2 BvR 1100/01 - Verletzung von GG Art 2 Abs 1 iVm dem Rechtsstaatsprinzip durch Überspannung der zu erfüllenden Darlegungslast im Rahmen eines Wiedereinsetzungsantrages bei Inanspruchnahme des Postverteildienstes eines Anwaltvereins
Karar Dilini Çevir:





 



BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 2 BvR 1100/01 -










Im Namen des Volkes




In dem Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerde




 



des Seniorenschutzbundes "Graue Panther e.V.",
vertreten durch die 1. Vorsitzende U...,




 



- Bevollmächtigte:


Rechtsanwälte Dr. Paul Michael Günther und Kollegen,

Döppersberg 19, 42103 Wuppertal -





 





gegen
a)

den Beschluss des
Landgerichts Wuppertal vom 8. Juni 2001 - 9 S 93/01
-,



b)

den Beschluss des
Landgerichts Wuppertal vom 9. Mai 2001 - 9 S 93/01 -






 



hat die 4. Kammer des Zweiten Senats des
Bundesverfassungsgerichts durch

die Richterin Präsidentin Limbach

und die Richter Jentsch,

Di Fabio




 



am 20. Dezember 2001 einstimmig
beschlossen:




 



Die Beschlüsse des Landgerichts Wuppertal vom
9. Mai 2001 - 9 S 93/01 - und vom 8. Juni 2001 - 9 S 93/01 -
verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus
Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem
Rechtsstaatsprinzip. Sie werden aufgehoben. Die Sache wird an
das Landgericht zurückverwiesen.

Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem
Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen
Tätigkeit wird für das Verfassungsbeschwerde-Verfahren auf
12.000 DM (in Worten: zwölftausend) festgesetzt.




 


Gründe:




I.




1



Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen
gerichtliche Entscheidungen, durch die Wiedereinsetzung in
den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist
versagt und die Berufung verworfen worden ist.




2



1. Im Ausgangsverfahren verurteilte das
Amtsgericht den Beschwerdeführer zur Zahlung von 3.100 DM
nebst Zinsen. Seine hiergegen gerichtete Berufung ging einen
Tag nach Ablauf der Berufungsfrist beim Landgericht ein. Nach
einem entsprechenden Hinweis beantragte der Beschwerdeführer
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und führte zur
Begründung aus: Eine Auszubildende seines
Prozessbevollmächtigten habe die Berufungsschrift am Tag des
Fristablaufs gegen 8.00 Uhr in das mit der Aufschrift
"Zivilkammern" versehene Fach im Anwaltszimmer des
Landgerichts eingelegt. Von hier aus werde die Gerichtspost
noch am selben Vormittag durch eine Mitarbeiterin des
Anwaltvereins auf die einzelnen Geschäftsstellen bzw. an die
Posteingangsstelle des Landgerichts verteilt. Sei die
Angestellte erkrankt, stelle der Anwaltverein sicher, dass
eine zuverlässige Ersatzkraft die Verteilung der Post
übernehme.




3



Das Landgericht wies den Antrag auf
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand durch Beschluss vom 9.
Mai 2001 zurück und verwarf die Berufung als unzulässig. Die
Leerung des Gerichtsfachs im Anwaltszimmer gehöre zur
anwaltlichen Organisation. Wenn sich ein Rechtsanwalt zur
Übermittlung eines fristwahrenden Schriftsatzes unter
Ausschöpfung der Frist des Fachs im Anwaltszimmer bediene,
müsse er - wie bei den Angehörigen seiner eigenen Kanzlei -
durch organisatorische Maßnahmen Sorge dafür tragen, dass der
Schriftsatz dem Gericht noch am selben Tag zugehe. Es sei
nicht dargelegt, dass es insoweit strikte Anweisungen gegeben
habe, deren Einhaltung stichprobenartig überprüft worden
sei.




4



Die hiergegen gerichtete Gegenvorstellung des
Beschwerdeführers wies das Landgericht durch Beschluss vom 8.
Juni 2001 zurück.




5



2. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der
Beschwerdeführer die Verletzung von Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m.
dem Rechtsstaatsprinzip und von Art. 103 Abs. 1 GG. Es sei
einer Prozesspartei unbenommen, sich zum Zwecke der
Zustellung von fristwahrenden Schriftsätzen eines
Kurierdienstes zu bedienen. In derartigen Fällen verbiete es
sich, die Darlegung von Vorgängen innerhalb der
Organisationsstruktur solcher Dienstleistungsanbieter zu
verlangen. Insoweit bestehe kein Unterschied zwischen der
Beförderung durch die Deutsche Post AG und durch andere
Anbieter. Ob und inwieweit die Angestellte des Anwaltvereins
instruiert und überwacht werde, sei nur dem Vereinsvorstand
bekannt, dem die Prozessbevollmächtigten des
Beschwerdeführers nicht angehörten.




6



3. Das Justizministerium des Landes
Nordrhein-Westfalen und die Klägerin des Ausgangsverfahrens
hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.




II.




7



1. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde
zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur
Durchsetzung des Grundrechtes des Beschwerdeführers auf
effektiven Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem
Rechtsstaatsprinzip) angezeigt ist (§ 93a Abs. 2
Buchstabe b BVerfGG). Auch die weiteren Voraussetzungen für
eine stattgebende Kammerentscheidung nach § 93c Abs. 1
Satz 1 BVerfGG liegen vor.




8



a) Die für die Beurteilung der
Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen
Fragen sind durch das Bundesverfassungsgericht schon
entschieden. Nach ständiger Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts dürfen bei der Auslegung und
Anwendung der Vorschriften über die Wiedereinsetzung in den
vorigen Stand die Anforderungen an das, was der Betroffene
veranlasst haben muss, um Wiedereinsetzung zu verlangen,
nicht überspannt werden (vgl. BVerfGE 40, 88 ; 67,
208 ). Denn der Anspruch auf Gewährung
wirkungsvollen Rechtsschutzes, der für bürgerlich-rechtliche
Streitigkeiten aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem
Rechtsstaatsprinzip folgt (vgl. BVerfGE 85, 337
m.w.N.), verbietet es den Gerichten, den Parteien den Zugang
zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in
unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender
Weise zu erschweren (vgl. BVerfGE 41, 23 ; 69, 381
; 88, 118 ). Das
Bundesverfassungsgericht hat es insbesondere als nicht
zulässig angesehen, dem Bürger Verzögerungen der
Briefbeförderung oder Zustellung durch die Deutsche Post AG
als Verschulden anzurechnen (vgl. BVerfGE 41, 23
; 53, 25 ; 62, 334 ;
Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des
Bundesverfassungsgerichts vom 11. November 1999 - 1 BvR
762/99 -, NJW-RR 2000, S. 726). In der Verantwortung des
Absenders liegt es allein, das zu befördernde Schriftstück so
rechtzeitig und ordnungsgemäß zur Post zu geben, dass es bei
normalem Verlauf der Dinge den Empfänger fristgerecht
erreichen kann (vgl. BVerfGE 41, 23 ).




9



Die Beurteilung, welche Anforderungen an die
Darlegung im Rahmen eines Wiedereinsetzungsantrags gestellt
werden, ist grundsätzlich Sache der Fachgerichte. Dies gilt
auch im Hinblick auf die Nutzung privater Kurierdienste. Für
den Bürger muss aber vorhersehbar bleiben, welche
Anforderungen an seine Darlegungen bei einem Antrag auf
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gestellt werden, und es
muss ihm zumutbar und möglich sein, diese Anforderungen zu
erfüllen. Dies verbietet im Regelfall, die Darlegung von
Vorgängen innerhalb der Organisationsstruktur der
Dienstleistungsanbieter zu verlangen, da diese sich
regelmäßig der Kenntnis des Nutzers entziehen. Hier besteht
kein Unterschied zwischen der Beförderung durch die Deutsche
Post AG und der durch andere Anbieter (vgl. Beschluss der 2.
Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom
23. August 1999 - 1 BvR 1138/97 - NJW 1999, S. 3701 f. -
dort zum Kurierdienst eines Anwaltvereins).




10



b) Bei Anwendung dieser Grundsätze ist die
Verfassungsbeschwerde im Sinne von § 93c Abs. 1 Satz 1
BVerfGG offensichtlich begründet.




11



Der Beschwerdeführer hat sich für den
Transport der Berufungsschrift vom Anwaltszimmer des
Landgerichts zur Geschäftsstelle der Berufungskammer eines
privaten Kurierdienstes, nämlich des Postverteildienstes des
Anwaltvereins bedient. In der Auswahl dieses Dienstes hat
auch das Berufungsgericht ein Verschulden nicht erblickt. Es
hat vom Beschwerdeführer jedoch verlangt, darzulegen, durch
welche Maßnahmen Sorge dafür getragen war, dass die am Morgen
in das entsprechende Fach des Anwaltszimmers eingelegten
Schriftsätze dem Gericht am selben Tag zugehen, und ob die
Beachtung der Anweisungen stichprobenartig überprüft wurde.
Dabei hat es verkannt, dass die vom Anwaltverein betriebene
Postverteilstelle nicht zum Organisationsbereich der sie
benutzenden Anwälte gehört. Die Organisation der
Postverteilung obliegt allein dem Anwaltverein. Der einzelne
Anwalt ist, selbst wenn er Mitglied des Anwaltvereins sein
sollte, gegenüber den Angestellten des Anwaltvereins weder
weisungs- noch kontrollbefugt.




12



Der Beschwerdeführer hat dargelegt, bis wann
die Schriftsätze in die Fächer des Anwaltszimmers eingelegt
sein müssen, um bei regelmäßigem Betriebsablauf noch am
selben Tag an die einzelnen Geschäftsstellen des Amts- und
Landgerichts sowie der Staatsanwaltschaften verteilt zu
werden. Verlangt man weiteren Vortrag zur
Organisationsstruktur des in Anspruch genommenen
Kurierdienstes, so wird die Benutzung eines solchen Dienstes
faktisch ausgeschlossen, denn einem Anwalt ist es regelmäßig
nicht möglich und nicht zumutbar, bei Inanspruchnahme eines
Kurierdienstes weiterreichende Erkundigungen einzuholen (vgl.
Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des
Bundesverfassungsgerichts vom 23. August 1999 - 1 BvR 1138/97
-, NJW 1999, S. 3701 f.).




13



2. Da der Beschluss vom 9. Mai 2001 und der
ihn bestätigende Beschluss vom 8. Juni 2001 schon wegen
Verstoßes gegen Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem
Rechtstaatsprinzip aufzuheben sind (§ 95 Abs. 2
BVerfGG), kann offen bleiben, ob die Entscheidungen auch Art.
103 Abs. 1 GG verletzen.




14



3. Die Kostenentscheidung beruht auf
§ 34a Abs. 2 BVerfGG, die Festsetzung des Wertes des
Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit auf § 113 Abs. 2
Satz 3 BRAGO i.V.m. den vom Bundesverfassungsgericht dazu
entwickelten Grundsätzen (vgl. BVerfGE 79, 365
).




15



Diese Entscheidung ist unanfechtbar
(§ 93d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG).




 




Limbach
Jentsch
Di Fabio







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