2 BvL 5/99 - Vorlage des LG Potsdam zur Wehrpflicht unzulässigSiehe auchPressemitteilung Nr. 45/2002 vom 10. April 2002
Karar Dilini Çevir:





 



BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 2 BvL 5/99 -










Im Namen des Volkes




In dem Verfahren





zur verfassungsrechtlichen Prüfung,





ob die allgemeine Wehrpflicht (§§ 1 Abs.
1, 3 Abs. 1 WPflG) und darauf basierend die Strafbarkeit der
Dienstflucht (§ 53 ZDG) mit dem Grundgesetz vereinbar
sind





- Aussetzungs- und Vorlagebeschluss des
Landgerichts Potsdam vom 19. März 1999 - 23 (H) Ns 72/98
-




 



hat das Bundesverfassungsgericht - Zweiter
Senat - unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter

Präsidentin Limbach,

Sommer,

Jentsch,

Hassemer,

Broß,

Osterloh,

Di Fabio,

Mellinghoff




 



am 20. Februar 2002 einstimmig beschlossen:




 



Die Vorlage ist unzulässig.




 


Gründe:




A.




1



Die Vorlage betrifft die Verfassungsmäßigkeit
der allgemeinen Wehrpflicht (§ 1 Abs. 1, § 3 Abs. 1
Satz 1 WPflG) und der Strafbarkeit der Dienstflucht
(§ 53 Abs. 1 ZDG).



 


I.




2



§ 1 Abs. 1 und § 3 Abs. 1 Satz 1 des
Wehrpflichtgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 15.
Dezember 1995 (BGBl I S. 1756) lauten:




3



§ 1 Allgemeine Wehrpflicht




4



(1) Wehrpflichtig sind alle Männer vom
vollendeten achtzehnten Lebensjahr an, die Deutsche im Sinne
des Grundgesetzes sind und




5



1. ihren ständigen Aufenthalt in der
Bundesrepublik Deutschland haben oder




6



2. ihren ständigen Aufenthalt außerhalb der
Bundesrepublik Deutschland haben und entweder




7



a) ihren früheren ständigen Aufenthalt in der
Bundesrepublik Deutschland hatten oder




8



b) einen Pass oder eine
Staatsangehörigkeitsurkunde der Bundesrepublik Deutschland
besitzen oder sich auf andere Weise ihrem Schutz unterstellt
haben.




9



§ 3 Inhalt und Dauer der Wehrpflicht




10



(1) Die Wehrpflicht wird durch den Wehrdienst
oder im Falle des § 1 des
Kriegsdienstverweigerungsgesetzes vom 28. Februar 1983 (BGBl
I S. 203) durch den Zivildienst erfüllt. ...




11



§ 53 Abs. 1 des Zivildienstgesetzes in
der Fassung der Bekanntmachung vom 28. September 1994 (BGBl I
S. 2811) hat folgenden Wortlaut:




12



§ 53 Dienstflucht




13



(1) Wer eigenmächtig den Zivildienst verlässt
oder ihm fernbleibt, um sich der Verpflichtung zum
Zivildienst dauernd oder für den Verteidigungsfall zu
entziehen oder die Beendigung des Zivildienstverhältnisses zu
erreichen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren
bestraft.




II.




14



1. Der Angeklagte im Ausgangsverfahren wurde
im Jahre 1969 in der DDR geboren und noch von der Nationalen
Volksarmee als tauglich gemustert. Im September 1989 erklärte
er schriftlich gegenüber dem Wehrkreiskommando Potsdam, er
lehne die Anwendung von Waffen und militärischer Gewalt aus
Glaubens- und Gewissensgründen ab und wolle seinen Wehrdienst
in den "Baueinheiten" ableisten. Aufgrund dieser Erklärung
galt er nach der Wiedervereinigung gemäß einer Verfügung des
Bundesministers für Frauen und Jugend vom 26. Juni 1991 als
anerkannter Kriegsdienstverweigerer.




15



Nach Ankündigung seiner Heranziehung zum
Zivildienst erklärte der Angeklagte dem Bundesamt für den
Zivildienst mit Schreiben vom 22. Januar 1992, er sei ein
"erklärter, ungesetzlicher Totalverweigerer". Das Bundesamt
wertete dieses Schreiben als "Antrag auf Nichtheranziehung
zum Zivildienst", den es durch Bescheid vom 26. Februar 1993
ablehnte. Durch Bescheid vom 26. März 1993 wurde der
Angeklagte zur Ableistung des Zivildienstes ab 1. September
1993 (Dienstende: 30. November 1994) einberufen. Beide
Bescheide wurden unanfechtbar. Seinen Dienst trat der
Angeklagte nicht an.




16



Das Amtsgericht Potsdam verurteilte ihn am 29.
Mai 1998 wegen Dienstflucht nach § 53 ZDG zu einer
Geldstrafe von 50 Tagessätzen à 30,- DM. Gegen das Urteil
legte er Berufung ein.




17



2. Das Landgericht Potsdam hat die Aussetzung
des Verfahrens und die Vorlage an das
Bundesverfassungsgericht zur Prüfung der Frage beschlossen,
ob § 1 Abs. 1, § 3 Abs. 1 WPflG und § 53 ZDG
mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Die Kammer sei davon
überzeugt, dass die allgemeine Wehrpflicht und die zu ihrer
zwangsweisen Durchsetzung geschaffenen Strafnormen jedenfalls
unter den veränderten politischen Bedingungen nicht mehr mit
dem Grundgesetz vereinbar seien.




18



a) Die Tatsache, dass sich das
Bundesverfassungsgericht bereits mehrfach mit der Frage der
Verfassungsmäßigkeit der allgemeinen Wehrpflicht befasst
habe, stehe einer erneuten Vorlage nicht entgegen. Es sei
anerkannt, dass bei einem grundlegenden Wandel der
Lebensverhältnisse, beim Vorliegen neuer Tatsachen oder neuer
rechtlicher Gesichtspunkte die Gesetzeskraft älterer
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts einer erneuten
Vorlage nicht im Wege stehe. Das Bundesverfassungsgericht
habe über die Rechtmäßigkeit, insbesondere die
Verhältnismäßigkeit der allgemeinen Wehrpflicht seit dem Ende
der Blockkonfrontation und des so genannten Kalten Krieges
noch nicht entschieden. Die grundlegende Veränderung der
verteidigungspolitischen Situation und der Sicherheitslage
der Bundesrepublik Deutschland lasse eine erneute Vorlage
zu.




19



b) Die vorgelegten gesetzlichen Vorschriften
seien entscheidungserheblich. Ein Freispruch komme nach
Überzeugung der Kammer bei Gültigkeit der vorgelegten
Vorschriften nicht in Betracht. Bei Ungültigkeit der
Vorschriften müsse der Angeklagte hingegen freigesprochen
werden.




20



c) Die allgemeine Wehrpflicht greife in die
Grundrechte der Wehrpflichtigen ein. Sie sei zur
Landesverteidigung nicht mehr erforderlich. Damit sei der
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt.




21



Art. 12 a Abs. 1 GG eröffne zwar dem
Gesetzgeber die Möglichkeit, Männer vom vollendeten 18.
Lebensjahr an zum Dienst in den Streitkräften, im
Bundesgrenzschutz oder in einem Zivilschutzverband zu
verpflichten. Die Wehrpflicht werde dadurch aber nicht zu
einer "Grundpflicht". Die Wehrpflicht sei entgegen der
bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch
keine eigenständige verfassungsrechtliche Pflicht. Art. 12 a
Abs. 1 GG sei nur eine Ermächtigungsnorm, die durch § 1
Abs. 1, § 3 Abs. 1 WPflG begründete Wehrpflicht eine
einfachgesetzliche Pflicht.




22



Der Gesetzgeber könne sein Ermessen nur im
Rahmen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ausüben. Zwar
habe das Bundesverfassungsgericht in einer sehr frühen
Entscheidung (BVerfGE 12, 45 , ebenso BVerfGE 48,
127 ) die Auffassung vertreten, das
Prinzip der Verhältnismäßigkeit sei für die Beurteilung der
Verfassungsmäßigkeit der Wehrpflicht kein adäquater Maßstab.
Dies überzeuge jedoch nicht, weil die Grundsätze der
Verhältnismäßigkeit und des Übermaßverbotes Leitregeln allen
staatlichen Handelns seien und Verfassungsrang besäßen.
Gesetze müssten daher geeignet und erforderlich sein, um den
erstrebten Zweck zu erzielen.




23



Bei der Bestimmung des gesetzgeberischen Ziels
der Wehrpflicht sei vom Friedensziel des Art. 26 Abs. 1 GG
und vom Verteidigungsauftrag des Art. 87 a Abs. 1 Satz 1 GG
auszugehen. Der sich aus der Verfassung allein ergebende
Zweck der Einrichtung der Bundeswehr sei die
Landesverteidigung. Es komme daher nur darauf an, ob die
Wehrpflichtigenarmee zur Verteidigung der Bundesrepublik
Deutschland gegenwärtig erforderlich sei. Dafür sei von
entscheidender Bedeutung, ob die Sicherheit der
Bundesrepublik Deutschland gegenwärtig oder in absehbarer
Zeit von äußeren Feinden bedroht werde. Die Kammer gehe von
dem Grundsatz aus, dass Gerichte nicht ihre Einschätzung der
sicherheitspolitischen Situation an die Stelle der
Einschätzung der gewählten hierfür zuständigen staatlichen
Organe setzen dürften. Der politischen Führung komme hier
eine gerichtlich kaum überprüfbare Einschätzungsprärogative
zu.




24



Alle Vertreter der politischen und
militärischen Führung der Bundesrepublik Deutschland seien
sich aber darin einig, dass im Zuge der weltpolitischen
Veränderungen seit 1989 eine entscheidende Entspannung der
Sicherheitslage eingetreten sei. Deutschland sei spätestens
mit dem Abzug der letzten russischen Truppen im August 1994
keiner existenzgefährdenden Bedrohung mehr ausgesetzt. Von
keinem politischen oder militärischen Vertreter der
Bundesrepublik Deutschland oder der NATO werde eine aktuelle
oder absehbare zukünftige Bedrohung der Sicherheit der
Bundesrepublik Deutschland durch Angriffe von außen ernsthaft
für möglich gehalten. Auch zahlreiche andere NATO-Staaten
hätten die allgemeine Wehrpflicht abgeschafft. Eine Berufs-
oder Freiwilligenarmee könne die noch verbliebenen
Verteidigungsaufgaben mindestens ebenso gut wahrnehmen wie
eine Wehrpflichtigenarmee. Zur Sicherung des in Art. 20 Abs.
1 GG enthaltenen demokratischen Strukturprinzips sei eine
Freiwilligenarmee ebenso gut geeignet.




III.




25



Zur Vorlage haben das
Bundesverwaltungsgericht, das Bundesministerium der
Verteidigung und der Strafverteidiger im Ausgangsverfahren
Stellung genommen.




26



1. Der Vorsitzende des Sechsten Senats des
Bundesverwaltungsgerichts hat ausgeführt, Bundesverfassungs-
und Bundesverwaltungsgericht gingen in ständiger
Rechtsprechung von der Verfassungsmäßigkeit der allgemeinen
Wehrpflicht aus. Auf veränderte Sicherheitsbedürfnisse zu
reagieren sei Aufgabe des parlamentarischen Gesetzgebers.




27



2. Das Bundesministerium der Verteidigung hält
die Vorlage für unzulässig. Sie gehe nicht von der bisherigen
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aus, sondern
ziele auf deren Änderung ab.




28



Die Vorlage könne keinen Erfolg haben. Die
Wehrpflicht sei eine verfassungsrechtlich abgesicherte
Pflicht. Der Einsatz von Wehrpflichtigen sei auch außerhalb
der engen Grenzen der Landesverteidigung zulässig. Das
Landgericht Potsdam stelle seine Einschätzung der
sicherheitspolitischen Lage an die Stelle der des
Gesetzgebers, ohne sie ausreichend zu begründen. Die
Einschätzung des Gerichts sei zudem falsch. Zwar habe sich
die sicherheitspolitische Lage in Europa im Vergleich zu der
Situation während des Kalten Krieges grundlegend verbessert.
Auf der anderen Seite seien aber neue Risiken für die
Stabilität und den Frieden sichtbar geworden. Sie zeigten,
dass Instabilitäten in und am Rande Europas nicht regional
begrenzt blieben, sondern auch unmittelbar Einfluss auf die
Stabilität des ganzen Kontinents hätten. Dem Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit werde bereits dadurch Rechnung getragen,
dass der Deutsche Bundestag die Dauer des Grundwehrdienstes
den aktuellen sicherheitspolitischen Gegebenheiten angepasst
und von 18 Monaten auf 10 Monate verkürzt habe.




29



3. Der Verteidiger des Angeklagten im
Ausgangsverfahren hat ausgeführt, die allgemeine Wehrpflicht
werde zunehmend selbst militärpolitisch für fragwürdig
gehalten.




30



Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs
vom 11. Januar 2000 (NJW 2000, S. 497) über den Zugang von
Frauen zur Bundeswehr habe indirekt Auswirkungen auf die
Verfassungsmäßigkeit der Wehrpflicht. Denn nunmehr entfalle
der tragende Grund der Beschränkung der allgemeinen
Wehrpflicht auf Männer. Zudem sei die Wehrgerechtigkeit durch
die jetzige Einberufungspraxis verletzt.




B.




31



Die Vorlage ist unzulässig. Das Landgericht
hat nicht hinreichend dargelegt, dass es für die von ihm zu
treffende Entscheidung darauf ankomme, ob die allgemeine
Wehrpflicht (§ 1 Abs. 1 WPflG) in einem nicht näher
bezeichneten Zeitpunkt verfassungswidrig geworden sei (I.).
Die Vorlage genügt auch nicht den gesteigerten Anforderungen,
die an die Begründung zu stellen sind, wenn eine Norm erneut
zur Überprüfung vorgelegt wird, deren Vereinbarkeit mit dem
Grundgesetz das Bundesverfassungsgericht bereits in einer
früheren Entscheidung bejaht hat (II., III.).




I.




32



1. Gemäß Art. 100 Abs. 1 GG in Verbindung mit
§ 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG muss das vorlegende Gericht
darlegen, inwiefern seine Entscheidung von der Gültigkeit der
zur Prüfung gestellten Norm abhängt. Der Vorlagebeschluss
muss mit hinreichender Deutlichkeit erkennen lassen, dass das
vorlegende Gericht im Falle der Gültigkeit der in Frage
gestellten Vorschrift zu einem anderen Ergebnis kommen würde
als im Falle ihrer Ungültigkeit und wie das Gericht dieses
Ergebnis begründen würde (seit BVerfGE 7, 171
stRspr, vgl. zuletzt BVerfGE 97, 49
; 98, 169 ). Das Gericht muss sich dabei
eingehend mit der Rechtslage auseinandersetzen und die in
Literatur und Rechtsprechung entwickelten Rechtsauffassungen
berücksichtigen, die für die Auslegung der zur Prüfung
vorgelegten Norm von Bedeutung sind (vgl. BVerfGE 97, 49
; stRspr).




33



Für die Beurteilung der
Entscheidungserheblichkeit im Verfahren der konkreten
Normenkontrolle ist grundsätzlich die Rechtsauffassung des
vorlegenden Gerichts maßgebend, sofern diese nicht
offensichtlich unhaltbar ist (seit BVerfGE 2, 181
stRspr). Das setzt jedoch voraus, dass
der Vorlagebeschluss eine solche Rechtsauffassung mit
hinreichender Deutlichkeit erkennen lässt. Eine im
Vorlagebeschluss lediglich im Ergebnis - jedoch ohne nähere
Darlegung - zugrunde gelegte Auffassung bindet nicht. In
einem solchen Falle ist es dem Bundesverfassungsgericht auch
verwehrt, die fehlende Begründung der Überzeugung des
vorlegenden Gerichts von der Entscheidungserheblichkeit der
Vorlage durch eigene Erwägungen zu ersetzen. Denn diese
müssen Aufgabe des Fachgerichts bleiben (vgl. BVerfGE 97, 49
).




34



2. Gemäß diesem Maßstab kann nicht
festgestellt werden, dass die vom Landgericht zu treffende
Entscheidung von der Vereinbarkeit der allgemeinen
Wehrpflicht mit dem Grundgesetz abhängt. Das Landgericht legt
zwar dar, dass der Angeklagte, wenn die allgemeine
Wehrpflicht mit dem Grundgesetz vereinbar wäre, der
Dienstflucht schuldig gesprochen werden müsste. Dem
Vorlagebeschluss lässt sich jedoch nicht mit der
erforderlichen Gewissheit entnehmen, dass und aus welchen
Gründen der Angeklagte freigesprochen werden müsste, wenn die
Wehrpflicht in einem nicht genau bezeichneten Zeitpunkt nach
der Überwindung der Teilung Europas verfassungswidrig
geworden wäre.




35



a) § 53 Abs. 1 ZDG setzt in objektiver
Hinsicht lediglich ein eigenmächtiges Fernbleiben vom
Zivildienst trotz bestehender Verpflichtung zum Zivildienst
voraus. Der Vorlage liegt offenbar die Auffassung zugrunde,
dass eine Verpflichtung zum Zivildienst sich allein aus
§ 1 Abs. 1 i.V.m. § 3 Abs. 1 WPflG ergeben könne.
In der Literatur wird hingegen überwiegend die Auffassung
vertreten, dass die Verpflichtung zum Zivildienst nicht
unmittelbar durch die gesetzliche Wehrpflicht, sondern allein
durch einen wirksamen und vollziehbaren Einberufungsbescheid
begründet werde (vgl. Harrer/Haberland, Zivildienstgesetz, 4.
Aufl. 1992, § 53 Anm. 2; LG Dortmund, Beschluss vom 15.
Juli 1964, NJW 1964, S. 2028; für die ähnliche Vorschrift des
§ 16 Abs. 1 des Wehrstrafgesetzes: Schölz/Lingens,
Wehrstrafgesetz, Kommentar, 4. Aufl. 2000, § 1 Rn
5 ff. und § 16 Rn 4; Herbert Arndt, JZ 1965, S.
775; Menger, DRiZ 1967, S. 381). Die Strafbewehrung eines
Verwaltungsakts und die dadurch bedingte Bindung des
Strafrichters an die Entscheidung einer Verwaltungsbehörde
verstößt nicht gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung (Art.
20 Abs. 3 GG; vgl. BVerfGE 80, 244 ). Nach dieser
Auffassung käme es für die Strafbarkeit des Verhaltens des
Angeklagten auf die Verfassungsmäßigkeit der allgemeinen
Wehrpflicht nicht an. Denn der Angeklagte wurde durch
unanfechtbaren Bescheid vom 26. März 1993 zum Zivildienst
einberufen. Dass und gegebenenfalls aus welchen Gründen der
Einberufungsbescheid gemäß § 44 VwVfG nichtig sein
sollte, legt das Landgericht nicht dar.




36



Die Auffassung, dass sich eine Verpflichtung
zum Zivildienst bereits aus einem wirksamen und vollziehbaren
Einberufungsbescheid ergebe, ist allerdings nicht
unbestritten (vgl. OLG Stuttgart, Urteil vom 23. November
1990, NJW 1991, S. 935). Auch der Bundesgerichtshof hat in
einem Urteil vom 21. Februar 1967 (NZWehrR 1967, S. 173;
ebenso OLG Nürnberg, Beschluss vom 28. April 1965, JZ 1965,
S. 688) entschieden, dass wegen Fahnenflucht (§ 16 WStG)
nicht bestraft werden könne, wer zum Wehrdienst einberufen
werde, obwohl er nicht mehr der gesetzlichen Wehrpflicht
unterliege, weil er seinen ständigen Aufenthalt aus dem
Geltungsbereich des Wehrpflichtgesetzes hinaus verlegt
habe.




37



Das Landgericht hätte sich - wenn es dieser
Rechtsprechung hätte folgen wollen - mit der Vergleichbarkeit
von § 16 WStG und § 53 ZDG sowie mit der
grundlegenden Kritik an diesen Entscheidungen (vgl. Arndt, JZ
1965, S. 775; Menger, DRiZ 1967, S. 381) und dem neueren
Schrifttum (Harrer/Haberland, a.a.O.; Schölz/Lingens, a.a.O.)
auseinandersetzen müssen. Es hätte zudem prüfen müssen, ob
ein rechtmäßiger Einberufungsbescheid vorliegt, der den
Angeklagten zum Zivildienst verpflichtet. Maßgebend für die
Beurteilung der Rechtmäßigkeit eines Einberufungsbescheids
ist nach ständiger Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts (vgl. BVerwGE 62, 80 ;
Beschluss vom 22. Mai 1987, NVwZ-RR 1988, S. 34) der im
Einberufungsbescheid festgesetzte Gestellungszeitpunkt, hier
also der 1. September 1993. Das Landgericht legt nicht dar,
dass die allgemeine Wehrpflicht bereits in diesem Zeitpunkt
verfassungswidrig gewesen sei.




38



b) Selbst wenn die Verpflichtung zum
Zivildienst neben einer wirksamen Einberufung auch das
Bestehen der gesetzlichen Wehrpflicht voraussetzte, hätte das
Landgericht zunächst darlegen müssen, welcher Zeitpunkt
insoweit für die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit der
allgemeinen Wehrpflicht maßgebend sei, und sodann, dass die
allgemeine Wehrpflicht in diesem Zeitpunkt nicht mehr mit dem
Grundgesetz vereinbar sei. Das Landgericht führt lediglich
aus, dass die strafbewehrte Aufrechterhaltung einer
allgemeinen Wehrpflicht "jedenfalls unter den gegenwärtigen
politischen Bedingungen" nicht mehr verfassungsgemäß sei (S.
11 der Vorlage); sie sei "unter den heutigen Bedingungen" ein
unverhältnismäßiger Eingriff in die Grundrechte der
Wehrpflichtigen (S. 32 der Vorlage). Es meint zwar, einen
Konsens darüber feststellen zu können, dass die
Bundesrepublik Deutschland spätestens mit dem Abzug der
letzten russischen Truppen im August 1994 nicht mehr einer
existenzgefährdenden Bedrohung ausgesetzt sei. Wann die
zuständigen Organe hieraus Konsequenzen für die allgemeine
Wehrpflicht spätestens hätten ziehen müssen, führt es jedoch
nicht aus. Dem liegt offenbar die Auffassung zugrunde, dass
der Angeklagte vom Vorwurf der Dienstflucht freizusprechen
sei, wenn die allgemeine Wehrpflicht im Zeitpunkt der
strafgerichtlichen Entscheidung mit dem Grundgesetz nicht
mehr vereinbar wäre.




39



Gemäß § 2 Abs. 1 StGB bestimmen sich die
Strafe und ihre Nebenfolgen jedoch nach dem Gesetz, das zur
Zeit der Tat gilt. Dass die allgemeine Wehrpflicht bereits in
dem in Betracht kommenden Tatzeitraum vom 1. September 1993
bis 30. November 1994 verfassungswidrig gewesen sei, geht aus
dem Vorlagebeschluss vom 19. März 1999 nicht mit
hinreichender Deutlichkeit hervor. Gemäß § 2 Abs. 3 StGB
ist zwar, wenn das Gesetz, das bei der Begehung der Tat gilt,
vor der Entscheidung geändert wird, das mildeste Gesetz
anzuwenden. § 1 Abs. 1 WPflG ist aber weder geändert
noch aufgehoben worden. Ob § 2 Abs. 3 StGB auf einen
Wandel der tatsächlichen Verhältnisse, der zur späteren
Verfassungswidrigkeit eines im Zeitpunkt der Tat
verfassungsmäßigen Gesetzes führt, entsprechend anzuwenden
ist, hätte das Landgericht eingehend prüfen und erörtern
müssen. Das hat es nicht getan.




II.




40



1. Hat das Bundesverfassungsgericht die
Vereinbarkeit einer vorgelegten Norm mit dem Grundgesetz
bereits in einer früheren Entscheidung bejaht, so ist eine
erneute Vorlage nur zulässig, wenn tatsächliche oder
rechtliche Veränderungen eingetreten sind, die die Grundlage
der früheren Entscheidung berühren und deren Überprüfung nahe
legen (vgl. BVerfGE 33, 199 ; 39, 169
; 65, 178 ; 78, 38 ; 87, 341
; 94, 315 ). An die Begründung einer
erneuten Vorlage sind gesteigerte Anforderungen zu stellen.
Das vorlegende Gericht muss von der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts ausgehen und darlegen, inwiefern
sich die für die verfassungsrechtliche Beurteilung
maßgebliche Lage verändert haben soll (vgl. BVerfGE 87, 341
m.w.N.). Diesen Anforderungen genügt die Vorlage
nicht.




41



2. Das Landgericht nimmt zwar auf die
Entscheidungen Bezug, in denen das Bundesverfassungsgericht
in ständiger Rechtsprechung die Vereinbarkeit der allgemeinen
Wehrpflicht (§ 1 Abs. 1 WPflG) mit dem Grundgesetz
bejaht hat (vgl. BVerfGE 12, 45 ; 12, 311
; 28, 243 ; 38, 154 ; 48,
127 ; 69, 1 ). Es setzt
sich aber mit den Begründungen dieser Entscheidungen nicht
auseinander.




42



a) Das gilt insbesondere für die Rechtsansicht
des Bundesverfassungsgerichts, dass die allgemeine
Wehrpflicht verfassungsrechtlich verankert (vgl. BVerfGE 12,
45 ; 28, 243 ; 38, 154
; 48, 127 ) und diese Pflicht daher
nicht an dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu messen
ist.




43



In dem Vorlagebeschluss wird dagegen die
Auffassung vertreten, dass Art. 12 a Abs. 1 GG eine bloße
Eingriffsermächtigung darstelle und die durch das
Wehrpflichtgesetz vom 21. Juli 1956 (BGBl I S. 651)
eingeführte allgemeine Wehrpflicht eine nur einfachgesetzlich
begründete Pflicht sei. Das Landgericht erörtert nicht die
dem entgegenstehende Rechtsansicht des
Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 12, 45 ;
38, 154 ; 48, 127 ), die weitgehend
Zustimmung in der Literatur gefunden hat (vgl. Scholz, in:
Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 12 a Rn 16 - Stand März 2001;
Gubelt, in: von Münch/Kunig, Grundgesetz, Bd. 1, 5. Aufl.
2000, Art. 12 a Rn 1; Gornig, in: von Mangoldt/Klein/Starck,
Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, 4. Aufl. 1999, Art. 12 a Rn 6,
7, 20; Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Bd. I, 1996, Art. 12 a
Rn 6; K. Ipsen/J. Ipsen, in: Dolzer/Vogel, Bonner Kommentar
zum Grundgesetz, Art. 12 a Rn 28 - Stand August 1976).




44



Darüber hinaus misst das Landgericht die
allgemeine Wehrpflicht mit der schlichten Feststellung am
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dass die dem
entgegenstehende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
nicht überzeuge, da jener Grundsatz wie das Übermaßverbot
Leitregel allen staatlichen Handelns sei. Die Frage, ob auch
Verfassungsnormen am Maßstab des Verhältnismäßigkeitsprinzips
überprüft werden dürfen, stellt sich das Gericht nicht.




45



b) Zwar geht auch das Landgericht zunächst
davon aus, dass dem Gesetzgeber eine weitgehende,
"gerichtlich kaum überprüfbare" Einschätzungsprärogative
zukomme. Doch schließt es aus einer vermeintlich einmütigen
Analyse der Sicherheitslage durch die politische und
militärische Führung darauf, dass dem Gesetzgeber keine
andere Wahl bleibe, als die allgemeine Wehrpflicht
abzuschaffen. Dabei lässt das Landgericht außer Acht, dass
der Verfassungsgeber die Einführung der allgemeinen
Wehrpflicht - im Gegensatz zu den anderen in Art. 12 a Abs.
3, 4 und 6 GG geregelten Dienstpflichten - nicht von weiteren
Voraussetzungen, insbesondere nicht vom Vorliegen einer
bestimmten sicherheitspolitischen Lage abhängig gemacht
hat.




46



c) Das Landgericht übersieht zudem, dass es
weitere Gründe geben könnte, an der Wehrpflicht festzuhalten.
Hier sei nur beispielhaft auf die bestehenden
Bündnisverpflichtungen verwiesen (vgl. BVerfGE 48, 127
).




47



Die gegenwärtige öffentliche Diskussion für
und wider die allgemeine Wehrpflicht zeigt sehr deutlich,
dass eine komplexe politische Entscheidung in Rede steht. Die
Fragen beispielsweise nach Art und Umfang der militärischen
Risikovorsorge, der demokratischen Kontrolle, der
Rekrutierung qualifizierten Nachwuchses sowie nach den Kosten
einer Wehrpflicht- oder Freiwilligenarmee sind solche der
politischen Klugheit und ökonomischen Zweckmäßigkeit, die
sich nicht auf eine verfassungsrechtliche Frage reduzieren
lassen. Wie das Bundesverfassungsgericht bereits in seinem
Urteil vom 13. April 1978 ausgeführt hat, ist die dem
Gesetzgeber eröffnete Wahl zwischen einer Wehrpflicht- und
einer Freiwilligenarmee eine grundlegende staatspolitische
Entscheidung, die auf wesentliche Bereiche des staatlichen
und gesellschaftlichen Lebens einwirkt und bei der der
Gesetzgeber neben verteidigungspolitischen Gesichtspunkten,
auch allgemeinpolitische, wirtschafts- und
gesellschaftspolitische Gründe von sehr verschiedenem Gewicht
zu bewerten und gegeneinander abzuwägen hat (BVerfGE 48, 127
). Darum obliegt es nach der
gewaltenteilenden Verfassungsordnung des Grundgesetzes
zunächst dem Gesetzgeber und




48



den für das Verteidigungswesen zuständigen
Organen des Bundes, diejenigen Maßnahmen zu beschließen, die
zur Konkretisierung des Verfassungsgrundsatzes der
militärischen Landesverteidigung erforderlich sind. Welche
Regelungen und Anordnungen notwendig erscheinen, um gemäß der
Verfassung und im Rahmen bestehender Bündnisverpflichtungen
eine funktionstüchtige Verteidigung zu gewährleisten, haben
diese Organe nach weitgehend politischen Erwägungen in
eigener Verantwortung zu entscheiden.




49



3. Soweit § 3 Abs. 1 WPflG und § 53
ZDG zur verfassungsrechtlichen Prüfung gestellt werden, ist
die Vorlage auf die als entscheidungserheblich in Betracht
kommenden Teile der Normen zu beschränken (vgl. BVerfGE 18,
52 ; 69, 373 ; 80, 354 ). Das
sind allein Satz 1 des § 3 Abs. 1 WPflG, in dem
Wehrdienst und Zivildienst unter dem Oberbegriff der
Wehrpflicht zusammengefasst werden, und Absatz 1 des
§ 53 ZDG, der den Tatbestand der Dienstflucht enthält.
Das Bundesverfassungsgericht hat die Vereinbarkeit beider
Normen mit dem Grundgesetz bereits bejaht (vgl. BVerfGE 80,
354 zu § 3 Abs. 1 Satz 1 WPflG; BVerfGE 23, 127
zu § 53 Abs. 1 ErsDiG in der Fassung vom 16.
Juli 1965 (BGBl I S. 984), dem § 53 Abs. 1 ZDG
entspricht). Das Landgericht hat nicht dargetan, warum
sie




50



neuerlich auf ihre Vereinbarkeit mit dem
Grundgesetz zu prüfen sein sollten.




 




Limbach
Sommer
Jentsch


Hassemer
Broß
Osterloh


Di Fabio

Mellinghoff







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