2 BvR 461/02 - Zur Strafrestaussetzung für Ausländer ohne vorherige Gewährung von Vollzugslockerungen
Karar Dilini Çevir:





 



BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 2 BvR 461/02 -










Im Namen des Volkes




In dem Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerde




 



des Herrn K...




 



- Bevollmächtigter:


Rechtsanwalt Christoph Prasse,

Friedrich-Ebert-Straße 120, 48153 Münster -





 





gegen
a)

den Beschluss des
Oberlandesgerichts Hamm vom 12. Februar 2002 - 1 Ws 19/02
-,



b)

den Beschluss des
Landgerichts Arnsberg vom 14. November 2001 - StVK 494/01
-








und
Antrag auf Erlass einer einstweiligen
Anordnung






 



hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des
Bundesverfassungsgerichts durch

den Vizepräsidenten Hassemer,

die Richterin Osterloh

und den Richter Mellinghoff




 



gemäß § 93c in Verbindung mit §§ 93a,
93b BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August
1993 (BGBl I S. 1473) am 11. Juni 2002 einstimmig
beschlossen:




 



Die Beschlüsse des Oberlandesgerichts Hamm
vom 12. Februar 2002 - 1 Ws 19/02 - und des Landgerichts
Arnsberg vom 14. November 2001 - StVK 494/01 - verletzen
den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2
Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem
Rechtsstaatsprinzip. Sie werden aufgehoben.

Die Sache wird an das Landgericht Arnsberg
zurückverwiesen.

Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer
einstweiligen Anordnung.
Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem
Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu
erstatten.





 


Gründe:




1



Die Verfassungsbeschwerde betrifft eine
Strafrestaussetzung zur Bewährung.




I.




2



Der Beschwerdeführer, marokkanischer
Staatsangehöriger, wurde im Dezember 1999 als Ersttäter wegen
Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in
Tateinheit mit Beihilfe zum Handeltreiben mit
Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer
Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Er hatte im
Auftrag seines Bruders ca. 1 kg Haschisch sowie 1 kg Kokain
als Kurier aus den Niederlanden nach Deutschland verbracht.
Zwei Drittel der Strafe waren am 6. Dezember 2001 verbüßt;
das Strafende wird am 7. April 2003 erreicht sein.




3



Im Mai 2001 wies die zuständige
Ausländerbehörde den Beschwerdeführer gemäß § 47 AuslG
aus dem Bundesgebiet aus und ordnete seine Abschiebung sowie
die sofortige Vollziehung der Ausweisung an. Hiergegen legte
er Widerspruch ein, über den jedenfalls bis zum Ergehen der
angegriffenen Entscheidungen noch nicht entschieden worden
ist.




4



Das Landgericht lehnte die bedingte Entlassung
des Beschwerdeführers nach negativer Stellungnahme der
Vollzugsanstalt ab. Er sei zwar Erstverbüßer, habe sich im
Vollzug gut geführt und unterhalte regelmäßigen Kontakt zu
seiner Familie, bei der er nach der Entlassung wohnen könne.
Andererseits seien Vollzugslockerungen bisher nicht gewährt
worden und es liege eine nicht rechtskräftige
Ausweisungsverfügung gegen ihn vor. Auch hätten sich seine
sozialen Rahmenbedingungen in der Vergangenheit nicht als
hinreichend stabil erwiesen, um ihn von der Begehung von
Straftaten abzuhalten. Daher könne die bedingte Entlassung
"ohne vorherige Bewährung unter vollzuglichen Lockerungen
nicht gewagt werden".




5



Die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde
verwarf das Oberlandesgericht aus den Gründen des
angefochtenen Beschlusses. Es fügte hinzu, "insbesondere
aufgrund der derzeit ungeklärten ausländerrechtlichen
Situation" kämen "zum jetzigen Zeitpunkt Vollzugslockerungen
und demzufolge auch eine bedingte Entlassung nicht in
Betracht".




II.




6



Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung
seiner Rechte aus Art. 1 Abs. 1 und Abs. 3, Art. 2 Abs. 2
Satz 2 GG. Die angegriffenen Entscheidungen enthielten
unzureichende Tatsachenfeststellungen. Insbesondere sei nicht
konkret überprüft und begründet worden, weshalb dem
Beschwerdeführer keine Lockerungen gewährt werden könnten.
Der pauschale Hinweis auf die "ungeklärte ausländerrechtliche
Situation" reiche insoweit nicht aus. Auch hätten die
Gerichte in unzulässiger Weise auf seine - an sich positiven
- sozialen Rahmenbedingungen und sein Verhalten in der
Vergangenheit abgestellt, ohne seine Läuterung durch
jahrelangen Strafvollzug in Rechnung zu stellen.




III.




7



Das Justizministerium des Landes
Nordrhein-Westfalen hat in seiner Stellungnahme auf die
Verwaltungsvorschrift Nr. 6 zu § 11 StVollzG verwiesen,
nach der Gefangene von Vollzugslockerungen ausgeschlossen
seien, gegen die eine vollziehbare Ausweisungsverfügung für
den Geltungsbereich des Strafvollzugsgesetzes bestehe und die
aus der Haft abgeschoben werden sollten. Daher entspreche es
pflichtgemäßem Ermessen, bei der Entscheidung über
Lockerungen die ausländerrechtliche Situation nach Maßgabe
der erläuterten Verwaltungsvorschrift zu berücksichtigen.




IV.




8



Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur
Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung von Grundrechten
des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2
Buchstabe b BVerfGG). Sie ist zur Sachentscheidung berufen,
da die zulässige Verfassungsbeschwerde offensichtlich
begründet ist. Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen
hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden
(§§ 93b Satz 1, 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).




9



Die angegriffenen Beschlüsse verletzen den
Beschwerdeführer in seinem Freiheitsgrundrecht (Art. 2 Abs. 2
Satz 2 GG) in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip, weil
sie ausreichende Feststellungen sowie eine angemessene
Würdigung der für die Prognose gemäß § 57 Abs. 1 StGB
relevanten Tatsachen vermissen lassen.




10



1. Ob im Einzelfall die weitere Vollstreckung
einer rechtskräftig ausgesprochenen Freiheitsstrafe nach
§ 57 Abs. 1 StGB zur Bewährung auszusetzen ist, ist
zunächst eine Frage der Auslegung und Anwendung des
Strafgesetzbuches und des Strafvollstreckungsrechts. Das
Bundesverfassungsgericht prüft diese Entscheidung nicht in
jeder Hinsicht nach. Es hat jedoch einzugreifen, wenn das
zuständige Fachgericht bei der Sachverhaltsfeststellung und
-würdigung die verfassungsrechtliche Bedeutung und Tragweite
der Menschenwürde oder der Freiheitsgarantie verkannt hat
(vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des
Bundesverfassungsgerichts vom 22. März 1998 - 2 BvR 77/97 -,
NStZ 1998, S. 373 ). Insbesondere müssen
Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit
betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung
beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende
Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie
entspricht (stRspr; vgl. BVerfGE 70, 297
m.w.N.).




11



Demzufolge darf der Strafvollstreckungsrichter
im Verfahren gemäß §§ 454, 462 StPO seine Entscheidung
gemäß § 57 Abs. 1 StGB nicht alleine darauf stützen,
dass die Vollzugsbehörde - etwa auf der Grundlage bloßer
pauschaler Wertungen oder mit dem Hinweis auf eine abstrakte
Flucht- oder Missbrauchsgefahr - die Gewährung von
Vollzugslockerungen zur Vorbereitung der Strafaussetzung
versagt hat. Er hat vielmehr eigenständig zu prüfen, ob die
Strafrestaussetzung unter Berücksichtigung des
Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden
kann. Der Erprobung eines Strafgefangenen im Rahmen von
Vollzugslockerungen kann hierbei als Indiz zwar eine
erhebliche Bedeutung zukommen. Vollzugslockerungen sind
jedoch von Rechts wegen nicht notwendigerweise Voraussetzung
für eine bedingte Entlassung. Gegebenenfalls kann das Gericht
die Vollzugsbehörde im Aussetzungsverfahren darauf hinweisen,
dass Vollzugslockerungen zur Vorbereitung der bedingten
Entlassung geboten erscheinen (vgl. Beschluss der 2. Kammer
des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 22. März
1998 - 2 BvR 77/97 -, a.a.O., S. 375).




12



Diesen Grundsätzen genügen die angegriffenen
Entscheidungen nicht. Das Landgericht stellt die Tatsachen,
die für und gegen die bedingte Entlassung sprechen, in
knappster Form nebeneinander, ohne offen zu legen, welche
Erwägung für die Annahme einer negativen Prognose maßgeblich
war. Dies begegnet bereits Bedenken. Verfassungsrechtlich
nicht mehr vertretbar ist jedenfalls die Art und Weise, in
der die Fachgerichte ihre Ablehnung an das Fehlen von
Vollzugslockerungen knüpfen. Denn die angegriffenen
Entscheidungen setzen sich nicht bzw. unzureichend mit der
Frage auseinander, ob die Vollzugsbehörde zu recht davon
abgesehen hat, gemäß § 15 StVollzG Lockerungen zur
Entlassungsvorbereitung anzuordnen.




13



Während das Landgericht die Frage nicht
problematisiert, weist das Oberlandesgericht lediglich auf
die "ungeklärte ausländerrechtliche Situation" als Grund für
die Ablehnung von Lockerungsmaßnahmen und Strafaussetzung
hin, ohne auf die konkrete Lage des Beschwerdeführers
einzugehen. Damit widerspricht die Entscheidung bereits der
herrschenden Rechtsprechung der Fachgerichte, der zufolge ein
anhängiges Ausweisungsverfahren die Versagung von Lockerungen
wegen Flucht- oder Missbrauchsgefahr nicht pauschal zu
rechtfertigen vermag (vgl. OLG Frankfurt, ZfStrVO 1991, S.
372, NStZ 1983, S. 93, ZfStrVO 1983, S. 249; OLG Celle,
ZfStrVO 1984, S. 251).




14



Verfassungsrechtlich erschiene der Verzicht
der angegriffenen Entscheidungen auf eine konkrete Begründung
allenfalls dann vertretbar, wenn nach den Umständen des
Falles ein Missbrauch der Vollzugslockerung oder der
Strafaussetzung mit Blick auf die drohende Abschiebung
offensichtlich vorauszusehen wäre. Dies ist jedoch nicht der
Fall.




15



Danach enthalten die angegriffenen
Entscheidungen mangelhafte Feststellungen zum Einfluss der
ausländerrechtlichen Situation des Beschwerdeführers auf die
Möglichkeit einer Strafrestaussetzung. Damit basiert die
gerichtliche Prognose auf einer rechtsstaatlich
unzureichenden Tatsachengrundlage. Überdies ist bei einer
derartigen Entscheidungspraxis die Gefahr nicht von der Hand
zu weisen, dass die Strafhaft in rechtsstaatlich unzulässiger
Weise zur Abschiebehaft umfunktioniert und der Strafvollzug
für ausländische Verurteilte zum bloßen "Verwahrvollzug" wird
(vgl. OLG Braunschweig, StV 1983, S. 338 ;
Lesting, in: AK-StVollzG, 4. Aufl., Rz. 41 zu § 11).




16



2. Dieser Befund führt zur Aufhebung der
angegriffenen Entscheidungen und zur Zurückverweisung der
Sache an das Landgericht. Damit erübrigt sich eine
Entscheidung über den Eilantrag.




17



3. Dem Beschwerdeführer sind gemäß § 34a
Abs. 2 BVerfGG die notwendigen Auslagen im
Verfassungsbeschwerde-Verfahren zu erstatten.




18



Diese Entscheidung ist unanfechtbar.




 




Hassemer
Osterloh
Mellinghoff







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