2 Ni 3/15 (EP) - 2. Senat (Nichtigkeit)
Karar Dilini Çevir:

BPatG 253
08.05

BUNDESPATENTGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES

2 Ni 3/15 (EP)
(Aktenzeichen)

URTEIL


Verkündet am
19. Januar 2017





In der Patentnichtigkeitssache



- 2 -





betreffend das europäische Patent 1 165 329
(DE 600 24 792)

hat der 2. Senat (Nichtigkeitssenat) des Bundespatentgerichts auf Grund der
mündlichen Verhandlung vom 19. Januar 2017 unter Mitwirkung des Vorsitzenden
Richters Guth, der Richterin Hartlieb sowie der Richter Dr.-Ing. Fritze,
Dipl.-Ing. Fetteroll und Dipl.-Ing. Wiegele

für Recht erkannt:

I. Die Klage wird abgewiesen.

II. Die Kosten des Rechtsstreits hat die Klägerin zu tragen.

III. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120 %
des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreck-
bar.


Tatbestand

Mit ihrer Klage begehrt die Klägerin die teilweise Nichtigerklärung des europäi-
schen Patents 1 165 329 B9 im Umfang der Ansprüche 1 und 2. Die Beklagte ist
Inhaberin dieses am 6. April 2000 angemeldeten und am 14. Dezember 2005 ver-
öffentlichten Patents (im Folgenden: Streitpatent), das auf die internationale An-
meldung PCT/NO/2000/000113 zurückgeht und für das die Priorität der norwegi-
schen Patentanmeldung NO 991631 vom 6. April 1999 in Anspruch genommen
wird. Das in der Verfahrenssprache Englisch abgefasste Streitpatent mit der Be-
- 3 -
zeichnung „A Gliding Preventer for Vehicle Wheels” (Gleitschutzvorrichtung für
Fahrzeugräder) wird vom Deutschen Patent- und Markenamt unter der Nummer
DE 600 24 792 geführt. Eine korrigierte Fassung des Patents wurde am
22. März 2006 veröffentlicht. Das Streitpatent umfasst den Anspruch 1 und die da-
rauf rückbezogenen Ansprüche 2 bis 14 sowie den nebengeordneten An-
spruch 15.

Anspruch 1 des erteilten Streitpatents in der Fassung gemäß der korrigierten
EP 1 165 329 B9 lautet:

„A device to be fitted on a vehicle wheel (1) of a predetermined
size in order to increase the friction between the wheel and the
road surface during winter conditions, comprising a belt (3) made
substantially from textile material and intended to encircle the
tread (4) of the wheel (2) and be held in place by means of flexible
inner and outer side portions (5,8) which, at least on the inner side
of the wheel, is tightened by means of an elastic member (7),
characterized in that the belt (3) is to encircle the tread (4) with a
clearance resulting from the interval circumference of the belt (3)
being at least 4% larger than the largest circumference of the
tread (4) of the wheel (1).“

In der deutschen Übersetzung gemäß EP 1 165 329 B9, hier gegliedert wie von
den Parteien vorgeschlagen, lautet der Anspruch 1:

a) Vorrichtung zum Anbringen an einem Fahrzeugrad (1) vorge-
gebener Größe, um unter den Winterverhältnissen, die Reibung
zwischen dem Rad und der Straßenoberfläche zu erhöhen,
- 4 -
b) die ein wesentlich aus textilem Material hergestelltes
Band (3) umfasst,
c) das dafür vorgesehen ist, die Lauffläche (4) des Rades (1) zu
umgeben
d) und mittels flexibler innerer und äußerer seitlicher Ab-
schnitte (5,8) festgehalten zu werden,
e) die, mindestens an der inneren Seite des Rades, mittels ei-
nes elastischen Gliedes (7) festgespannt ist,
dadurch gekennzeichnet, dass
f) das Band (3) vorgesehen ist, die Lauffläche (4) in einem sich
durch den inneren Umfang (3) ergebenden Abstand zu umgeben,
der
g) mindestens 4% größer als der größte Umfang der Laufflä-
che (4) des Rades (1) ist.

Der rückbezogene Anspruch 2 des erteilten Streitpatents lautet gemäß der korri-
gierten EP 1 165 329 B9:

„A device according to claim 1, characterized in that the internal
circumference of the belt (3) is 4-10%, preferably 5-6% larger than
the largest circumference of the tread (4) of the wheel (1).“

In der deutschen Übersetzung lautet Patentanspruch 2:

Vorrichtung nach Anspruch 1, dadurch gekennzeichnet, dass der
innere Umfang des Bandes (3) um 4-10%, bevorzugt 5-6% größer
als der größte Umfang der Lauffläche (4) des Rades (1) ist.

Hinsichtlich des Wortlauts der rückbezogenen Ansprüche 3 bis 14 sowie des ne-
bengeordneten Anspruchs 15, die nicht angegriffen sind, wird auf die Patentschrift
EP 1 165 329 B9 verwiesen.

- 5 -
Die Klägerin macht hinsichtlich der angegriffenen Ansprüche 1 und 2 den Nichtig-
keitsgrund der fehlenden Patentfähigkeit geltend, da es dem Patent insoweit an
Neuheit und erfinderischer Tätigkeit mangele.

Zur Stützung ihres Vorbringens nennt sie folgende Druckschrift:

Anlage K3: US 2,682,907

Die Klägerin ist der Ansicht, die Merkmale f) und g) des Hauptanspruchs 1 seien in
K3 offenbart. Dort sei an keiner Stelle die Rede davon, dass die darin beschrie-
bene Vorrichtung eng an einem Reifen anliege. Bei einer – wie bei industrieller
Massenproduktion und breiter Verwendbarkeit erforderlich – für neue Reifen vor-
konfektionierten und nicht dehnbaren Vorrichtung gemäß der K3 ergäben sich,
wenn man sie auf verschlissene Reifen aufziehe, zwangsläufig eine Übergröße
des Bandes und somit die Merkmale f) und g), wie auch das OLG Düsseldorf im
Verletzungsprozess festgestellt habe. Im Übrigen habe es für den Fachmann auch
nahegelegen, ausgehend von K3 bei der Suche nach wirtschaftlich herstellbaren
Gleitschutzvorrichtungen auf eine Dimensionierung der bekannten Gleitschutzvor-
richtungen zu kommen, bei denen sich die Merkmale f) und g) gemäß Streitpatent
automatisch einstellten.

Die Klägerin beantragt,

das europäische Patent 1 165 329 mit Wirkung für das Hoheitsge-
biet der Bundesrepublik Deutschland im Umfang seiner Ansprü-
che 1 und 2 für nichtig zu erklären.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte tritt den Ausführungen der Klägerin in allen Punkten entgegen. Sie
hält den Gegenstand des Streitpatents für patentfähig und meint, das Streitpatent
- 6 -
lehre eine planmäßige Übergröße der Vorrichtung. Dieses Merkmal sei durch die
K3 nicht unmittelbar und eindeutig offenbart. Im Gegenteil sprächen die Zeichnun-
gen und die Beschreibung bei sachgemäßem, funktionellem Verständnis bezogen
auf das Veröffentlichungsdatum der Entgegenhaltung dafür, dass kein planmäßi-
ger Abstand zwischen Lauffläche und Überzug vorliege. Auch sei keine konkrete
Veranlassung für den Fachmann ersichtlich, von der Entgegenhaltung K3 ausge-
hend zu der Lehre der angegriffenen Ansprüche des Streitpatents zu gelangen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Akteninhalt verwiesen.


Entscheidungsgründe

Die Klage, mit der der Nichtigkeitsgrund der fehlenden Patentfähigkeit nach Arti-
kel II § 6 Abs. 1 Nr. 1 IntPatÜG, Artikel 138 Abs. 1 Buchst. a) EPÜ i. V. m. Arti-
kel 54 und Artikel 56 EPÜ geltend gemacht wird, ist zulässig.

Die Klage ist jedoch erfolglos, weil der geltend gemachte Nichtigkeitsgrund nicht
vorliegt.

Die mit den Patentansprüchen 1 und 2 beanspruchte Lehre war zum maßgebli-
chen Prioritätszeitpunkt patentfähig. Gegenüber dem Stand der Technik ist sie
neu, und sie beruht auch auf einer erfinderischen Tätigkeit. Die gewerbliche An-
wendbarkeit der Vorrichtung steht außer Frage.

I.

1. Das Streitpatent betrifft eine Vorrichtung zum Anbringen an einem Fahrzeug-
rad vorbestimmter Größe, die unter winterlichen Verhältnissen die Reibung zwi-
schen Rad und Straßenoberfläche erhöhen soll. Sie umfasst einen Gürtel aus im
Wesentlichen Textil, der die Lauffläche des Rades umgibt, und der, mit flexiblen
seitlichen Innen- und Außenteilen versehen, wenigstens auf der Innenseite des
Rades mittels eines elastischen Gliedes festgespannt ist.
- 7 -
Aus der Druckschrift US 2,682,907 bekannte derartige Vorrichtungen hätten laut
Patentschrift den Nachteil, dass sie nicht auf das Rad aufgebracht werden
können, wenn sie an einem Fahrzeug montiert seien, ohne das Rad vom Boden
abzuheben. Da die bekannte Vorrichtung symmetrisch sei mit flexiblen
Seitenbereichen und beidseitig darin enthaltenen Federn, könnte sie zudem dann,
wenn durch eine Kurve auf einer trockenen Straßenfläche gefahren werde,
möglicherweise zu der Innenseite vom Rad herunterlaufen und das Fahrzeug
beschädigen. Die Vorrichtung könne dann auch nicht entfernt werden, ohne sie zu
zerstören oder das Rad vom Fahrzeug zu entfernen.

2. Eine Aufgabe des Streitpatents ist daher, eine Vorrichtung zu schaffen, die an
dem Rad auch dann befestigt werden kann, wenn das Rad auf der Straßenfläche
mit dem vollen Gewicht des Fahrzeugs ruht, vorzugsweise auch dann, wenn das
Rad in mehr oder weniger tiefem Schnee steckt.

3. Als Fachmann ist ein Hochschulabsolvent der Fachrichtung Maschinenbau
(Fahrzeugtechnik) anzusehen, der über mehrjährige Erfahrung in der Konstruktion
von Traktionshilfen für Fahrzeugräder verfügt und gegebenenfalls einen Fach-
mann aus dem Bereich der Textiltechnik zu Rate zieht.

4. Die Lösung besteht in einer Vorrichtung mit den im Anspruch 1 angegebenen
Merkmalen a) bis g). Zu deren Wortlaut wird, um Wiederholungen zu vermeiden,
auf den Tatbestand verwiesen.

Gemäß Merkmal a) ist die patentgemäße Vorrichtung zum Anbringen an einem
Fahrzeugrad vorgesehen. Ein Fahrzeugrad im Sinne des Streitpatents ist hier ein
aus Radschüssel oder -scheibe sowie der Felge mit darauf montiertem, aufge-
pumptem Reifen bestehendes komplettes Rad, wie es gebräuchlich für Kraft-
wagen ist. Die Fig. 1A und 1B in der Streitpatentschrift zeigen ein Ausführungs-
beispiel einer montierten Vorrichtung aus unterschiedlichen Blickwinkeln.

- 8 -
Die Bedeutung des Ausdrucks vorgegebene Größe erschließt sich aus den
Merkmalen a) und g). Demnach ist damit der größte Umfang der Lauffläche des
Rades gemeint. Zur Umsetzung der patentgemäßen Lehre kann ihn der Fach-
mann ohne weiteres aus auf den Reifenflanken angebrachten Dimensions- und
Bauartangaben ermitteln. Bekanntlich beziehen sie sich auf Nenngrößen, die für
den Neuzustand des Reifens gelten. Herstellungsbedingte Abweichungen davon
sind bekanntlich zulässig. Laut dem vom Verletzungsgericht berücksichtigten
Sachverständigengutachten liegen diese im Bereich zwischen 1,5% über und
2,5% unter dem Nennumfang.

Bezüglich der Merkmale f) und g) ist festzustellen, dass die Übertragung ins
Deutsche ungenau ist und zu einer missverständlichen Formulierung geführt hat,
wonach der Abstand zwischen dem inneren Umfang des Bandes und dem der
Lauffläche des Rades mindestens 4% beträgt. Der - hier maßgebliche - englische
Text lautet „…the belt is to encircle the tread with a clearance resulting from the
internal circumference of the belt being at least 4% larger than the largest
circumference of the tread oft he wheel.“ Das Band soll also die Lauffläche mit
einem Abstand umgeben, der daraus resultiert, dass sein innerer Umfang
wenigstens 4% größer ist, als der größte Umfang der Lauffläche des Rades.

Diese Bemessungsangabe bildet den Kern der Erfindung. Sie definiert eine
Übergröße des inneren Umfangs des Bandes der Vorrichtung gegenüber dem
größten Radumfang, die bewirken soll, dass die Vorrichtung sich zumindest
teilweise auf das auf der Straßenoberfläche stehende Rad aufziehen lässt und
sich beim Anfahren nach vorne oder hinten quasi selbsttätig vollständig auf das
Rad zieht. Damit die Vorrichtung in jedem Fall die Maßgaben der Merkmale f)
und g) erfüllt, ist für den größten Umfang der Lauffläche der Radumfang zu
Grunde zu legen, welcher sich aus dem Nenndurchmesser des Reifens zuzüglich
1,5% davon ergibt (vgl. die obigen Anmerkungen zu den Merkmalen a) und g)).

Der gemäß Anspruch 1 nach oben offene Wertebereich für die prozentuale
Abweichung zwischen dem Innenumfang des Bandes und dem größten Lauf-
flächenumfang trägt den Tatsachen Rechnung, dass einerseits schon der Durch-
- 9 -
messer des Neureifens und folglich dessen Laufflächenumfang um 2,5% geringer
als der Nenndurchmesser sein kann (vgl. wiederum die obigen Anmerkungen zu
den Merkmalen a) und g)), und dass andererseits davon auszugehen ist, dass die
Vorrichtung an Fahrzeugräder mit gebrauchten Reifen angebracht wird, die bereits
einen Verschleiß erfahren haben und folglich einen geringeren Umfang aufweisen
als ungebrauchte Reifen.

Der Umfangsunterschied ist aber nicht beliebig groß. Vielmehr grenzt der
Fachmann mit dem Blick auf reale Einsatzbedingungen die Differenz zwischen
dem Innenumfang des Bandes und dem größten Laufflächenumfang so weit ein,
dass jedenfalls der gewünschte Effekt der quasi selbsttätigen Montage eintritt und
zudem die Vorrichtung auch dann vollständig auf dem Rad verbleibt, wenn auf
trockener und kurvenreicher Straße mit der montierten Gleitverhinderungs-
vorrichtung gefahren wird. Das findet seinen Niederschlag im rückbezogenen
Anspruch 2, wonach die Übergröße gegenüber dem Laufflächenumfang 4-10%,
vorzugsweise 5-6% beträgt.

Nicht zuletzt ist hier aus fachmännischer Sicht vernünftigerweise zu unterstellen,
dass die Vorrichtung während des Einsatzes so widerstandsfähig und insbe-
sondere hinsichtlich des Übergrößenmaßes so weit formstabil bleibt, dass sie
wiederholt mit Erfolg einsetzbar ist. Entsprechend sieht das Streitpatent Textil-
gewebe aus Cordura für das Band vor, die dem gerecht werden.

II.

Die Zulässigkeit der geltenden Ansprüche ist unstreitig und gegeben.

Die Erteilung des Patents erfolgte auf Grundlage der ursprünglich zur Anmeldung
eingereichten Unterlagen. Patentanspruch 1 wurde gegenüber der ursprünglich
eingereichten Fassung eingeschränkt erteilt. Die Änderungen betrafen die
Aufnahme zusätzlicher Merkmale, die dort auf S. 4, Z. 13 bis S. 6, Z. 12, als zur
Erfindung gehörig offenbart waren. In der nunmehr geltenden Fassung gemäß der
EP 1 165 329 B9 wurde der Anspruch 1 gegenüber der erteilten Fassung gemäß
- 10 -
der EP 1 165 329 B1 sprachlich überarbeitet. Weitere geringfügige Änderungen in
den Ansprüchen 10 und 15 betreffen redaktionelle Änderungen.

Das Streitpatent erweist sich in der geltenden Fassung als rechtsbeständig.

1. Die Vorrichtung gemäß dem Anspruch 1 des Streitpatents ist neu.

Die Klägerin vertritt die Auffassung, eine Vorrichtung mit sämtlichen im Streit-
patentanspruch 1 angegebenen Merkmalen sei bereits aus der Druckschrift K3
bekannt.

Die Druckschrift K3 betrifft traktionserhöhende Mittel für Reifen (vgl. Bezeichnung
„traction increasing means for tires“). Sie wird im Streitpatent als der Stand der
Technik gewürdigt, von dem die Patentanmeldung ausging. Zwischen den
Parteien ist unstreitig, dass sie eine Vorrichtung mit den Merkmalen a) bis e)
gemäß obiger Gliederung offenbart, die den Oberbegriff des Anspruchs 1 bilden.
Diesbezüglich sei auf die Abs. [0002] und [0003] in der korrigierten Streitpatent-
schrift verwiesen. Streitig ist aber, ob die Merkmale f) und g) ebenfalls aus der
Druckschrift K3 hervorgehen.

Nach der Meinung der Klägerin soll dies der Fall sein, da sich bei einer für neue
Reifen vorkonfektionierten Vorrichtung gemäß der Druckschrift K3, wenn man sie
auf verschlissene Reifen aufziehe, bereits zwangsläufig die Merkmale f) und g)
ergäben. Auch unter Berücksichtigung, dass der Stand der Technik Diagonalreifen
betreffe, stellten sich besagte Unterschiede zwischen dem Innenumfang der
Lauffläche der bekannten Vorrichtung und dem größten Außenumfang des Rades
während des Gebrauchs ein.

Dem ist insoweit zuzustimmen, als bei einer für neue Reifen vorkonfektionierten
Vorrichtung gemäß der Druckschrift K3, wenn man sie auf verschlissene Reifen
aufzieht, nicht auszuschließen ist, dass eine gemäß Streitpatent vorgesehene Um-
angsdifferenz zwischen dem größten Umfang der Lauffläche des Reifens und dem
Innenumfang des Bandes auftreten könnte. Die Klägerin hat ihre
- 11 -
Schlussfolgerung, wonach der Erfindung deswegen die Neuheit abzusprechen sei,
allerdings erst kraft ihres Fachwissens und aufgrund ergänzender Überlegungen
aus dem Inhalt der Druckschrift K3 herleiten können. Schlussfolgerungen, die der
Fachmann auf diese Weise aus der erhaltenen technischen Information ziehen
mag, gehören jedoch nicht zum Offenbarten (BGH, Urteil vom 16. Dezember 2008
– X ZR 89/07 –, BGH 179, 168-186, Rn. 26 – Olanzapin). Die Klägerin ist zudem
erst im Zuge weit nach der Veröffentlichung der Druckschrift K3 liegender, geziel-
ter Überprüfungen der bekannten Lehre auf das vom Streitpatent beanspruchte
Merkmal hin zu ihrer Erkenntnis gelangt und konnte diese also nur nachträglich
dem Gedankeninhalt der Offenbarung der Druckschrift K3 hinzuzufügen. Ein feh-
lender Gedankeninhalt darf jedoch nicht vom Standpunkt jüngerer Erkenntnis er-
gänzt werden (vgl. Schulte, PatG, 9. Aufl., § 3 Rn. 95, BGH BlPMZ 55, 153 Holz-
schutzmittel; GRUR 89, 899 Sauerteig). Bei der Neuheitsprüfung kommt es viel-
mehr grundsätzlich darauf an, was einer Vorveröffentlichung unmittelbar und ein-
deutig zu entnehmen ist (vgl. etwa BGH, Urteil vom 16. Dezember 2008 –
X ZR 89/07, BGHZ 179, 168 Rn. 25 – Olanzapin). An einer unmittelbaren und ein-
deutigen Offenbarung der konkreten Ausführungsform, die auch die Merkmale f)
und g) aufweist, fehlt es hier aber.

Der Klägerin ist zwar insoweit zuzustimmen, dass in der Druckschrift K3 nicht die
Rede davon ist, dass die Vorrichtung eng am Rad anliegt, die Verhältnisse sind
dort aber jedenfalls so dargestellt, als liege sie unmittelbar und vollumfänglich an
der Reifenoberfläche an, und auch die Beschreibung offenbart an keiner Stelle
Gegenteiliges. So lassen die Fig. 1 bis 3, insbesondere Fig. 2 und die zugehörige
Beschreibung Spalte 1, Z. 39 bis Sp. 2, 14, nicht erkennen oder den Rückschluss
zu, dass bei der dortigen Vorrichtung – wie es der Anspruch 1 des Streitpatents
verlangt – eine Differenz von mehr als 4% zwischen dem Innenumfang des
zentralen Gürtels oder Bandes (band region 22) des antriebskrafterhöhenden
Mittels und dem Außenumfang der Lauffläche (tread 13) des Reifens vorzusehen
ist. Aus keiner Stelle erschließen sich eine Durchmesserdifferenz und ein daraus
resultierender Abstand zwischen der Laufflächenoberfläche und der Innenfläche
des zentral angeordneten Bandbereiches (central longitudinal band region 22) und
folglich auch kein Umfangsunterschied.
- 12 -
Soweit die Klägerin auf die Entscheidung „Leflunomid“ (BGH, Urteil vom
24. Juli 2012 – X ZR 126/09, GRUR 2012, 1130) Bezug nimmt, ist diese hier nicht
einschlägig. Zur Frage der Neuheit hat der erkennende Senat darin nicht Stellung
bezogen. Der Fall betraf einen Wirkstoff, der die immanente, in seiner chemischen
Struktur begründete Eigenschaft hatte, sich ohne weiteres naturgesetzlich zwin-
gend im Laufe der Zeit in das Abbauprodukt umzuwandeln. Zum Einen ging es um
ein pharmazeutisches Patent. Die spezielle Rechtsprechung des BGH auf dem
chemischen und pharmazeutischen Gebiet und insbesondere bei Patenten, die
chemische Stoffe betreffen, lässt sich aber nicht ohne weiteres verallgemeinern.
Zum Anderen entstand die dort beanspruchte Stoffkombination ausgehend von
dem bekannten Stoff mit der Zeit zwangsläufig immer, während sich die Differen-
zen zwischen dem Außenumfang der Reifenlauffläche und dem Innenumfang des
Bandes bei der aus dem der Druckschrift K3 bekannten Vorrichtung nur zufällig
und unabsichtlich ergeben können. Nach dem Streitpatent sind sie dagegen als
Bestandteil der erfindungsgemäßen Lehre planmäßig vorzusehen.

2. Die Vorrichtung gemäß dem Anspruch 1 des Streitpatents beruht auch auf
einer erfinderischen Tätigkeit.

Die Klägerin vertritt den Standpunkt, in der Druckschrift K3 werde auf die
Anpassungsfähigkeit der Vorrichtung an eine wirtschaftliche Herstellung hinge-
wiesen. Für den Fachmann ergebe sich daraus, dass die bekannte Vorrichtung in
dem Sinne vorzukonfektionieren sei, dass sie sich auf jeden Reifen eines durch
die Norm definierten Typs aufziehen lasse. Angesichts der in der Druckschrift K3
herausgestellten mangelnden Dehnbarkeit des Materials sei dabei von dem
maximal möglichen Reifenumfang der Reifen auszugehen.

Dies als zutreffend unterstellt, ergibt sich eine Vorrichtung, welche die im kenn-
zeichnenden Teil des Anspruchs 1 des Streitpatents genannten Merkmale auf-
weist, für einen Fachmann dennoch nicht in nahe liegender Weise aus dem Stand
der Technik.

- 13 -
Wie der Neuheitsvergleich bereits zeigt, offenbart die Druckschrift K3 nicht, dass
sich bei planmäßigem Einsatz der bekannten Vorrichtung eine Differenz zwischen
dem Innenumfang des zentralen Gürtels oder Bandes absichtlich ergeben soll und
schon gar nicht, dass von vornherein eine bestimmte Bemessungsregel, die eine
Übergröße einer Komponente der Vorrichtung vorsieht, eingehalten werden muss.

Die Druckschrift K3 lehrt in erster Linie die Anbringung traktionserhöhender Mittel
an die Vorrichtung - beispielsweise um die Lauffläche eines Reifens angeordnete
Bandbereiche mit einer äußerlichen Beschichtung mit Aluminiumoxid, imprägniert
mit abrasiven Teilchen (Sp. 2, Z. 8 bis 10). Die Befestigung an den Reifenflanken
erfolgt dort je nach Ausgestaltung über ringförmige Spiralfedern oder Ketten
(Sp. 1, Z. 47 bis 50 bzw. Sp. 2, Z. 22 bis 27). Damit soll eine Vorrichtung zur
Verfügung stehen, die bequem und effektiv in Position auf dem Reifen befestigt
werden kann, um dessen Kraftschluss beim Fahren über Matsch, Schnee, Eis
oder glitschige Oberflächen wesentlich zu erhöhen (Sp. 1, Z. 1 bis 9). Neben der
Verbesserung des Spurhaltungsvermögens werden Vorteile der bekannten
Vorrichtung in der Einfachheit ihrer Konstruktion, ihrem verlässlichen Funktionie-
ren und ihrer Anpassbarkeit an eine wirtschaftliche Fertigung gesehen (Sp. 1,
Z. 10 bis 13). Letzteres Kriterium stellt nach Überzeugung des Senats – anders als
es die Klägerin auffasst – nicht auf die ohnehin bei derartigen Gegenständen
übliche Vorkonfektionierung ab, sondern auf die Möglichkeit einer gleichermaßen
kostengünstigen Produktion der in diesem Stand der Technik in einer Vielzahl von
Varianten aufgezeigten Vorrichtungen ab.

Einen Hinweis, wie von der aus der Druckschrift K3 bekannten Vorrichtung
ausgehend die Aufgabe des Streitpatents gelöst werden könnte, deren
Befestigung an einem Fahrzeugreifen auch dann zu ermöglichen, wenn das Rad
auf der Straßenfläche mit dem vollen Gewicht des Fahrzeugs ruht, vorzugsweise
auch dann, wenn das Rad in mehr oder weniger tiefem Schnee steckt, enthält
Druckschrift K3 jedenfalls nicht. Dass unter diesen Bedingungen die Handhabung
und die Betriebssicherheit der Vorrichtung überhaupt problematisch sein könnten,
findet darin keine Beachtung. Mithin bietet der Stand der Technik keinen Anlass,
die bekannte Vorrichtung fortzuentwickeln.
- 14 -
Die spezielle Lehre des Streitpatents, wonach sich eine Vorrichtung nach Art der
Druckschrift K3, wenn sie die nach dem Streitpatent planmäßig vorzusehenden
kennzeichnenden Merkmale aufweist, quasi eigenständig beim Anfahren des
Fahrzeugs auf das Rad zieht, und dennoch sichergestellt ist, dass sie auf dem
Rad während einer Kurvenfahrt und auf trockener Straße verbleibt, ist somit aus
der Druckschrift K3 auch nicht nahe gelegt. Das Streitpatent hat daher mit dem
erteilten Patentanspruch 1 Bestand.

3. Der Patentanspruch 1 stützt den ebenfalls angegriffenen Anspruch 2, der
folglich zusammen mit dem Anspruch 1 bestehen bleiben kann, zumal er auf
vorteilhafte, nicht selbstverständliche Ausgestaltungen des Streitpatentgegen-
stands gerichtet ist.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 Abs. 2 PatG i. V. m. § 91 Abs. 1 Satz 1
ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 709 Satz 1
und 2 ZPO.

IV.

Rechtsmittelbelehrung

Gegen dieses Urteil ist das Rechtsmittel der Berufung gemäß § 110 PatG statt-
haft.

Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des in vollständiger Form
abgefassten Urteils - spätestens nach Ablauf von fünf Monaten nach Verkündung -
durch einen in der Bundesrepublik Deutschland zugelassenen Rechtsanwalt oder
Patentanwalt schriftlich beim Bundesgerichtshof, Herrenstraße 45a,
76133 Karlsruhe, einzulegen.

- 15 -
Die Berufungsschrift muss

- die Bezeichnung des Urteils, gegen das die Berufung gerichtet ist, sowie
- die Erklärung, dass gegen dieses Urteil Berufung eingelegt werde,

enthalten. Mit der Berufungsschrift soll eine Ausfertigung oder beglaubigte Ab-
schrift des angefochtenen Urteils vorgelegt werden.

Auf die Möglichkeit, die Berufung nach § 125a PatG in Verbindung mit § 2 der
Verordnung über den elektronischen Rechtsverkehr beim Bundesgerichtshof und
Bundespatentgericht (BGH/BPatGERVV) auf elektronischem Weg beim Bundes-
gerichtshof einzulegen, wird hingewiesen (www. bundesgerichtshof.de/erv.html).


Guth Hartlieb Dr. Fritze Guth
(für den wegen
Urlaubs an der
Unterschrift
gehinderten Richter
Fetterroll)
Wiegele

Pr


Full & Egal Universal Law Academy