2 BvR 1970/01 - Zur Beurteilung der Schuldfähigkeit eines Straftäters bei Suchtmittelabhängigkeit sowie zu den Anforderungen an ein psychiatrisches Sachverständigengutachten im Wiederaufnahmeverfahren
Karar Dilini Çevir:





 



BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 2 BvR 1970/01 -




In dem Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerde




 



des Herrn P.




 



- Bevollmächtigte:


Rechtsanwälte Ingeborg Eisele und Koll.,

Hildesheimer Straße 52 A, 30169 Hannover -





 





gegen
a)

den Beschluss des
Landgerichts Hannover vom 16. Oktober 2001 - 30 Qs 31/01
-,



b)

den Beschluss des
Landgerichts Hannover vom 21. Juni 2001 - 30 Qs 31/01
-,



c)

den Beschluss des
Amtsgerichts Hameln vom 30. April 2001 - 11 Ds 144 Js
62902/97 (47/01) -






 



hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des
Bundesverfassungsgerichts durch

die Richterin Präsidentin Limbach

und die Richter Hassemer,

Mellinghoff




 



gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a
BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993
(BGBl I S. 1473) am 30. Januar 2002 einstimmig
beschlossen:




 



Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur
Entscheidung angenommen.




 


Gründe:




1



Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur
Entscheidung angenommen, weil ein Annahmegrund gemäß
§ 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegt. Die
Verfassungsbeschwerde hat keine Aussicht auf Erfolg, weil sie
unbegründet ist.




2



1. Strafgerichtliche Entscheidungen
unterliegen nicht einer unbeschränkten tatsächlichen und
rechtlichen Nachprüfung auf die Richtigkeit der
Tatsachenfeststellungen und auf die Ordnungsmäßigkeit der
Rechtsanwendung. Die Gestaltung des Strafverfahrens, die
Feststellung und Würdigung des Sachverhalts, die Auslegung
des Straf- und Strafprozessrechts und seine Anwendung auf den
einzelnen Fall sind allein Sache der dafür zuständigen
Strafgerichte und der Nachprüfung des
Bundesverfassungsgerichts entzogen. Das
Bundesverfassungsgericht kann nur dann eingreifen, wenn die
Gerichte Verfassungsrecht verletzt haben. Dies ist aber nicht
schon dann der Fall, wenn eine Entscheidung, am Straf- oder
Strafprozessrecht gemessen, objektiv fehlerhaft ist. Der
Fehler muss gerade in der Nichtbeachtung von Grundrechten
liegen. Das ist in der Regel erst dann der Fall, wenn ein
Fehler sichtbar wird, der auf einer grundsätzlich unrichtigen
Anschauung von der Bedeutung eines Grundrechts, insbesondere
vom Umfang seines Schutzbereichs beruht, oder wenn die
fehlerhafte Rechtsanwendung bei verständiger Würdigung der
das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr
verständlich ist (stRspr, vgl. BVerfGE 57, 250, ;
95, 96 ). Daran gemessen sind die
angegriffenen Entscheidungen nicht zu beanstanden.




3



Es ist nichts dafür ersichtlich, dass die
Fachgerichte das Wiederaufnahme- und Beschwerdevorbringen des
Beschwerdeführers inhaltlich nicht zur Kenntnis genommen oder
willkürlich bewertet haben. Sie haben sich vielmehr auf die
höchstrichterliche Rechtsprechung gestützt. Danach begründet
die Abhängigkeit eines Straftäters von Suchtmitteln und eine
daraus folgende Persönlichkeitsstörung nur ausnahmsweise eine
erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit gemäß
§ 21 StGB (vgl. BGH, NStZ 2001, S. 82 ; 2001,
S. 83 ; 2001, S. 85). Schuldunfähigkeit im Sinne
des § 20 StGB scheidet regelmäßig aus. Da im konkreten
Fall keine psychodiagnostischen Beurteilungskriterien zum
Leistungsverhalten des Beschwerdeführers beim Tatgeschehen
vorlagen (vgl. BGH, NStZ 2000, S. 24 ), die für
eine Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit sprechen
konnten, war Schuldunfähigkeit demnach im Erstverfahren nicht
erörterungsbedürftig. Aus der Anwendung des § 21 StGB
durch das Erstgericht ergibt sich jedoch, dass es die für
§§ 20, 21 StGB gleichermaßen relevanten Umstände geprüft
und gewichtet hatte. Der Hinweis der Wiederaufnahmegerichte
darauf lässt keinen Fehler erkennen, der
verfassungsrechtliche Bedeutung haben könnte.




4



Die Annahme der Wiederaufnahmegerichte, dass
das psychiatrische Sachverständigengutachten als neues
Beweismittel zur Erreichung des Wiederaufnahmeziels
ungeeignet sei, unterliegt gleichfalls keinen
verfassungsrechtlichen Bedenken. Sie beruht im Einklang mit
der genannten höchstrichterlichen Rechtsprechung auf der
Annahme, dass die Prüfung der Erheblichkeit einer
Verminderung der Steuerungsfähigkeit durch
Drogenabhängigkeit, Entzugserscheinungen oder
Persönlichkeitsstörungen eine Rechtsfrage sei, die der
zuständige Richter in eigener Verantwortung zu entscheiden
habe, die folglich nicht Gegenstand des
Sachverständigenbeweises sei. Gleiches gilt nach Meinung der
Wiederaufnahmegerichte für die Prüfung der Aufhebung der
Steuerungsfähigkeit. Auf dieser Grundlage konnten die
Wiederaufnahmegerichte davon ausgehen, dass die Wertung des
Sachverständigengutachtens unerheblich sei, wenn sie von
Befundtatsachen ausging, die dem Erstgericht bereits bekannt
waren. Bei dieser Einschätzung handelt es sich um eine
Auslegung und Anwendung einfachen Rechts, die
verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist. Eine
Persönlichkeitsstörung ist nur dann als schwere seelische
Abartigkeit im Sinne der §§ 20, 21 StGB anzusehen, wenn
mit Bezug auf das konkrete Tatgeschehen Symptome von
beträchtlichem Gewicht festzustellen sind, die in ihrer
Gesamtheit das Leben des Angeklagten vergleichbar schwer und
mit ähnlichen - auch sozialen - Folgen stören, belasten oder
einengen wie krankhafte seelische Störungen (vgl. BayObLGSt
1998, S. 27 m.w.N.). Dafür waren weder im
Wiederaufnahmeantrag noch in dem Sachverständigengutachten
konkrete Anhaltspunkte angeführt worden. Das
Sachverständigengutachten hat sich mit dem eigentlichen
Tatgeschehen nicht näher befasst und eine unabhängig davon
diagnostizierte "emotional labile Persönlichkeitsstörung" als
Ergebnis einer Wertung behauptet, ohne die maßgeblichen
Befundtatsachen und deren psychiatrische Bewertung und
Gewichtung näher zu erläutern. Zu den Folgen der
HIV-Erkrankung hat es sogar darauf hingewiesen, dass eine
Überprüfung der Hirnleistungsfähigkeit und eine apparative
Diagnostik gerade nicht stattgefunden hätten. Im Übrigen hat
es dazu bemerkt, "einige Hinweise" sprächen für eine
Akzentuierung der Persönlichkeitsstörung durch die
HIV-Infektion; dies wurde jedoch nicht näher erläutert.




5



2. Dem Landgericht lag nach der Ankündigung
eines Schriftsatzes zur Beschwerdebegründung eine
ausführliche schriftliche Stellungnahme des Beschwerdeführers
vor. Dass eine zusätzliche Beschwerdebegründung durch
Anwaltsschriftsatz angebracht werden sollte, war nicht
angekündigt worden. Damit scheidet eine Verletzung des
Anspruchs auf rechtliches Gehör, auf dem die
Beschwerdeentscheidung und die dazu ergangene Entscheidung
über den Antrag nach § 33a StPO beruhen könnten,
aus.




6



Diese Entscheidung ist unanfechtbar.




 




Limbach
Hassemer
Mellinghoff







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