2 BvR 972/00 - Verfassungsbeschwerden gegen Beschlagnahme im Steuerstrafverfahren - Anfangsverdacht bei Anonymisierung von Tafelpapiergeschäften mit Auslandsbezug
Karar Dilini Çevir:





 



BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 2 BvR 972/00 -




In dem Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerden




 



1. der Frau M...,

2. der Frau L...,

3. der Frau R...,

4. der Frau F...,

5. des Herrn P...,

6. der Frau S...,

7. des Herrn L...,

8. des Herrn B....,

9. der Frau G...,

10. des Herrn W...,

11. des Herrn H...,




 



- Bevollmächtigte:


Rechtsanwälte Konrad Bielert-Hagemann und Koll.,

Hannoversche Straße 149, 30627 Hannover -





 





gegen
a)

die Beschlüsse des
Landgerichts Stade vom 25. April 2000 - 12 Qs 12 bis 13,
16 bis 24/99 -,



b)

die Mitteilungen des
Amtsgerichts Lüneburg vom 10. Dezember 1999 - 27 Gs
204/98 - (hinsichtlich der Beschwerdeführer zu 10., 11.),
3. Dezember 1999 - 27 Gs 8/98 - (hinsichtlich der
Beschwerdeführerin zu 1.) und vom 22. November 1999 - 27
Gs 8/98 und 319/99 - (hinsichtlich der Beschwerdeführer
zu 2. bis 9.)








und
Anträge auf Erlass einer einstweiligen
Anordnung






 



hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des
Bundesverfassungsgerichts durch

die Richterin Präsidentin Limbach

und die Richter Hassemer,

Mellinghoff




 



gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a
BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993
(BGBl I S. 1473) am 1. März 2002 einstimmig beschlossen:




 



Die Verfassungsbeschwerden werden nicht zur
Entscheidung angenommen.

Damit erledigen sich die Anträge auf Erlass
einer einstweiligen Anordnung.




 


Gründe:




1



Die Verfassungsbeschwerden betreffen die
Sichtung und Verwertung von Kundenunterlagen bei der
Durchsuchung von Banken sowie die Beweismittelbeschlagnahme
im steuerstrafrechtlichen Ermittlungsverfahren.




I.




2



Die Beschwerdeführer sind Kunden zweier
Banken, bei denen im Jahre 1998 Durchsuchungen wegen Beihilfe
von Bankmitarbeitern zur Steuerhinterziehung durch Bankkunden
stattfanden. Durchsuchungszweck war nach dem Inhalt der
zugrundeliegenden Durchsuchungsbeschlüsse des
Ermittlungsrichters das Auffinden von Unterlagen, die
Aufschluss über Geld- und Wertpapiertransfers nach Luxemburg
oder in die Schweiz zum Zwecke der Steuerhinterziehung geben
könnten. Im Rahmen der Durchsuchung wertete die
Steuerfahndung auch Unterlagen zu Tafelpapiergeschäften aus,
indem sie die bankinternen Verrechnungskonten, über die
Tafelgeschäfte abgewickelt wurden, mit zur gleichen Zeit
erfolgten Barabhebungen entsprechender Geldbeträge von
Kundenkonten abglichen. Dadurch identifizierten die Beamten
auch Bankkunden, die Tafelpapiergeschäfte ohne Auslandsbezug
abgewickelt hatten. Bei den jeweils zuständigen
Veranlagungsfinanzämtern ermittelten sie dann zusätzlich, ob
die Bankkunden dort steuerlich geführt wurden, und nahmen
Einsicht in die Steuerakten. Soweit dies zu dem Ergebnis
führte, dass Erträge aus den Tafelpapieren in den
Steuererklärungen nicht angegeben worden waren, wurden
Ermittlungsverfahren wegen Steuerhinterziehung eingeleitet.
Hiervon waren auch die Beschwerdeführer betroffen. Nachdem
sie von der Einleitung der Ermittlungsverfahren in Kenntnis
gesetzt worden waren, wandten sie sich gegen die Verwertung
der Unterlagen über Tafelpapiergeschäfte, da sich daraus bei
ihnen kein Bezug zu einem Vermögenstransfer ins Ausland
ergebe. Darauf sei aber der Durchsuchungszweck beschränkt
gewesen. Eine Verwertung der Unterlagen verstoße zudem gegen
§ 30a Abs. 3 AO.




3



Das Amtsgericht bestätigte jeweils gemäß
§ 98 Abs. 2 Satz 2 StPO die Beschlagnahme der
Unterlagen. Die hiergegen gerichteten Beschwerden wies das
Landgericht als unbegründet zurück. Es führte aus, aufgrund
der Ermittlungen bei den Veranlagungsfinanzämtern habe
zumindest im Zeitpunkt der richterlichen
Beschlagnahmebestätigung ein Anfangsverdacht vorgelegen. Ob
bei den Ermittlungen gegen § 30a Abs. 3 AO verstoßen
worden sei und ob sich daraus für das Steuerstrafverfahren
ein Beweisverwertungsverbot ergebe, könne dahinstehen, denn
dies erfordere eine eingehende Abwägung zwischen den
Individualinteressen der Beschwerdeführer und dem staatlichen
Strafverfolgungsinteresse. Diese Abwägung sei aber dem
erkennenden Gericht im Hauptverfahren vorbehalten.




II.




4



Mit ihren Verfassungsbeschwerden rügen die
Beschwerdeführer eine Verletzung ihrer durch Art. 2 Abs. 1
i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG verbürgten Grundrechte, insbesondere
ihres Anspruchs auf ein faires Verfahren. Es bestehe ein
Beweisverwertungsverbot für das Steuerstrafverfahren. Das
Landgericht habe sich einer diesbezüglichen Prüfung nicht
entziehen dürfen. Ihre grundrechtlich geschützten Rechte
müssten im Ermittlungsverfahren genauso berücksichtigt werden
wie im späteren Hauptverfahren. Andernfalls hätten es die
Ermittlungsbehörden in der Hand, sich über
Beweiserhebungsverbote hinwegzusetzen, um sodann einem
Gericht ein schlüssiges Anklagegebäude präsentieren zu
können.




III.




5



Die Verfassungsbeschwerden werden gemäß
§ 93a Abs. 2 BVerfGG nicht zur Entscheidung angenommen,
weil sie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg haben (vgl.
BVerfGE 90, 22 ). Sie sind
unbegründet.




6



Die Frage, in welchem Umfang es
verfassungsrechtlich geboten ist, das Vorliegen von
Beweisverwertungsverboten im Rahmen einer
ermittlungsrichterlichen Beschlagnahmebestätigung und der
dazu ergangenen Beschwerdeentscheidung zu prüfen, bedarf hier
keiner Entscheidung. Aus den vom Landgericht getroffenen
Feststellungen und den übrigen von den Beschwerdeführern
vorgelegten Unterlagen ergibt sich, dass die
Steuerfahndungsbehörde nicht gegen Beweiserhebungsverbote
verstoßen hat. Somit kommt auch ein Beweisverwertungsverbot
als Folge eines Verfahrensfehlers bei der Beweiserhebung
nicht in Betracht. Es kann die Beschwerdeführer deshalb auch
nicht in Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten
verletzen, wenn das Landgericht seine Prüfungskompetenz
verneint hat.




7



Nach den vom Landgericht zugrundegelegten
Umständen wurden die Beschwerdeführer deshalb als
Beschuldigte ermittelt, weil sie Tafelpapiergeschäfte nicht
über ihre bei den beteiligten Banken geführten Konten und
Depots getätigt hatten, sondern durch Barabhebungen und
-einzahlungen von und auf diese Konten. Zwar begründet die
bloße Inhaberschaft von Tafelpapieren und deren Einlieferung
zur Verwahrung in ein Depot für sich allein noch keinen
Anfangsverdacht einer Steuerstraftat (vgl. BFH, NJW 2000, S.
3157 ). Anders verhält es sich jedoch, wenn
Hinweise auf eine gezielte Anonymisierung vorliegen (vgl. LG
Detmold, wistra 1999, S. 434 f.). Dies war bei den
Beschwerdeführern der Fall. Alle unterhielten bei den Banken,
bei denen sie Tafelpapiergeschäfte tätigten, Konten bzw.
Depots. Gleichwohl haben die Beschwerdeführer zu 1. bis 10.
durch Bargeschäfte Tafelpapiere erworben. Wer aber bei einem
Kreditinstitut Konten und Depots führt, gleichwohl aber seine
Wertpapiergeschäfte als Bargeschäfte tätigt, so dass sie
anhand der über diese Konten und Depots geführten Unterlagen
nicht als Wertpapiergeschäfte ersichtlich sind, setzt sich
dem Verdacht aus, er habe mit dieser Art der
Geschäftsabwicklung die Weiche für eine nachfolgende
Steuerverkürzung oder Steuerhinterziehung gestellt (vgl. BFH,
wistra 2002, S. 27 ; BFH, DB 2001, S. 2125
; LG Itzehoe, wistra 1999, S. 432
). Entsprechendes gilt auch für den
Beschwerdeführer zu 11. Aufgrund der erheblichen Verminderung
seiner Depoterträge in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang
mit der Einführung der 35%igen Quellensteuer auf
Kapitaleinkünfte entstand ihm gegenüber der Verdacht, er habe
seinen Depotbestand durch die Entnahme effektiver Stücke
erheblich reduziert, um entsprechende Einkünfte der
Quellensteuer zu entziehen.




8



Deshalb lag bereits mit der Identifizierung
aller Beschwerdeführer - und nicht erst nach einer Anfrage
bei den für sie jeweils zuständigen Veranlagungsfinanzämtern
- ein Anfangsverdacht gegen sie vor. Die sie betreffenden
Unterlagen waren Zufallsfunde (§ 108 Abs. 1 StPO), da
sich unmittelbar aus ihnen der Anfangsverdacht einer Straftat
ergab und sie bei Gelegenheit der Aufklärung von
Tafelgeschäften mit Auslandsbezug gefunden wurden. Den
weiteren Ermittlungen bei den Wohnsitzfinanzämtern stand
§ 30a Abs. 3 Satz 2 AO 1977 nicht entgegen, denn das
dort formulierte Gebot der Unterlassung von
Kontrollmitteilungen bezieht sich auf das
Besteuerungsverfahren (vgl. Rüsken, in: Klein, AO, 7. Aufl.,
§ 30a Rn. 3, 19; Tipke, in: Tipke/Kruse, AO, § 30a
Rn. 13, 18). Es gilt nicht, wenn ein steuerstrafrechtlicher
Anfangsverdacht besteht (vgl. BFH, wistra 2002, S. 27
; BFH, DB 2001, S. 2125 ;
Tipke, in: Tipke/Kruse, AO, § 30a Rn. 18).




9



Von einer weiteren Begründung wird gemäß
§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.




10



Diese Entscheidung ist unanfechtbar.




 




Limbach
Hassemer
Mellinghoff







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