2 BvR 1707/01 - Verwerfung eines Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand im Zivilverfahren mangels Ausschöpfung aller Möglichkeiten, die eigene Schuldlosigkeit an der Fristversäumung glaubhaft zu machen
Karar Dilini Çevir:





 



BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 2 BvR 1707/01 -




In dem Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerde




 



der Frau S...




 



- Bevollmächtigter:


Rechtsanwalt Wolfgang Schmidt,

Stimbergstraße 19, 45739 Oer-Erkenschwick -





 





gegen

den Beschluss des
Landgerichts Bochum vom 10. August 2001 - 11 S 136/01
-






 



hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des
Bundesverfassungsgerichts durch die Richter

Sommer,

Broß,

Mellinghoff




 



gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a
BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993
(BGBl I S. 1473) am 22. Februar 2002 einstimmig
beschlossen:




 



Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur
Entscheidung angenommen.




 


Gründe:




1



Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen
die Versagung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in
einem zivilrechtlichen Berufungsverfahren.




I.




2



1. Die von der Beschwerdeführerin gegen ihre
Vermieterin erhobene Klage auf Rückzahlung zu viel gezahlter
Nebenkosten in Höhe von 9.993,68 DM war durch Urteil des
Amtsgerichts Recklinghausen vom 18. Januar 2001 abgewiesen
worden.




3



2. a) Die gegen dieses am 13. Februar 2001
zugestellte Urteil mit Schriftsatz vom 9. März 2001
eingelegte Berufung ging erst am 14. März 2001 und damit
einen Tag nach Ablauf der Monatsfrist des § 516 ZPO beim
Landgericht Bochum ein. Auf diese Fristversäumnis wurde die
Beschwerdeführerin mit Schreiben der Berichterstatterin vom
9. Mai 2001 hingewiesen.




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b) Drei Tage nach Erhalt dieses Schreibens
beantragte der Prozessbevollmächtigte der Beschwerdeführerin
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Er legte dar, dass die
Berufung am 9. März 2001, einem Freitag, zur Post gegeben
worden sei und es jeglicher Erfahrung widerspreche, dass die
Post von Oer-Erkenschwick nach Bochum fünf Tage benötige.
Diesem Vorbringen waren eidesstattliche Versicherungen zweier
Mitarbeiterinnen des Prozessbevollmächtigten beigefügt. Die
Mitarbeiterin S. versicherte, sie habe am 9. März 2001 nach
Überprüfung, dass Fristablauf am 12. März 2001 sei,
entschieden, dass eine Einlegung des Rechtsmittels per
Telefax unnötig sei, weil die Post nach allgemeiner Erfahrung
am 10. März, jedoch spätestens am 12. März 2001 beim
Landgericht Bochum eingehen müsse. Danach sei das bereits
eingetütete Schriftstück von der zwischenzeitlich aus der
Kanzlei ausgeschiedenen Mitarbeiterin B. zur Post gebracht
worden.




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c) Mit dem angegriffenen Beschluss vom 10.
August 2001 wies das Landgericht den Antrag der
Beschwerdeführerin, ihr wegen der Versäumung der
Berufungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu
bewilligen, zurück und verwarf die Berufung gemäß § 519b
Abs. 1 ZPO als unzulässig. Ein Fall unverschuldeter
Fristversäumnis im Sinne der §§ 233, 234 ZPO sei nicht
gegeben. Die Versäumung der Berufungsfrist beruhe auf einem
der Beschwerdeführerin nach § 85 Abs. 2 ZPO
zurechenbaren Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten.
Dieser habe nicht glaubhaft gemacht, dass die
Berufungsschrift am 9. März 2001 zur Post gegeben worden sei.
Keine der vorgelegten eidesstattlichen Versicherungen beziehe
sich auf die eigentliche Absendung des
Berufungsschriftsatzes. Dieser sei einer inzwischen nicht
mehr bei dem Prozessbevollmächtigten tätigen Mitarbeiterin
übergeben worden. Ob diese Mitarbeiterin den Schriftsatz
tatsächlich noch am 9. März 2001 zur Post gegeben habe, sei
nicht ersichtlich und in keiner Weise glaubhaft gemacht.




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Aus der eidesstattlichen Versicherung der
Mitarbeiterin S. ergebe sich auch nicht, dass diese die
Mitarbeiterin B. im Hinblick auf den drohenden Fristablauf in
besonderer Weise dahingehend instruiert hätte, der
Schriftsatz müsse unbedingt noch am 9. März 2001 zur Post
gegeben werden. Dies sei aber gerade deshalb erforderlich
gewesen, weil es sich bei dem 9. März 2001 um einen Freitag
gehandelt habe und die Mitarbeiterin S. von einem Fristablauf
am Montag, den 12. März 2001, ausgegangen sei. Nehme man
hinzu, dass im Büro des Prozessbevollmächtigten
offensichtlich die Mitarbeiterin S. entscheide, ob ein
Schriftsatz per Fax oder mit normaler Post abgeschickt werde,
so liege ein der Beschwerdeführerin zurechenbares
Organisationsverschulden auf Seiten des
Prozessbevollmächtigten vor.




II.




7



1. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die
Beschwerdeführerin die Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG.




8



Dem Bürger dürften Verzögerungen bei der
Briefbeförderung und Zustellung durch die Deutsche Post AG
nicht als Verschulden angerechnet werden. Diesem Grundsatz
müsse jedes rechtsstaatliche Gerichtsverfahren genügen. Der
Bürger könne darauf vertrauen, dass die nach den
organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen der Post für
den Normalfall festgelegten Postlaufzeiten eingehalten
würden. Versagten diese Vorkehrungen, so dürfe das dem
Bürger, der darauf keinen Einfluss habe, im Rahmen der
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht als Verschulden
zur Last gelegt werden. Bei Zweifeln hätte das Landgericht
von Amts wegen eine Auskunft über die übliche Postlaufzeit
einholen müssen. Bis zum 9. März 2001 hätten aufgrund über
25-jähriger anwaltlicher Tätigkeit des
Prozessbevollmächtigten in Oer-Erkenschwick keinerlei
Erkenntnisse darüber vorgelegen, dass die Postlaufzeit von
dort nach Bochum mehr als einen Tag betrage.




9



Die Anforderungen an die Organisation im Büro
des Prozessbevollmächtigten würden in der Entscheidung
wirklichkeitsfremd überspannt. Zwei seiner Mitarbeiterinnen
hätten an Eides statt versichert, dass das fristwahrende
Schriftstück am 9. März 2001 zur Post gegeben worden sei. Es
gebe keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass Frau B., die
ausschließlich damit betraut gewesen sei, die Post zum
Postamt zu bringen, dies nicht getan habe. Am 9. März 2001
habe kein Fristablauf gedroht, da die Frist erst am 13. März
2001 abgelaufen sei. Der Prozessbevollmächtigte habe die
Frist richtig notiert. Die durch die Mitarbeiterin S.
erfolgte Falschberechnung der Frist habe er als unschädlich
angesehen, da ein zu früh notierter Fristablauf keinerlei
Rechtsnachteile mit sich bringe. Daher habe er auch keine
gesonderte Belehrung der Mitarbeiterin B. veranlassen
müssen.




10



2. Das Justizministerium des Landes
Nordrhein-Westfalen und die Beklagte des Ausgangsverfahren
hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.




III.




11



Die Annahmevoraussetzungen nach § 93a
Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor. Die Annahme der
Verfassungsbeschwerde, der keine grundsätzliche
verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt, ist mangels
hinreichender Aussicht auf Erfolg nicht im Sinn von
§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Durchsetzung der
als verletzt bezeichneten Verfassungsrechte angezeigt (vgl.
BVerfGE 90, 22 ).




12



1. In Betracht zu ziehen ist eine Verletzung
der Beschwerdeführerin in ihrem Anspruch auf Gewährung
wirkungsvollen Rechtsschutzes. Dieser Anspruch, der für
bürgerlich-rechtliche Streitigkeiten aus Art. 2 Abs. 1 GG in
Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip folgt (vgl. BVerfGE
85, 337 m.w.N.), verbietet es den Gerichten, den
Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung
vorgesehenen Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht
mehr zu rechtfertigenden Weise zu erschweren (vgl. BVerfGE
41, 23 ; 69, 381 ; 88, 118
). Danach dürfen bei der Auslegung und
Anwendung der Vorschriften über die Wiedereinsetzung in den
vorigen Stand die Anforderungen an das, was der Betroffene
veranlasst haben muss, um Wiedereinsetzung zu erlangen, nicht
überspannt werden (vgl. BVerfGE 40, 88 ; 67, 208
; stRspr). Dieser Grundsatz begrenzt auch
die Anforderungen, die nach Fristversäumung an den Vortrag
und die Glaubhaftmachung der Versäumungsgründe gestellt
werden dürfen (vgl. BVerfGE 26, 315 ; 37,
93 ; 37, 100 ; 38, 35
; 40, 42 ). Zur Wahrung des Grundrechts
auf effektiven Rechtsschutz kann in bestimmten Fällen in
Betracht kommen, eine schlichte, d.h. nicht durch weitere
Mittel der Glaubhaftmachung unterstützte Erklärung als
geeignet anzusehen, die richterliche Überzeugung zu
begründen, dass der behauptete Versäumungsgrund zutrifft.
Dies kann der Fall sein, wenn andere Mittel der
Glaubhaftmachung in der jeweiligen Fallgestaltung nicht zur
Verfügung stehen (vgl. BVerfGE 41, 332 )
und gilt zumal dann, wenn behördliche Vorkehrungen, durch die
der Zeitpunkt der Aufgabe eines Schriftstücks zur Beförderung
dokumentiert werden soll, versagen und der Bürger keine
anderen Möglichkeiten der Glaubhaftmachung hat. Das Versagen
organisatorischer Vorkehrungen, auf die der Bürger keinen
Einfluss hat, darf ihm im Rahmen der Wiedereinsetzung nicht
zur Last gelegt werden (vgl. BVerfGE 41, 23 ; 53,
25 ; 62, 216 ).




13



Das Bundesverfassungsgericht hat für den
Nachweis, ob ein Betroffener den Anforderungen für eine
rechtzeitige Versendung eines fristgebundenen
Rechtsmittelschriftsatzes ausreichend Rechnung getragen hat,
darauf hingewiesen, dass sich dies in aller Regel dem
Briefumschlag mit dem Poststempel entnehmen lasse, der
deshalb zweckmäßigerweise bei den Akten aufzubewahren sei
(vgl. BVerfGE 41, 23 ; ähnlich BVerfGE 41, 356
; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des
Bundesverfassungsgerichts vom 26. März 1997 - 2 BvR 842/96 -,
NJW 1997, S. 1770 m.w.N. zur
Kammerrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts). Ist in
einem solchen Fall die schlichte Erklärung des Antragstellers
zum Zeitpunkt der Absendung des Schriftstücks nicht von
vornherein unglaubhaft, so hat das Gericht bei seiner
Überzeugungsbildung den Umstand in Rechnung zu stellen, dass
es dem Antragsteller aus Gründen, die in der Sphäre einer
Behörde liegen, auf deren Tätigkeit er keinen Einfluss hat,
unmöglich ist, eine Tatsache glaubhaft zu machen, die
andernfalls unschwer aufzuklären wäre (vgl. Beschluss der 3.
Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom
26. März 1997, a.a.O., S. 1771 m.w.N.).




14



2. Daran gemessen liegt der geltend gemachte
Verfassungsverstoß hier im Ergebnis nicht vor.




15



Zwar ist der Umschlag, mit dem die
Berufungsschrift versandt wurde, vom Landgericht nicht zu den
Akten genommen worden. Wäre dies geschehen, hätte
möglicherweise anhand des Poststempels festgestellt werden
können, ob die Angaben der Beschwerdeführerin zum Zeitpunkt
der Übergabe des Briefes zur Post zutreffen. Dies ist ein
sicherer Beweis, der einem Betroffenen bei der - zur Wahrung
der Frist zugelassenen - Einlegung eines fristgebundenen
Rechtsbehelfs durch einfache Briefsendung zur Verfügung
steht. Dieser Mangel organisatorischer Maßnahmen des
Landgerichts könnte indessen nur dann zu der dargelegten
Herabsetzung der Anforderungen an die Glaubhaftmachung des
Wiedereinsetzungsgrundes führen, wenn über die schlichte
Erklärung hinaus kein anderes Mittel der Glaubhaftmachung zur
Verfügung stünde. Das kann hier nicht festgestellt werden.
Die Beschwerdeführerin hat die Absendung des
Berufungsschriftsatzes selbst nicht glaubhaft gemacht und es
ist nicht ersichtlich, dass ihr dies nicht möglich gewesen
wäre. Offenbar hat sich ihr Prozessbevollmächtigter nicht um
eine eidesstattliche Versicherung der aus seiner Kanzlei
ausgeschiedenen Mitarbeiterin, die den Schriftsatz zur Post
gebracht haben soll, bemüht. Jedenfalls hat er nicht
vorgetragen, dass er derartige Bemühungen unternommen habe
oder dass die ehemalige Mitarbeiterin für ihn nicht mehr
erreichbar gewesen sei. Damit hat er nicht alle Möglichkeiten
ausgeschöpft, die eigene Schuldlosigkeit an der
Fristversäumung glaubhaft zu machen. Die schlichte Erklärung
zur rechtzeitigen Absendung des Schriftstücks ist deshalb vom
Landgericht im Ergebnis ohne Verfassungsverstoß als nicht
ausreichend angesehen worden.




16



3. Von einer weiteren Begründung wird gemäß
§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.




17



Diese Entscheidung ist unanfechtbar.




 




Sommer
Broß
Mellinghoff







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