2 BvR 2256/99 - Zur Gewährung von Prozesskostenhilfe für die nachträgliche Feststellung der Rechtswidrigkeit einer ohne richterliche Anordnung und Bestätigung erfolgten Festnahme und Ingewahrsamnahme im Rahmen einer Abschiebung
Karar Dilini Çevir:





 



BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 2 BvR 2256/99 -










Im Namen des Volkes




In dem Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerde




 



des Herrn N...




 



- Bevollmächtigter:


Rechtsanwalt Hans Meyer-Mews,

Humboldtstraße 56, 28203 Bremen -





 





gegen
a)

den Beschluss des
Landgerichts Verden vom 8. November 1999 - 3 T 14/99
-,



b)

den Beschluss des
Amtsgerichts Syke vom 11. Oktober 1999 - 14 XIV 910 B
-









und

Antrag auf Bewilligung von
Prozesskostenhilfe und Beiordnung des Rechtsanwalts Hans
Meyer-Mews






 



hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des
Bundesverfassungsgerichts durch

die Richter Sommer,

Di Fabio

und die Richterin Lübbe-Wolff




 



gemäß § 93c in Verbindung mit § 93a
Absatz 2 Buchstabe b BVerfGG in der Fassung der
Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 24.
Juli 2002 einstimmig beschlossen:




 



Die Beschlüsse des Landgerichts Verden vom 8.
November 1999 - 3 T 14/99 - und des Amtsgerichts Syke vom 11.
Oktober 1999 - 14 XIV 910 B - verletzen den Beschwerdeführer
in seinem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes
in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Artikel 20 Absatz
3 des Grundgesetzes). Die Entscheidungen werden aufgehoben.
Die Sache wird an das Amtsgericht Syke zurückverwiesen.

Das Land Niedersachsen hat dem Beschwerdeführer
seine notwendigen Auslagen für das
Verfassungsbeschwerde-Verfahren zu erstatten. Damit erledigt
sich der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe.




 


Gründe:




A.




1



Die Verfassungsbeschwerde betrifft die von
Verfassungs wegen zu beachtenden Anforderungen an die
Gewährung von Prozesskostenhilfe in einem Verfahren, in dem
die nachträgliche Feststellung der Rechtswidrigkeit einer
ohne richterliche Anordnung und Bestätigung erfolgten
Festnahme und Ingewahrsamnahme im Rahmen einer Abschiebung
begehrt wird.




I.




2



1. a) Der Beschwerdeführer, ein gambischer
Staatsangehöriger, wurde unter Anordnung der sofortigen
Vollziehung aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen.
Ihm wurde die Abschiebung in sein Heimatland für den Fall
angedroht, dass er die Bundesrepublik Deutschland nicht bis
zum 31. Dezember 1998 verlassen haben sollte.




3



b) Am Nachmittag des 20. Januar 1999 suchten
zwei Polizeibeamte den Beschwerdeführer in seiner Wohnung
auf, um Einzelheiten der Abschiebung zu besprechen. Aufgrund
von Äußerungen des Beschwerdeführers und der Gesamtumstände
seines Verhaltens sahen die Beamten seine Ingewahrsamnahme
zur Sicherung der für den nächsten Morgen geplanten
Abschiebung als notwendig an. Sie verbrachten den
Beschwerdeführer auf ihre Dienststelle. Von dort aus
versuchten sie nach ihren Angaben gegen 16.00 Uhr vergeblich,
beim Amtsgericht Syke telefonisch einen Haftrichter zu
erreichen. Der Beschwerdeführer wurde bis gegen 3.00 Uhr des
folgenden Tages im Polizeigewahrsam festgehalten. Sodann
wurde er dem Bundesgrenzschutz übergeben zum Flughafen
Hannover transportiert. Von dort wurde er gegen 7.30 Uhr nach
Gambia abgeschoben.




4



2. a) Der Beschwerdeführer beantragte beim
Amtsgericht Syke festzustellen, dass seine Festnahme am 20.
Januar 1999 um ca. 15.30 Uhr und die daran anschließende
Ingewahrsamnahme ohne richterliche Bestätigung rechtswidrig
gewesen seien; gleichzeitig beantragte er die Bewilligung von
Prozesskostenhilfe.




5



Nach § 42 Abs. 7 AuslG dürfe die Polizei
einen Ausländer nur dann zur Aufenthaltsermittlung und
Festnahme ausschreiben und festnehmen, wenn sein Aufenthalt
unbekannt sei. Sein regelmäßiger Aufenthalt sei der
Ausländerbehörde jedoch bekannt gewesen. Dementsprechend habe
die Polizei ihn auch in seiner Wohnung angetroffen. Im
Übrigen sei dem Ausländerrecht eine Ingewahrsamnahme ohne
vorherige richterliche Anordnung fremd.




6



Eine vorläufige Freiheitsentziehung ohne
vorherige richterliche Anordnung komme nur in Betracht, wenn
der damit verfolgte verfassungsrechtlich zulässige Zweck
anders nicht erreichbar sei. Dann müsse gemäß Art. 104 Abs. 2
Satz 2 GG jedenfalls nachträglich unverzüglich eine
richterliche Entscheidung herbeigeführt werden. Die
Freiheitsentziehung ohne richterliche Überprüfung habe hier
mehr als 15 Stunden gedauert. Für eine so weitgehende
eigenmächtige Freiheitsentziehung habe die Polizei nicht die
erforderliche Ermächtigungsgrundlage. Die zusätzliche
zeitliche Grenze des Art. 104 Abs. 2 Satz 3 GG, wonach die
Freiheitsentziehung nur bis zum Ende des Tages andauern
dürfe, der auf den Tag der Festnahme folge, ändere daran
nichts. Nach dem Niedersächsischen Gefahrenabwehrgesetz -
NGefAG - müssten Polizei- und Verwaltungsbehörden
unverzüglich eine richterliche Entscheidung über Zulässigkeit
und Fortdauer der vorläufigen Freiheitsentziehung
herbeiführen, es sei denn, dass mit einer Entscheidung erst
nach Beendigung der Maßnahme zu rechnen sei. Auch nach
§ 13 des Gesetzes über das gerichtliche Verfahren bei
Freiheitsentziehungen - FEVG - habe die Verwaltungsbehörde
ohne jede Verzögerung eine richterliche Entscheidung
herbeizuführen. Die Festnahme des Beschwerdeführers sei im
Voraus geplant und eine rechtzeitige Einschaltung eines
Richters daher möglich gewesen. Ein Verstoß gegen die
Verfahrensgarantien im Freiheitsentziehungsverfahren mache
die Maßnahme gemäß Art. 104 GG rechtswidrig.




7



b) Mit dem angegriffenen Beschluss vom 11.
Oktober 1999 wies das Amtsgericht den Antrag auf Bewilligung
von Prozesskostenhilfe zurück; die beabsichtigte
Rechtsverfolgung biete keine hinreichende Aussicht auf
Erfolg. Die Verwaltungsbehörde sei nicht verpflichtet
gewesen, eine richterliche Entscheidung herbeizuführen. Da
die Festnahme des Beschwerdeführers gegen 15.30 Uhr und damit
nach Dienstschluss des Amtsgerichts, die Abschiebung gegen
7.30 Uhr des folgenden Tages und damit vor Dienstbeginn
erfolgt sei, sei mit einer richterlichen Entscheidung erst
nach Beendigung der Maßnahme zu rechnen gewesen.




8



c) Die hiergegen eingelegte Beschwerde wies
das Landgericht mit Beschluss vom 8. November 1999 als
unbegründet zurück. Die Festnahme des Beschwerdeführers sei
auf Antrag der beteiligten Verwaltungsbehörde gemäß § 57
Abs. 2 Satz 2 AuslG zulässig gewesen, weil gegen den
Beschwerdeführer ein Abschiebungshaftbefehl hätte ergehen
können. Er sei ausreisepflichtig gewesen, und seine
Abschiebung habe innerhalb von zwei Wochen durchgeführt
werden können. Vor Entlassung des Betroffenen aus der Haft
und seiner Abschiebung sei eine richterliche Entscheidung
nicht mehr möglich gewesen.




9



d) Im Hauptsacheverfahren wurde der
Feststellungsantrag zurückgewiesen. Die hiergegen eingelegten
Rechtsmittel blieben erfolglos. Mit Beschluss vom 15. Mai
2002 - 2 BvR 2292/00 - hob




10



das Bundesverfassungsgericht die im
Hauptsacheverfahren ergangenen Entscheidungen wegen
Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art.
104 Abs. 2 GG auf und verwies die Sache an das Amtsgericht
Syke zurück.




II.




11



1. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der
Beschwerdeführer die Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2, 3
Abs. 1, 19 Abs. 4, 103 Abs. 1 und 104 Abs. 1 und 2 GG. Unter
Anderem macht er geltend, aus dem Anspruch auf rechtliches
Gehör ergebe sich grundsätzlich ein Anspruch auf Gewährung
von Prozesskostenhilfe in den Fällen, in denen der Betroffene
zur Rechtsverfolgung ohne finanzielle Hilfe außerstande sei.
Aus Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG
folge das Gebot weitgehender Angleichung der Situation von
Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des
Rechtsschutzes. Daher dürften an die Antragstellung einer
unbemittelten Partei im Prozesskostenhilfeverfahren keine
allzu strengen Anforderungen gestellt werden. Eine
Beweisantizipation im Prozesskostenhilfeverfahren sei in der
Regel unzulässig. Die Gerichte hätten vorliegend
Prozesskostenhilfe bewilligen müssen, weil über die
Erreichbarkeit eines Richters und über die Frage, ob vorab
die Einholung einer richterlichen Entscheidung möglich
gewesen wäre, im Rahmen einer Entscheidung über die
Hauptsache gegebenenfalls Beweis zu erheben sei und vor
Durchführung der Beweisaufnahme die besseren Gründe gegen die
Rechtmäßigkeit der polizeilichen Ingewahrsamnahme sprächen.
Insbesondere könne es nicht darauf ankommen, dass die -
rechtswidrige - Festnahme erst nach "Dienstschluss" des
Amtsgerichts erfolgt sei. Es gebe für Richter keine allgemein
festgelegten Dienstzeiten.




12



2. Den gemäß § 94 BVerfGG
Äußerungsberechtigten wurde Gelegenheit zur Stellungnahme
gegeben.




13



Nach Auffassung des Niedersächsischen
Justizministeriums hat der Beschwerdeführer nicht ausreichend
vorgetragen, dass die Versagung von Prozesskostenhilfe auf
einer Verkennung des § 114 ZPO zugrunde liegenden
Auslegungsmaßstabes beruhe.




B.




14



Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur
Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der in § 90
Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte des Beschwerdeführers
angezeigt ist (§ 93b i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchstabe
b BVerfGG), und gibt ihr statt. Die dafür maßgeblichen
verfassungsrechtlichen Fragen hat das
Bundesverfassungsgericht bereits entschieden. In diesem - die
Kompetenz der Kammer begründenden - Sinne ist die
Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet (§ 93c
Abs. 1 BVerfGG).




I.




15



Die angegriffenen Beschlüsse verletzen den
Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG in
Verbindung mit dem Rechtsstaatsgrundsatz (Art. 20 Abs. 3
GG).




16



1. Das Grundgesetz gebietet eine weitgehende
Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten
bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes (BVerfGE 81, 347
m.w.N.; stRspr). Dies ergibt sich aus Art. 3 Abs.
1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsgrundsatz, der in Art.
20 Abs. 3 GG allgemein niedergelegt ist und für den
Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt in Art. 19
Abs. 4 GG seinen besonderen Ausdruck findet. Im Institut der
Prozesskostenhilfe sind die notwendigen Vorkehrungen
getroffen, die auch Unbemittelten einen weitgehend gleichen
Zugang zum Gericht ermöglichen. Eine vollständige
Gleichstellung ist nicht geboten.




17



Der Unbemittelte braucht nur einem solchen
Bemittelten gleichgestellt zu werden, der seine
Prozessaussichten vernünftig abwägt und dabei auch das
Kostenrisiko berücksichtigt. Es ist demnach
verfassungsrechtlich unbedenklich, die Gewährung von
Prozesskostenhilfe davon abhängig zu machen, dass die
beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung
hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig
erscheint. Die Prüfung der Erfolgsaussicht soll jedoch nicht
dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung
selbst in das Nebenverfahren der Prozesskostenhilfe
vorzuverlagern und dieses an die Stelle des
Hauptsacheverfahrens treten zu lassen. Das
Prozesskostenhilfeverfahren will den Rechtsschutz, den der
Rechtsstaatsgrundsatz erfordert, nicht selbst bieten, sondern
nur zugänglich machen. Dem genügt das Gesetz in § 114
ZPO, indem es die Gewährung von Prozesskostenhilfe bereits
dann vorsieht, wenn nur hinreichende Erfolgsaussichten für
die beabsichtigte Rechtsverfolgung bestehen, ohne dass der
Prozesserfolg schon gewiss sein muss (vgl. BVerfGE 81, 347
).




18



Die Auslegung und Anwendung des § 114 ZPO
obliegt in erster Linie den zuständigen Fachgerichten, die
dabei den - verfassungsgebotenen - Zweck der
Prozesskostenhilfe zu beachten haben. Das
Bundesverfassungsgericht kann hier nur eingreifen, wenn
Verfassungsrecht verletzt ist, insbesondere wenn die
angegriffene Entscheidung Fehler erkennen lässt, die auf
einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung
der in Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG
verbürgten Rechtsschutzgleichheit beruhen (vgl. BVerfGE 56,
139 m.w.N.). Hierbei hat es zu berücksichtigen,
dass die Beurteilung der Erfolgsaussichten einer
Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung in engem
Zusammenhang mit der den Fachgerichten vorbehaltenen
Feststellung und Würdigung des jeweils
entscheidungserheblichen Sachverhalts und der ihnen
gleichfalls obliegenden Auslegung und Anwendung des jeweils
einschlägigen materiellen und prozessualen Rechts steht. Die
Fachgerichte überschreiten den Entscheidungsspielraum, der
ihnen bei der Auslegung des gesetzlichen Tatbestandsmerkmals
der hinreichenden Erfolgsaussicht verfassungsrechtlich
zukommt, erst dann, wenn sie einen Auslegungsmaßstab
verwenden, durch den einer unbemittelten Partei im Vergleich
zur bemittelten die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung
unverhältnismäßig erschwert wird. Das ist namentlich dann der
Fall, wenn das Fachgericht die Anforderungen an die
Erfolgsaussicht der beabsichtigten Rechtsverfolgung oder
Rechtsverteidigung überspannt und dadurch der Zweck der
Prozesskostenhilfe, dem Unbemittelten den weitgehend gleichen
Zugang zu Gericht zu ermöglichen, deutlich verfehlt wird
(BVerfGE 81, 347 ).




19



2. Diesen Grundsätzen werden die angegriffenen
Beschlüsse nicht gerecht. Mit ihnen werden die Anforderungen
an die hinreichende Erfolgsaussicht der beabsichtigten
Rechtsverfolgung überspannt und die Rechtsfindung in der
Hauptsache in das Prozesskostenhilfeverfahren vorverlagert.
Amtsgericht und Landgericht hätte sich aufdrängen müssen,
dass sowohl die Frage nach der Rechtsgrundlage für die
Ingewahrsamnahme des Beschwerdeführers ohne vorherige
richterliche Anordnung als auch das Unterbleiben einer
richterlichen Entscheidung über die Fortdauer der
Ingewahrsamnahme schwierige, auch die Grundrechte des
Beschwerdeführers betreffende Fragen aufwarf, die nur nach
Aufklärung des Sachverhalts im Hauptverfahren zu beantworten
waren (vgl. dazu im Einzelnen den Senatsbeschluss vom 15. Mai
2002 - 2 BvR 2292/00 -).




II.




20



1. Die Beschlüsse des Landgerichts Verden und
des Amtsgerichts Syke sind daher aufzuheben. Die Sache ist an
das Amtsgericht zurückzuverweisen (§ 93c Abs. 2 i.V.m.
§ 95 Abs. 2 BVerfGG), damit über den Antrag auf
Bewilligung von Prozesskostenhilfe erneut entschieden werden
kann.




21



2. Die Anordnung der Auslagenerstattung beruht
auf § 34a Abs. 2 BVerfGG. Mit dieser Anordnung erledigt
sich der Antrag des Beschwerdeführers auf Gewährung von
Prozesskostenhilfe für das Verfassungsbeschwerde-Verfahren
(vgl. BVerfGE 62, 392 ; 71, 122
).




22



Diese Entscheidung ist unanfechtbar.




 




Sommer
Di Fabio
Lübbe-Wolff







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