundpatents, insbesondere nicht zu Erlotinib und seinen pharmazeutisch an-
nehmbaren Salzen.

- 39 -


(elektronische Fotokopie aus dem Klageschriftsatz vom 26. Juni 2015 VII.31.)

Der Strukturvergleich der in NIK4 und NIK8 hervorgehobenen und durch in-vitro
Hemmwerte zwischen 5 nM und 180 nM gekennzeichneten Chinazolinderivate
lässt den Fachmann weder eine Tendenz für den 3-Methyl- oder 3-Bromsubsti-
tuenten gegenüber dem 3-Trifluormethyl- oder 3-Chlorsubstituenten noch eine
vorteilhafte Kombination mit jeweils einem 2-Methoxyethoxy-Substituenten in 6-
und 7-Position des Chinazolingerüsts erkennen. Auch unter Berücksichtigung der
NIK5, wonach kleine, relativ unpolare Substituenten am Phenylamin-Rest günstig
sind, geben ihm diese Druckschriften nicht den Anlass, sich von den dort in 3-Po-
sition realisierten Substituenten abzuwenden, und lassen ihn deshalb nicht
zwangsläufig zu Erlotinib gelangen.

Dass die durch NIK18 hervorgehobene Verbindung (6,7-Dimethoxy-chinazolin-4-
yl)-(3-bromphenyl)-amin den Patentschutz der NIK4 genießt und deswegen für
den Fachmann, wie die Klägerin vorbringt, die Motivation bestanden habe, sich
dem Patentschutz durch eine strukturelle Weiterentwicklung dieser Verbindung zu
entziehen, gibt dem Fachmann nicht zwangsläufig Anlass und Anregung zum Er-
satz der beiden Methoxysubstituenten in 6- und 7-Stellung durch zwei 2-Me-
thoxyethoxy-Substituenten und zum Einbau eines gegebenenfalls substituierten
Ethinyl- oder eines Azido-Substituenten in 3-Position des Phenylamin-Rests. Die
- 40 -
NIK5, die aus der gleichen Autorengruppe stammt und zeitlich nach der NIK4 und
NIK8 und somit in deren Kenntnis veröffentlicht wurde, trifft nicht nur mit dem klei-
nen, relativ polaren Rest am Phenylamin, sondern auch mit dem Verzicht auf die
Substitution der Wasserstoffatome in 6- und 7-Position des Chinazolingerüsts be-
reits eine stoffliche Auswahl gegenüber NIK4 und NIK8, allerdings gerade nicht hin
zum Gegenstand des Grundpatents. Vielmehr ist der Verzicht in NIK5 auf Substi-
tuenten in 6- und 7-Position im Hinblick auf die Zusammenschau der NIK4 und
NIK8 nicht ohne weiteres plausibel und die Maßgabe hinsichtlich Größe und Pola-
rität des Substituenten in 3-Position des Phenylamin-Rests lediglich als vage An-
regung zu bewerten.

Die Druckschriften NIK4, NIK5 und NIK8 lassen deshalb den Fachmann unter Be-
rücksichtigung der dort angegebenen in-vitro Hemmwerte und daraus ableitbaren
Beziehungen zwischen Struktur und Wirkung nicht zu einem Ethinyl-Substituenten
in 3-Position des Phenylamin-Rests und jeweils einem 2-Methoxyethoxy-Substi-
tuenten in 6- und 7-Position des Chinazolins und damit nicht zu Erlotinib und sei-
nen pharmazeutisch annehmbaren Salzen gelangen, auch nicht unter Einbezie-
hung der Lehre der NIK18.

Die weiteren Überlegungen der Klägerin, wonach sich der Fachmann sowohl an
der Verbindung des Beispiels 51 von NIK4 als auch an der Verbindung des Bei-
spiels 2 Nr. 2 von NIK4, letzteres hervorgehoben durch die herausragenden in-
vitro Testwerte der NIK18, orientieren werde und die Strukturen dieser beiden
Verbindungen als Ausgangspunkte gewählt habe, bedienen sich der Kenntnis der
strukturellen Weiterentwicklung des Grundpatents und beruhen deshalb auf einer
unzulässigen ex-post Betrachtung. Die Klägerin lässt in ihren Überlegungen
andere Varianten als Basis für eine strukturelle Weiterentwicklung außer Acht, die
sich anhand vorveröffentlichter in-vitro Hemmwerte durchaus auch als
erfolgversprechend darstellen, beispielsweise Chinazolinderivate mit Amino-,
Methoxy- und/oder 2-Hydroxyethoxy-Substituenten in 6- und/oder 7-Stellung (vgl.
NIK4 S. 21 Z. 17 bis 30), mit einem 5-Indolyl-Rest in 4-Stellung (vgl. HE14 S. 15
- 41 -
Z. 40 bis 45) oder mit einem ankondensierten Imidazolring (vgl. HE16 S. 10 Z. 11
bis 14).

Die Verbindung des Beispiels 51 aus NIK4 wird entsprechend dem Vortrag der
Klägerin zwar als eine von drei Einzelverbindungen mit dem Attribut „a further
specific preferred compound“ bezeichnet, wobei die beiden anderen Verbindungen
in 6-Stellung einen Dimethylamino- oder einen Benzamido-Substituenten und da-
mit von den zwei 2-Methoxyethoxy-Substituenten grundsätzlich verschiedenen
Substituenten aufweisen (vgl. NIK4 S. 18 Z. 15 bis 18 i. V. m. Anspr. 9). Jedoch
sind in der Beschreibung der NIK4 auch andere, jeweils unterschiedliche Substi-
tuentenmuster mit dem Attribut „specific preferred“ versehen (vgl. NIK4 S. 16 Z. 46
bis 51, S. 17 Z. 17 bis 24, Z. 53 bis 59), so dass sich hieraus für den Fachmann
keine Richtung für eine strukturelle Weiterentwicklung erkennen lässt, insbeson-
dere nicht auf Basis der Verbindung des Beispiels 51 der NIK4. Die Gesamtschau
der NIK4 lässt den Fachmann gerade nicht vermuten, dass die Einzelverbindung
des Beispiels 2 Nr. 2, wie aus den Daten der NIK18 ersichtlich, den weitaus bes-
ten in-vitro Hemmwert des in NIK4 offenbarten Stoffkollektivs aufweisen könnte,
zumal diese Verbindung, sieht man von dem Ausführungsbeispiel 2 Nr. 2 ab, we-
der in den Ansprüchen expressis verbis benannt, noch in der Beschreibung mit
dem Attribut „specific preferred“ bezeichnet ist.

Wenngleich auf dem Gebiet der biologischen Wirkstoffe, hier Arzneimittelwirk-
stoffe, schon bei kleinsten strukturellen Änderungen stets mit einer Wirkungsstei-
gerung oder Wirkungsverminderung gerechnet werden muss, gab es für den
Fachmann in den hier maßgeblichen vorveröffentlichten Druckschriften keinerlei
Anhaltspunkte, in welcher Richtung er strukturelle Veränderungen vornehmen
könnte, um zu Chinazolin-Derivaten mit gegebenenfalls überraschend vorteil-
haften Eigenschaften zu gelangen.

b.3) Ein Azido-Rest und/oder ein gegebenenfalls substituierter Ethinyl-Rest als
erfolgversprechende Substituenten an dem in 4-Stellung des Chinazolin-Gerüsts
sitzenden Phenylamin lassen sich für den Fachmann darüber hinaus auch nicht
- 42 -
aus seinem Fachwissen betreffend die Beziehung zwischen Struktur und Wirkung
bei anderen biologisch aktiven Wirkstoffen, insbesondere auch nicht bei Arznei-
mittelwirkstoffen herleiten (vgl. z. B. NIK6, NIK7, NIK9 bis NIK16, NIK19 und
NIK20).

b.3.1) Die in den Druckschriften NIK6, NIK7, NIK9 bis NIK16, NIK19 und NIK20
abgehandelten Wirkstoffe betreffen, soweit sie einen gegebenenfalls substituierten
Ethinylrest aufweisen, nicht das Indikationsgebiet hyperproliferativer Erkrankun-
gen, insbesondere nicht Krebserkrankungen.

Die seitens der Klägerin anhand des Merck-Index NIK10 beispielhaft zitierten
Wirkstoffe mit einem gegebenenfalls substituierten Ethinylrest werden zu anderen
arzneilichen Anwendungen eingesetzt: Alfaprostol (Prostaglandin-Analogon, Re-
produktionsmedizin), Ethchlorvynol (hypnotisch, sedierend), Haloprogin und
Terbinafin (Antimykotika, Humanfungizide), Hexapropymat, Meparfynol und Me-
thohexital (jeweils hypnotisch und sedierend), Oxybutynin (Parasympatholytikum,
Bettnässen), Pargylin (ZNS-aktiv, MAO-Hemmer), Parsalmid (NSAI,
Muskelrelaxans, anxiolytisch), Phthalofyn (Anthelmintikum), Pinazepam (ZNS-ak-
tiv, sedierend, anxiolytisch, Muskelrelaxans), Beraprost und Iloprost (Prostacyclin-
Analoga, Thrombozytenaggregationshemmer, Vasodilatoren), Selegilin (ZNS-ak-
tiv, MAO-Hemmer, Antiparkinson). Dies gilt auch für die allgemeinen Ausführun-
gen in den Lehrbüchern, Monographien und Übersichtsartikeln NIK6, NIK7, NIK9,
NIK11 bis NIK13 sowie die darin abgehandelten spezifischen Wirkstoffe mit einem
gegebenenfalls substituierten Ethinylrest. Eine Anregung zur Derivatisierung von
EGFR-TK hemmenden und deshalb antihyperproliferativ wirkenden Chinazolinen
durch Einbau eines Ethinylsubstituenten konnte der Fachmann daraus jedenfalls
nicht bekommen.

Arzneimittelwirkstoffe mit einem Azido-Substituenten sind in diesen Druckschriften
weder beschrieben noch nahegelegt. Sie sind im Hinblick auf den Gegenstand des
angegriffenen Schutzzertifikats allerdings ohnehin nicht relevant.

- 43 -
b.3.2) Dem Vorbringen der Klägerin, der Fachmann habe unter Einsatz der am
Prioritätstag des Grundpatents üblichen Optimierungsmethoden der Wirkstofffor-
schung (vgl. insbes. NIK14, NIK15, NIK19 i. V. m. NIK16 und NIK20) einen gege-
benenfalls substituierten Ethinyl- und/oder einen Azido-Rest in gattungsgemäß
wirkenden Chinazolinen in Erwägung gezogen und konnte deshalb ohne erfinderi-
sches Zutun zu EGFR-TK hemmenden, antihyperproliferativen Verbindungen des
Patentanspruchs 1, insbesondere zu Erlotinib-Hydrochlorid gemäß Patentan-
spruch 19 des Grundpatents gelangen, kann sich der Senat nicht anschließen.

Es ist zwar durchaus möglich, mittels quantitativer Daten zu Beziehungen zwi-
schen Struktur und Wirkung (QSAR) auf Basis von Charton- und/oder Sterimol-
Parametern verschiedene Substituenten nach ihrer Polarität, Hydrophilie, Hydro-
phobie und/oder Größe bzw. van-der-Waals Radien einzuordnen, in Craig-Dia-
grammen darzustellen und zu versuchen, aus diesen Parametern unterschiedliche
Eigenschaften und Trends hinsichtlich ihrer Wechselwirkung mit biologischen
Systemen abzuleiten. Verlässliche Vorhersagen der Struktur eines Wirkstoffs oder
eines Kollektivs von Wirkstoffen, die sich zur selektiven und spezifischen Hem-
mung eines bestimmten biologischen Rezeptors eignen, sind damit jedoch nicht
möglich. Denn zum einen beruhen Spezifität und Selektivität eines Wirkstoffs nicht
nur auf dem Vorhandensein eines Substituenten, sondern auf dem Zusammen-
spiel sämtlicher Strukturteile des Gesamtmoleküls. Zum Anderen fehlte am Priori-
tätstag des Grundpatents die Kenntnis der Raumstruktur des für den vorliegenden
Streitfall maßgeblichen EGF-Rezeptors, insbesondere der relevanten Substratbin-
dungsstelle(n) der für die Tyrosinkinase-Aktivität verantwortlichen intrazellulären,
zytoplasmatischen Domäne des sich transmembran erstreckenden EGF-Rezep-
torproteinmoleküls. Ohne Kenntnis dieser Raumstruktur bedurfte es deshalb erfin-
derischen Zutuns, um zur Struktur der Verbindungen gemäß Patentanspruch 1
des Grundpatents zu gelangen. Dies gilt erst recht für die Vorhersage der Struktur
des Erlotinib-Hydrochlorids und damit des vorteilhaften Zusammenwirkens eines
Ethinylsubstituenten in 3-Stellung des Phenylamin-Rests sowie jeweils eines 2-
Methoxyethoxy-Substituenten in 6- und 7-Stellung des Chinazolingerüsts und da-
- 44 -
mit für die Kombination von Substituenten an insgesamt drei Positionen – selbst
bei hohem computergestütztem Aufwand unter Einsatz vieler Rechencluster.

Soweit die Klägerin sich auf Deskriptoren bzw. Parametersätze der in NIK21 ne-
ben Erlotinib und seinem 3-Methylanalogon des Beispiels 51 der NIK4 weiter un-
tersuchten entsprechenden 3-Brom-, 3-Chlor-, 3-Methylthio- und 3-Chlormethyl-
Analoga bezieht (vgl. Schrifts. d. Kl. v 8. Dezember 2016, Abschnitt II.), geht
daraus zwar hervor, dass die Substituenten – ausgenommen Methyl – im rechten
oberen Quadranten des Craig-Diagramms liegen und – ausgenommen Methyl –
durch Deskriptoren  und m mit jeweils positivem Vorzeichen gekennzeichnet
sind. Ob die für die Chinazolinderivate mit diesen Substituenten gemessenen IC50-
Werte im Bereich von 0,24 nM bis etwa 2,2 nM (vgl. die experimentellen Daten der
NIK21) eine Bewertung zum Naheliegen oder Nichtnaheliegen solcher Substi-
tuenten für die Gesamtstruktur eines Tyrosinkinase-Inhibitors ermöglichen, kann
dahinstehen. Jedenfalls beruht allein schon die seitens der Klägerin vorgenom-
mene Auswahl dieser fünf Testverbindungen durch Festlegen eines 2-Me-
thoxyethoxy-Substituenten jeweils in 6- und 7-Position des Chinazolins sowie ei-
nes Methyl-, Brom-, Chlor-, Methylthio- oder 3-Chlormethyl-Substituenten in 3-Po-
sition des Phenylamin-Rests auf einer ex-post Betrachtung des gattungsgemäßen
Standes der Technik und einer retrospektiven Auswahl bestimmter, dem Ethinyl-
Rest ähnelnder Substituenten in Kenntnis der Struktur eines erfolgreich in den
Markt eingeführten Arzneimittelwirkstoffs.

Selbst in dem klägerseitigen Gutachten NIK20 wird der vorliegende Sachverhalt
mit der Einschränkung bewertet, dass Parametersätze und Deskriptoren, wie sie
aus der NIK14 zu entnehmen sind, keine Korrelation zwischen Struktur und
Wechselwirkung mit einem biologischen Rezeptor herstellen können, vgl. NIK20,
Rn. 64. Dieser Einschränkung in der NIK20 ist umso mehr Bedeutung beizumes-
sen, als die Struktur des hier maßgeblichen EGF-Rezeptors zum Zeitpunkt der Er-
findung des Grundpatents – wie seitens der Klägerin auch zugestanden – noch
nicht bekannt war. Hinzu kommt, dass die Parametersätze  und m in NIK14, auf
denen die Argumentation der Klägerin aufbaut, an Benzoesäureestern und damit
- 45 -
nicht an gattungsgemäßen Chinazolinderivaten ermittelt wurden, und das Kon-
genäritätsprinzip, auf dem der Vergleich anhand der Sterimol- und/oder Charter-
Parametersätze und -Deskriptoren beruht, nicht bei 3D-biologischen Wechselwir-
kungen gilt.

b.3.3) Zusammenfassend ist festzuhalten, dass für eine erfolgversprechende,
zielgerichtete Suche nach geeigneten strukturell abgewandelten neuen Wirkstof-
fen die Kenntnis der Raumstruktur des biologischen Zielmoleküls, hier der EGFR-
Tyrosinkinase, unabdingbar ist, speziell die Kenntnis der Bindungsstelle des TK-
Inhibitors am EGF-Rezeptorprotein. Weder am Prioritätstag noch am Anmeldetag
des Grundpatents lagen ausreichende Forschungsergebnisse zur Raumstruktur
des EGFR und der Inhibitor-Bindungsstelle der EGFR-Tyrosinkinase vor, mit de-
ren Hilfe der Fachmann auf Basis von an sich verfügbarer Rechenkapazität eine
computergestützte Optimierung bereits bekannter Chinazolin-Derivate hätte
durchführen können. Dass zum Zeitrang des Grundpatents die Struktur des EGF-
Rezeptors und damit auch die Struktur der Inhibitor-Bindungsstelle(n) der EGFR-
Tyrosinkinase nicht bekannt waren, hat auch die Klägerin in der mündlichen Ver-
handlung eingeräumt.

Der Fachmann war in Ermangelung dieser Strukturdaten des EGF-Rezeptors nicht
in der Lage, die Azido- und Ethinylderivate des Grundpatents als geeignete struk-
turelle Weiterentwicklungen aufzufinden bzw. zu erkennen. Dies gilt insbesondere
für das im angegriffenen Schutzzertifikat als Wirkstoff identifizierte Erlotinib-Hydro-
chlorid, für dessen besondere Eignung als Inhibitor der Tyrosinkinase nicht nur der
Ethinylrest in 3-Stellung des Phenylamin-Substituenten sondern auch die individu-
elle Beschaffenheit der übrigen Reste am Chinazolingerüst im Zusammenwirken
in der Struktur des Gesamtmoleküls entscheidend sind.

Darüber hinaus hat die weiterentwickelte Leitstruktur der allgemeinen Formel I
gemäß Patentanspruch 1 des Grundpatents, in der R4 einen gegebenenfalls sub-
stituierten Ethinyl- oder einen Azidosubstituenten bedeutet, mangels strukturellem
Vorbild in dem wirkungsgemäßen und konstitutionsähnlichen Stand der Technik
- 46 -
(vgl. NIK4, NIK5, NIK8, NIK18) nicht nahegelegen. Die nicht Tyrosinkinasehem-
mer betreffenden Druckschriften NIK6, NIK7, NIK9 bis NIK16 und NIK19 sowie die
Ausführungen in NIK17 und NIK20 führen zu keiner anderen Bewertung.

c) Zumindest Erlotinib-Hydrochlorid als das im angegriffenen Schutzzertifikat iden-
tifizierte Erzeugnis weist gegenüber dem Tyrosinkinasehemmer betreffenden
Stand der Technik auch die als Anzeichen für erfinderische Tätigkeit zu wertenden
überraschend vorteilhaften Eigenschaften als Arzneimittelwirkstoff zur Therapie
bestimmter Krebserkrankungen auf. Dem steht nicht entgegen, dass der IC50-Wert
des Erlotinib gegenüber dem in NIK18 für (6,7-Dimethoxy-chinazolin-4-yl)-(3-
bromphenyl)-amin veröffentlichten IC50-Wert, gemessen jeweils unter in-vitro
Testbedingungen am isolierten EGF-Rezeptor, deutlich ungünstiger ist.

c.1) Nach dem Wegfall des technischen Fortschritts als Patentierungserfordernis
ist die erfinderische Tätigkeit üblicherweise anhand eines überraschenden Effekts
bzw. einer überraschenden Wirkung gegenüber konstitutionsähnlichen Verbindun-
gen gleicher Wirkungsrichtung glaubhaft zu machen (vgl. z. B. BGH GRUR 2000,
296 - Schmierfettzusammensetzung; EPA T 181/82 „Spiroverbindungen/CIBA-
GEIGY“), wobei die Anforderungen dann nicht zu hoch anzusetzen sind, wenn –
wie auf vorliegendem Indikationsgebiet zum Prioritätstag des Grundpatents – ein
besonderer Bedarf an neuen Wirkstoffen zur Behandlung verschiedener Krebser-
krankungen besteht (vgl. BGH 1970, 408 - Anthradipyrazol; zitiert in BGH
GRUR 1972, 541 - Imidazoline). Ob und in welchem Umfang eine verbesserte
Wirkung, die in den ursprünglichen Unterlagen zwar hinsichtlich der Anwendungs-
richtung bzw. medizinischer Indikation ausreichend offenbart, jedoch noch nicht
durch zahlenmäßig bestimmt gehaltene Versuchsergebnisse belegt sein muss,
gegenüber dem konstitutionsähnlichen Stand der Technik als Nachweis bzw. An-
zeichen einer erfinderischen Tätigkeit erforderlich ist, bleibt dem Einzelfall vorbe-
halten.

c.2) Im vorliegenden Fall, in dem lediglich für ein (einziges) Chinazolinderivat des
Standes der Technik – (6,7-Dimethoxy-chinazolin-4-yl)-(3-bromphenyl)-amin mit
- 47 -
dem Entwicklungscode PD 153035 der NIK18 – ein in-vitro IC50-Wert von etwa
0,03 nM beschrieben ist, der deutlich günstiger als der ursprünglich offenbarte Be-
reich des Grundpatents zwischen 0,1 nM und 30 µM ist, kann dem Erlotinib-Hyd-
rochlorid des angegriffenen Schutzzertifikats, das einen in-vitro IC50-Wert zwi-
schen etwa 1 nM und 4 nM (vgl. z. B. HE12, HE10 Table 2 Eintrag Tarceva, HE4)
aufweist, die erfinderische Tätigkeit nicht abgesprochen werden. Denn ein ledig-
lich in-vitro unter ganz speziellen Testbedingungen ermittelter IC50-Wert sagt noch
nichts aus über die therapeutische Brauchbarkeit oder Überlegenheit und ermög-
licht erst recht keine abschließende Feststellung eines therapeutischen Vorteils,
der dem zugelassenen Wirkstoff Erlotinib-Hydrochlorid jedenfalls gegenüber dem
nicht zugelassenen PD 153035 der NIK18 nicht abzusprechen ist.

Bei der Bewertung von Daten aus unterschiedlichen Druckschriften kommt er-
schwerend hinzu, dass die Versuchsbedingungen unterschiedlich sein können,
was einen mehr oder minder großen Einfluss auf den jeweiligen Messwert haben
kann. So wurden in der NIK4 und NIK8, in der NIK18 sowie im Grundpatent je-
weils andere zu phosphorylierende Peptidsubstrate eingesetzt (vgl. hierzu vorste-
hend unter I.2 Abs. 3), was sich auf die ermittelten IC50-Werte unmittelbar auswir-
ken dürfte und einen Vergleich lediglich unter diesem Vorbehalt zulässt.

c.3) Soweit sich die Klägerin im Klageschriftsatz (vgl. dort die NIK3) auf einen für
Erlotinib ermittelten IC50-Hemmwert von lediglich etwa 77 nM im Vergleich zu ei-
nem demgegenüber um etwa den Faktor 10 günstigeren IC50-Hemmwert von etwa
7 nM für das Chinazolin-Derivat des Beispiels 51 der NIK4 bezieht, hat sie diesen
Vortrag im Hinblick auf die gutachtlich zu wertenden IC50-Hemmwerte zwischen
etwa 1 nM und etwa 4 nM für Erlotinib in der Fachliteratur (vgl. HE10 Table 2 Ein-
trag Tarceva, HE12, z. B. Abstract oder S. 4839, Fig. 1A), in dem Versuchsbericht
der Beklagten HE4 sowie in den eigenen späteren Versuchsberichten NIK21 und
NIK22 nicht weiter aufrechterhalten.

Gerade die seitens der Klägerin eingeführte nachveröffentlichte und gegebenen-
falls zur gutachtlichen Bewertung heranzuziehende NIK23 verdeutlicht, dass die
- 48 -
Bereitstellung des Erlotinib und seiner pharmazeutisch annehmbaren Salze auch
gegenüber anderen nachfolgenden Chinazolinderivaten mit einer hohen Spezifität
und damit Selektivität für EGFR-Tyrosinkinase verbunden ist (vgl. NIK23, insbes.
S. 4457 li. Sp vorle. Abs. bis re. Sp. Abs. 1 i. V. m. S. 4451 Fig. 1).

Selbst wenn das (6,7-Dimethoxy-chinazolin-4-yl)-(3-bromphenyl)-amin aus NIK4
Beispiel 2 Nr. 2 gemäß NIK18 einen gegenüber Erlotinib erheblich günstigeren in-
vitro IC50-Wert aufweist, bestand im Hinblick auf die geforderte Spezifität und Se-
lektivität weiterhin ein Bedürfnis nach Inhibitoren der EGFR-Tyrosinkinase zur Be-
handlung von Krebserkrankungen. Kennzeichnend für dieses Bedürfnis ist auch,
dass Erlotinib erfolgreich zur Marktreife entwickelt wurde, während die Entwick-
lung des (6,7-Dimethoxy-chinazolin-4-yl)-(3-bromphenyl)-amins als Wirkstoff ge-
gen Krebs nicht fortgeführt wurde.

c.4) Soweit sich die Klägerin in ihrem Vorbringen des Naheliegens und einer
fehlenden verbesserten Wirkung der Chinazolinderivate des Grundpatents auf die
Entscheidung BGH-Repaglinid (GRUR 2015, 356) bezieht, liegen dieser Entschei-
dung lediglich ein Verwendungsanspruch mit einer dazu noch besonders einge-
schränkten Dosis-Wirkung-Beziehung und im Übrigen auch eine andere Fall-
konstellation zugrunde. Dort waren in der maßgeblichen Entgegenhaltung die
Wirksamkeit sowohl des Racemats mit dem Enantiomeren Repaglinid als auch
des Enantiomeren Repaglinid selbst vorbeschrieben, so dass der Fachmann keine
andere Wahl hatte, als das vorbeschriebene Enantiomere Repaglinid weiteren
präklinischen und klinischen Untersuchungen bis hin zur Entwicklung zur Markt-
reife zu unterziehen. Demgegenüber sind die Chinazolinderivate des vorliegenden
Grundpatents, insbesondere auch das durch Patentanspruch 19 hervorgehobene
Erlotinib-Hydrochlorid, durch den Stand der Technik weder vorbeschrieben noch
nahegelegt. Unabhängig von der Frage einer verbesserten Wirkung, die zumin-
dest für das Erzeugnis bzw. den Wirkstoff des vorliegend angegriffenen Schutz-
zertifikats in therapeutischer Hinsicht aufgrund der Genehmigung für das Inver-
kehrbringen als Arzneimittel zweifelsfrei gegeben ist, liegt die erfinderische Leis-
tung im beanspruchten Umfang des vorliegenden Grundpatents allein schon in
- 49 -
dem neuen Stoffkollektiv der Chinazolinderivate des Patentanspruchs 1. Dieses
neue Stoffkollektiv bietet anhand der (nachbringbaren) in-vitro Hemmwerte zahl-
reicher konkret offenbarter Einzelverbindungen, einschließlich und insbesondere
des hervorgehobenen Erlotinib-Hydrochlorids, Ausgangspunkte für die präklini-
sche und klinische Entwicklung und bereichert damit den Stand der Technik allein
schon durch die Bereitstellung grundsätzlich brauchbarer Wirkstoffkandidaten.

c.5) Anders als in dem Fall des Repaglinids stellt der vorliegende Streitgegen-
stand sowohl im Umfang des Patentanspruchs 1 des Grundpatents als auch und
erst recht betreffend den Wirkstoff bzw. das Erzeugnis des angegriffenen Schutz-
zertifikats nicht eine stoffliche Auswahl aus einem im Stand der Technik bereits
beschriebenen Stoffkollektiv dar. Während für die neue stoffliche Auswahl aus
dem Stand der Technik – ungeachtet der Frage einer patentrechtlichen Abhängig-
keit – strenge Anforderungen an die Glaubhaftmachung eines überraschend vor-
teilhaften Effekts und damit an die erfinderische Tätigkeit zu stellen sind, bedarf es
bei einem, wie vorliegend, „prima facie“ nicht nahe liegendem Erfindungs- bzw.
Patentgegenstand nicht einmal der Durchführung von Vergleichsversuchen und
damit nicht der Darlegung von erzielten Verbesserungen (vgl. EPA T 390/88 -
„Photographic Film/ KONISHIROKU’“). Vielmehr genügt seit BGH GRUR 1970,
408 - Anthradiyprazol, dass mit dem Erfindungsgegenstand tatsächlich eine Ver-
besserung im Sinne eines therapeutischen Fortschritts erzielt bzw. ein bisher un-
erfülltes Bedürfnis der Öffentlichkeit, patentrechtlich betrachtet am Prioritäts- bzw.
am Anmeldetag, erfüllt wird und die damit verbundene Verbesserung nicht am Pri-
oritäts- bzw. Anmeldetag belegt sein muss, sondern Belege nachgebracht werden
können (BGH GRUR 1972, 541 - Imidazoline; vgl. auch vorstehend unter
Punkt II.1.c zur Offenbarung bzw. Ausführbarkeit einer Stofferfindung). Dies ist
auch hier der Fall. Am Prioritäts- bzw. Anmeldetag des Grundpatents gab es keine
Marktzulassung für einen Inhibitor der EGFR-Tyrosinkinase zur Krebsbehandlung,
weder ein Chinazolinderivat noch einen Inhibitor anderer Grundstruktur. Die ver-
besserte Behandlung von Krebserkrankungen mit Erlotinib-Hydrochlorid und der
dadurch erzielte therapeutische Fortschritt ist spätestens mit den Ergebnissen der
- 50 -
für die Marktzulassung erforderlichen klinischen Prüfung evident und stellt zwei-
felsohne ein Beweisanzeichen für erfinderische Tätigkeit dar.

4. Da auch die übrigen Bedingungen und Voraussetzungen für die Erteilung ei-
nes ergänzenden Schutzzertifikats für Arzneimittel gemäß der Verordnung (EG)
Nr. 469/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Mai 2009 erfüllt
sind, hat das angegriffene Schutzzertifikat Bestand.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 Abs. 2 PatG i. V. m. § 91 Abs. 1 ZPO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 99 Abs. 1 PatG
i. V. m. § 709 Satz 1 und Satz 2 ZPO.

IV.

Gegen dieses Urteil ist das Rechtsmittel der Berufung gegeben.

Die Berufungsschrift muss von einer in der Bundesrepublik Deutschland
zugelassenen Rechtsanwältin oder Patentanwältin oder von einem in der
Bundesrepublik Deutschland zugelassenen Rechtsanwalt oder Patentanwalt
unterzeichnet und innerhalb eines Monats beim Bundesgerichtshof,
Herrenstraße 45a, 76133 Karlsruhe eingereicht werden. Die Berufungsfrist beginnt
mit der Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils, spätestens aber
mit dem Ablauf von fünf Monaten nach der Verkündung.

- 51 -
Die Berufungsschrift muss die Bezeichnung des Urteils, gegen das die Berufung
gerichtet wird, sowie die Erklärung enthalten, dass gegen dieses Urteil Berufung
eingelegt werde.


Kätker Martens Dr. Egerer Dr. Wismeth Dr. Freudenreich

Pr


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