1 Ni 15/17 (EP) - 1. Senat (Nichtigkeit)
Karar Dilini Çevir:

ECLI:DE:BPatG:2017:091117U1Ni15.17EP.0


BUNDESPATENTGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES

1 Ni 15/17 (EP)
(Aktenzeichen)

URTEIL


Verkündet am
9. November 2017





In der Patentnichtigkeitssache









betreffend das europäische Patent 2 637 917
(DE 60 2012 003 358)

hat der 1. Senat (Nichtigkeitssenat) des Bundespatentgerichts auf Grund der
mündlichen Verhandlung vom 9. November 2017 durch die Präsidentin Schmidt
sowie die Richter Dipl.-Ing. Sandkämper, Dr.-Ing. Baumgart, Richterin
Grote-Bittner und Richter Dipl.-Phys. Univ. Dr.-Ing. Geier

für Recht erkannt:

I. Das europäische Patent 2 637 917 wird mit Wirkung für das
Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland für nichtig er-
klärt.

- 2 -
II. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.

III. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des
zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.


T a t b e s t a n d

Mit der Klage begehrt die Klägerin die Nichtigerklärung des europäischen Pa-
tents 2 637 917 mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik
Deutschland. Die Beklagte ist eingetragene Inhaberin des u. a. für die Bundes-
republik Deutschland erteilten europäischen Patents 2 637 917, das beim Deut-
schen Patent- und Markenamt unter dem Aktenzeichen 60 2012 003 358 geführt
wird und dessen Erteilung u.a. mit dem Bestimmungsland der Bundesrepublik
Deutschland am 8. Oktober 2014 in englischer Verfahrenssprache veröffentlicht
worden ist. Das am 8. August 2012 angemeldete Streitpatent ist aus der PCT-An-
meldung PCT/IB2012/054043 unter Inanspruchnahme der Priorität der US-Voran-
meldungen 201161523215 vom 12. August 2011 hervorgegangen. Es trägt die
Bezeichnung „A dual steerable vehicle“ („Fahrzeug mit zwei Steuerungsmodi“).

Das Streitpatent, das vollumfänglich angegriffen wird, umfasst 8 Patentansprüche
mit einem Hauptanspruch 1 und 7 auf diesen direkt oder indirekt rückbezogene
Untersprüche.

Der Patentanspruch 1 hat folgenden Wortlaut:

“1. A tricycle (800, 810) operable between a first mode of operation steerable by a
tricycle rider, and a second mode of operation steerable by an individual pushing
the tricycle, the tricycle comprising:
a pair of rear wheels (400);
a front wheel (100) having opposing sides and a front wheel axis;
a head tube (707);
- 3 -
a frame (700) configured to rotatably support the rear wheels (400) and configured
to support the head tube (707);
a pair of pedals (141, 142), each pedal configured for connection about the front
wheel axis to rotate the front wheel (100);
a fork (133) having at least one blade (130, 131) configured to support the front
wheel (100) in a manner permitting the front wheel (100) to rotate about the front
wheel axis;
a stem (305) configured to extend from the head tube (707) in a manner permitting
the stem (305) to rotate, the stem (305) including a rod having a minimum
diameter that is at least three times smaller than a width of the front wheel (100);
a rider handle (200), configured to turn the fork (133) about a stem axis extending
transverse to the front wheel axis, the rider handle in the first mode being
configured to be rotationally coupled with the stem (305) in a manner permitting a
tricycle rider to exert forces on the rider handle (200) and thereby turn the
fork (133), and the rider handle (200) in the second mode, where the stem axis
leads the front wheel axis, being configured to be rotationally uncoupled from the
stem (305), preventing forces on the rider handle (200) from turning the fork (133)
and permitting the individual pushing the tricycle to turn the fork (133) via pushing
force; and
wherein the stem (305) extends from the fork (133) at an angle of between about
165 degrees and 179 degrees and wherein an offset distance between the stem
axis and the front wheel axis is between 15 mm and 40 mm.”

Gemäß der deutschen Übersetzung des Streitpatents lautet der Patentanspruch 1:

„Dreirad (800, 810), das auf Folgende Weise betrieben werden kann: in
einem ersten Betriebsmodus, in dem es von einem Dreiradfahrer
gelenkt wird, und in einem zweiten Betriebsmodus, in dem es von einer
Person gelenkt wird, die das Dreirad schiebt, wobei das Dreirad Folgen-
des umfasst:
ein Paar Hinterräder (400);
- 4 -
ein Vorderrad (100), das gegenüberliegende Seiten und eine Vorder-
radachse aufweist;
ein Steuerrohr (707);
einen Rahmen (700), der so konfiguriert ist, dass er die Hinterrä-
der (400) drehbar stützt, und der so konfiguriert ist, dass er das Steuer-
rohr (707) stützt;
ein Paar Pedale (141, 142), wobei jedes Pedal zur Verbindung mit der
Vorderradachse konfiguriert ist, um das Vorderrad (100) zu drehen;
eine Gabel (133), die mindestens eine Gabelscheide (130, 131) auf-
weist, die so konfiguriert ist, dass sie das Vorderrad (100) in einer
Weise stützt, dass sich das Vorderrad (100) um die Vorderradachse
drehen kann;
einen Schaft (305), der so konfiguriert ist, dass er sich von dem
Steuerrohr (707) in einer Weise erstreckt, dass sich der Schaft (305)
drehen kann, wobei der Schaft (305) eine Stange umfasst, die einen
Mindestdurchmesser aufweist, der mindestens dreimal kleiner ist als die
Breite des Vorderrades (100);
eine Lenkstange (200), die so konfiguriert ist, dass sie die Gabel (133)
um eine Schaftachse dreht, die sich quer zur Vorderradachse erstreckt,
wobei die Lenkstange in dem ersten Modus so konfiguriert ist, dass sie
rotationsmäßig mit dem Schaft (305) in einer Weise gekoppelt ist, die
einem Dreiradfahrer ermöglicht, Kräfte auf die Lenkstange (200) auszu-
üben und dadurch die Gabel (133) zu drehen, und wobei die Lenk-
stange (200) in dem zweiten Modus, in dem die Schaftachse die Vor-
derradachse führt, so konfiguriert ist, dass sie rotationsmäßig von dem
Schaft (305) entkoppelt ist, wodurch verhindert wird, dass Kräfte, die
auf die Lenkstange (200) ausgeübt werden, die Gabel (133) drehen
können, und der Person, die das Dreirad schiebt, ermöglicht wird, die
Gabel (133) über die Schubkraft zu drehen; und
wobei sich der Schaft (305) von der Gabel (133) in einem Winkel von
etwa 165 Grad bis 179 Grad erstreckt und wobei ein Versatzabstand
- 5 -
zwischen der Schaftachse und der Vorderradachse 15 mm bis 40 mm
beträgt.“

Wegen des Wortlauts der auf den Patentanspruch 1 unmittelbar oder mittelbar
rückbezogenen Unteransprüche 2 bis 8 wird auf den Inhalt der Streitpatentschrift
verwiesen.

In der Fassung des Hilfsantrags 1 lautet der Patentanspruch 1 im letzten Halbsatz
(Ergänzungen/Streichungen gegenüber der erteilten Fassung durch Unterstrei-
chung/Durchstreichung gekennzeichnet):

“…wherein the lower end of the stem (305) extends from is connected
to the upper end of the fork (133) in a manner such that the stem axis
and a fork axis of the fork (133) form at an angle (x) of between about
165 degrees and 179 degrees there between and wherein an offset
distance between the stem axis and the front wheel axis is between
15 mm and 40 mm.”

- 6 -
In der Fassung des Hilfsantrags 2 lautet der Patentanspruch 1 mit den vorgenann-
ten Änderungen des Hilfsantrags 1 und mit zudem folgender Änderung (Ergänzun-
gen/Streichungen gegenüber der Fassung nach Hilfsantrag 1 durch Unterstrei-
chung/Durchstreichung gekennzeichnet):

“…
a rider handle (200), configured to turn the fork (133) about a stem axis
extending transverse to the front wheel axis, the rider handle in the first
mode, where the stem axis trails the front wheel axis, being configured
to be rotationally…..”

Wegen des weiteren Wortlauts der Anspruchsfassungen nach den Hilfsanträgen 1
und 2 wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 9. November 2017,
in der die Beklagte die Hilfsanträge 1 und 2 eingereicht hat, Bezug genommen
(Bl. 368 bis 371 d. A.).

Die Klägerin macht geltend, dass der Gegenstand des Streitpatents nach Patent-
anspruch 1 und nach den Unteransprüchen 2 bis 8 weder neu noch erfinderisch
(Art. 138 Abs. 1 Buchstabe a) EPÜ i. V. m. Art. 54 und 56 EPÜ i. V. m. Art. II § 6
Abs. 1 Nr. 1 IntPatÜbkG) sei und begründet dies.

Die Klägerin stützt ihr Vorbringen auf folgende Entgegenhaltungen:

D1: FR 2 955 080 A1,
D2: FR 2 930 929 A1,
D3: DE 22 28 716 B2,
D4: DE 29 03 818 A1,
D5: US 5 590 896 A,
D6: US 6 302 421 B1,
D7: CN 2 405 850 Y,
D8: DE 35 28 357 C1,
D9: DE 29 39 603 A1,
- 7 -
D10: Video auf www.youtube.com, verdeutlich durch Screenshot, URL:
https://www.youtube.com/watch?v=auaUThyvGwk&feature=youtu.be Hoch-
geladen auf youtube.com am 15. April 2011,
D11: JP 2006 – 298161 A,
D12: NL 1 023 930 C,
D13: CN 2 018 25 196 U,
D14: US 2011/0278815 A1 und
D15: US 5 085 063 A,

sowie - eingereicht mit Schriftsatz vom 2. November 2017 -

D16: Anleitung zu einem Dreirad vom Typ „Smart Trike Dream (159)“,
D17: Kopie einer Rechnung der Smart Trike MNF PTE Ltd. vom 8. April 2012
über Dreiräder vom Typ „159 – Dream Team“,
D18: Katalog der Smart Trike MNF PTE Ltd. zu Dreiradprodukten,
D19: Unterlagen zum Schiedsverfahren vor dem Richter Dr. Amiram Binyamini
(Tel Aviv)
D20: Auszug aus www.Amazon.co.uk, Dreiräder der Smart Trike MNF PTE Ltd.

Die Klägerin meint, dass der Gegenstand des erteilten Patentanspruchs 1 gegen-
über den Druckschriften D2 und D4 und aufgrund Vorbenutzung nicht neu sei,
wobei sich die Beklagte nicht wirksam auf die Priorität aus der US-Voranmeldung
berufen könne, da das Streitpatent Erweiterungen enthalte. Zum Stand der Tech-
nik gehörten daher alle vor dem 8. August 2012 veröffentlichten Dokumente. Zum
Nachweis der Vorbenutzung verweist die Klägerin auf eingereichte Abbildungen
der Dreiräder „Gold“ und „Caddy“ des Herstellers P… und der Dreiräder „Smart
Trike Dream“ und „SmarTrike Safari Zoo“ der Beklagten nebst Verkaufsdokumen-
ten. Zudem bietet sie zum Beweis für den Vertrieb des Dreirads „Smart Trike
Dream“ der Beklagten mit sämtlichen Merkmalen des Patentanspruchs 1 im
Juni 2012 Zeugnis des Herrn Y… an, eines früheren Mitarbeiters der
Beklagten.

- 8 -
Den Gegenstand des erteilten Patentanspruchs 1 hält die Klägerin jedenfalls nicht
für erfinderisch, da dieser für den maßgeblichen Fachmann insbesondere aus den
Druckschriften D1 oder D2 jeweils in Kombination mit dem allgemeinen Fachwis-
sen oder in Kombination mit den Druckschriften D3 oder D4 oder aus einer der
Vorbenutzungen in Kombination mit einer der eingereichten Druckschriften nahe-
gelegt sei.

Die Klägerin rügt Verspätung der in der mündlichen Verhandlung neu eingereich-
ten Hilfsanträge 1 und 2 der Beklagten. Sie hält die Anspruchsfassungen nach den
Hilfsanträgen aber auch für unzulässig, da deren Gegenstände nicht ursprünglich
offenbart seien.

Der Senat hat den Parteien einen qualifizierten Hinweis vom 21. Juni 2017, auf
den Bezug genommen wird, mit einer Stellungsnahmefrist von zwei Monaten über-
mittelt. Der Hinweis ist den Parteien am 26. Juni 2017 zugestellt worden. In der
mündlichen Verhandlung vom 9. November 2017 hat der Senat einen weiteren
Hinweis erteilt.

Die Klägerin beantragt,

das europäische Patent 2 637 917 mit Wirkung für das Hoheitsgebiet
der Bundesrepublik Deutschland in vollem Umfang für nichtig zu
erklären.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen,
hilfsweise die Klage mit der Maßgabe abzuweisen, dass das Streit-
patent die Fassung eines der in der mündlichen Verhandlung vom
9. November 2017 übergebenen Hilfsanträge 1 und 2 erhält.

- 9 -
Die Beklagte, die die verspätete Vorlage der von der Klägerin eingereichten Ent-
gegenhaltungen D16 bis D20 rügt, tritt der Auffassung der Klägerin in allen Punk-
ten entgegen. Die beanspruchten speziellen geometrischen Maßangaben nach
den Merkmalen betreffend den Durchmesser der vom Schaft umfassten Stange,
den Winkel der Erstreckung des Schafts und den Versatzabstand seien keinem
der klägerseits eingereichten Entgegenhaltungen zu entnehmen, weshalb sich der
Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 als neu erweise. Der erteilte Patentan-
spruch 1 sei aber auch für den Fachmann nicht nahegelegt. Die Klägerin gelange
hierzu nur aufgrund einer unzulässigen rückschauenden Betrachtungsweise.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwi-
schen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf das Proto-
koll der mündlichen Verhandlung vom 9. November 2017 Bezug genommen.


E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e

Die zulässige Klage ist begründet, da der Gegenstand des Streitpatents sich so-
wohl in der erteilten Fassung als auch in der hilfsweise verteidigten Fassung nach
Hilfsantrag 2 in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergibt (Art. 138
Abs. 1 Buchstabe a) i. V. m. Art. 54 und 56 EPÜ i. V. m. Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 1
IntPatÜbkG). Die nach Hilfsantrag 1 verteidigte Fassung der Patentansprüche ist
unzulässig.

I.

Die in der mündlichen Verhandlung vorgelegten neuen Hilfsanträge und die von
der Klägerin mit Schriftsatz vom 2. November 2017 neu eingereichten Dokumente
zur behaupteten Vorbenutzung waren nicht bereits als verspätet zurückzuweisen.

Zwar fällt die Verteidigung mit einer geänderten Fassung des Patents ausdrücklich
unter die Präklusionsvorschrift des § 83 Abs. 4 Satz 1 PatG, wenn sie wie hier von
- 10 -
der Beklagten erst nach Ablauf der nach § 83 Abs. 2 Satz 1 PatG gesetzten Frist
vorgebracht wird. Eine Zurückweisung als verspätet kommt jedoch nicht in Be-
tracht, da die neuen Anträge der Beklagten ohne weiteres in die mündliche Ver-
handlung einbezogen werden konnten und somit eine Vertagung nicht erforderlich
machten.

Es kann ferner dahinstehen, ob die von der Klägerin eingewendete Vorbenutzung
des Gegenstands des erteilten Patentanspruchs 1 begründet ist. Die Frage der
Vorbenutzung ist nicht entscheidungserheblich.


II.

1. Zum Gegenstand des Streitpatents

1.1 Das Streitpatent betrifft ein Dreirad.

Solche Dreiräder dienen gemäß Absatz [0002] der Streitpatentschrift, im folgen-
den SPS genannt, dem Transport oder der Erholung und können von Fahrern
unterschiedlicher Größe und Fähigkeit genutzt werden. Sie werden von diesen
angetrieben und gelenkt. In üblichen Fällen benutze der Fahrer dabei zum Antrieb
des Dreirades am Vorderrad befestigte Pedale und zum Steuern des Dreirads
eine Lenkstange, die in der Regel mit dem Vorderrad verbunden ist. In einigen
Anwendungsfällen seien die Dreiräder ferner so konstruiert, dass sie auch von
hinten von einer Person angeschoben werden können, zum Beispiel dann wenn
ein Kind als Fahrer von einem Erwachsenen geschoben werde. Diese Dreiräder
beinhalteten hierzu manchmal einen mechanischen Lenkmechanismus, der es
dem Erwachsenen, während er hinter dem Dreirad geht, gleichzeitig ermögliche
das Vorderrad mechanisch zu drehen.

Zum Stand der Technik nennt das Streitpatent die Druckschriften D1 und D2 und
führt aus, dass beide Druckschriften jeweils ein Dreirad offenbaren würden, das
- 11 -
einen Lenkmechanismus beinhalte, welcher ein bewegbares Kupplungssystem
zwischen der Lenkstange und der Gabel des Vorderrades umfasse. Dieses Kupp-
lungssystem ließe zum einen eine direkte Verbindung zwischen Lenkstange und
Gabel zu, so dass mittels der Lenkstange die Gabel und somit das Vorderrad ge-
dreht werden könne, zum andern könne die Lenkstange auch von der Gabel ent-
koppelt werden.

Das streitpatentgemäße Dreirad soll in einer besonders vorteilhaften Weise
ebenso in zwei Modi betrieben werden können und zwar in einem ersten Be-
triebsmodus, in dem es von einem Dreiradfahrer gelenkt wird, und in einem zwei-
ten Betriebsmodus, in dem es von einer Person gelenkt wird, die das Dreirad
schiebt, wobei die Lenkstange im zweiten Betriebsmodus so konfiguriert ist, dass
sie vom Schaft und der Gabel des Vorderrades drehentkoppelt ist.

1.2 Als Fachmann ist bei der nachfolgenden Bewertung des Standes der Tech-
nik sowie für das Verständnis des Streitgegenstandes von einem Durchschnitts-
fachmann auszugehen, der als Diplom-Ingenieur der Fachrichtung Maschinen-
bau (FH) ausgebildet ist. Dieser ist bei einem Hersteller für Dreiräder, insbeson-
dere Kinderdreiräder, mit der Entwicklung und Konstruktion solcher Dreiräder
befasst und verfügt auf diesem Gebiet über mehrere Jahre Berufserfahrung.

2. Zur erteilten Fassung

Der Gegenstand des Patentanspruchs 1 in der erteilten Fassung beruht ausge-
hend von der Druckschrift D2 unter Berücksichtigung des Fachkönnens des Fach-
manns nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit, so dass der Nichtigkeitsgrund des
Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 1 IntPatÜG i. V. m. Art. 138 Abs. 1 lit. a) EPÜ i. V. m.
Art. 56 EPÜ gegeben ist.

- 12 -
2.1 Der erteilte Patentanspruch lässt sich wie folgt gliedern:

M1 A tricycle (800, 810)
M1.1 operable between a first mode of operation steerable by a tricycle
rider, and a second mode of operation steerable by an individual
pushing the tricycle, the tricycle comprising:
M2 a pair of rear wheels (400);
M3 a front wheel (100) having opposing sides and a front wheel axis;
M4 a head tube (707);
M5 a frame (700) configured to rotatably support the rear wheels (400)
and configured to support the head tube (707);
M6 a pair of pedals (141, 142), each pedal configured for connection
about the front wheel axis to rotate the front wheel (100);
M7 a fork (133) having at least one blade (130, 131) configured to sup-
port the front wheel (100) in a manner permitting the front
wheel (100) to rotate about the front wheel axis;
M8 a stem (305)
M8.1 having a stem axis extending transverse to the front wheel axis,
M8.2 configured to extend from the head tube (707) in a manner permitting
the stem (305) to rotate,
M8.3 the stem (305) including a rod having a minimum diameter that is at
least three times smaller than a width of the front wheel (100),
M8.4 wherein the stem (305) extends from the fork (133) at an angle of
between about 165 degrees and 179 degrees,
M8.5 wherein an offset distance between the stem axis and the front wheel
axis is between 15 mm and 40 mm
M9 a rider handle (200),
M9.1 configured to turn the fork (133) about the stem axis,
M9.2 the rider handle in the first mode being configured to be rotationally
coupled with the stem (305) in a manner permitting a tricycle rider to
exert forces on the rider handle (200) and thereby turn the fork (133),

- 13 -
M9.3 and the rider handle (200) in the second mode, where the stem axis
leads the front wheel axis, being configured to be rotationally uncou-
pled from the stem (305), preventing forces on the rider handle (200)
from turning the fork (133) and permitting the individual pushing the
tricycle to turn the fork (133) via pushing force.

2.2 Zur Ermittlung der technischen Lehre, die sich aus Sicht des hier maßgebli-
chen Fachmanns ergibt, ist der Sinngehalt des Patentanspruchs in seiner Gesamt-
heit und der Beitrag, den die einzelnen Merkmale zum Leistungsergebnis der
Erfindung liefern, unter Heranziehung der den Patentanspruch erläuternden
Beschreibung und Zeichnungen durch Auslegung zu ermitteln (vgl. BGH
GRUR 2007, 410 – Kettenradanordnung). Dies darf allerdings weder zu einer
inhaltlichen Erweiterung noch zu einer sachlichen Einengung des durch den
Wortlaut des Patentanspruchs festgelegten Gegenstands führen (BGH Z 160, 204,
209; GRUR 2004, 1023 – Bodenseitige Vereinzelungseinrichtung).

Begriffe in den Patentansprüchen sind deshalb so zu deuten, wie sie der ange-
sprochene Fachmann nach dem Gesamtinhalt der Patentschrift und Berücksichti-
gung der in ihr objektiv offenbarten Lösung bei unbefangener Erfassung der im
Anspruch umschriebenen Lehre zum technischen Handeln versteht (st. Rspr., vgl.
BGH GRUR 2006, 311 – Baumscheibenabdeckung; GRUR 2004, 845 – Drehzahl-
ermittlung). Das Verständnis des Fachmanns wird sich dabei entscheidend an
dem in der Patentschrift zum Ausdruck gekommenen Zweck dieses Merkmals ori-
entieren (vgl. BGH GRUR 2001, 232 – Brieflocher, m. w. N.); es ist deshalb maß-
geblich, was der angesprochene Fachmann – auch unter Einbeziehung seines
Vorverständnisses (BGH GRUR 2008, 878 – Momentanpol II) – danach bei unbe-
fangener Betrachtung den Patentansprüchen als Erfindungsgegenstand entnimmt.

Zwar ist eine einschränkende Auslegung des Patentanspruchs unterhalb des
Wortlauts (im Sinne einer Auslegung unterhalb des Sinngehalts) nach ständiger
Rechtsprechung dann nicht zulässig, wenn der Fachmann aus der Anspruchsfas-
sung bereits einen klar und eindeutig definierten Gegenstand entnehmen kann
- 14 -
(BPatG 42, 204, GRUR 2000, 794 – veränderbare Daten; BGH Z 160, 204, 209;
GRUR 2004, 1023 – Bodenseitige Vereinzelungseinrichtung). Denn die Frage, ob
eine bestimmte Anweisung zum Gegenstand eines Anspruchs eines Patents ge-
hört, entscheidet sich danach, ob sie in dem betreffenden Anspruch Ausdruck ge-
funden hat (st. Rechtsprechung vgl. z. B. BGH GRUR 2007, 959 – Pumpeinrich-
tung). Allein aus Ausführungsbeispielen darf daher nicht auf ein engeres Verständ-
nis des Patentanspruchs geschlossen werden, als es dessen Wortlaut für sich
genommen nahelegt. Maßgeblich ist vielmehr, ob die Auslegung des Patentan-
spruchs unter Heranziehung der Beschreibung und der Zeichnungen ergibt, dass
nur bei Befolgung einer solchen engeren technischen Lehre derjenige technische
Erfolg erzielt wird, der erfindungsgemäß mit den im Anspruch bezeichneten Mitteln
erreicht werden soll (BGH, Urteil vom 12. Februar 2008 - X ZR 153/05;
GRUR 2008, 779, 782 - Mehrgangnabe).

Insoweit ist für das richtige Verständnis wesentlich, dass sich die Auslegung des
Anspruchs am technischen Sinngehalt der Merkmale des Patentanspruchs im Ein-
zelnen und in ihrer Gesamtheit (st. Rspr., BGH GRUR 2011, 129 – Fentanyl-TTS;
GRUR 2002, 515 Schneidmesser I, m. w. N.) zu orientieren hat, wobei der Sinnge-
halt eines einzelnen Merkmals im Kontext der Patentschrift und der Funktion zu
sehen ist, die es für sich und im Zusammenwirken mit den übrigen Merkmalen des
Patentanspruchs bei der Herbeiführung des erfindungsgemäßen Erfolgs hat.
Mithin ist (auch) das Verständnis eines (einzelnen) Merkmals also im Lichte der
Gesamtoffenbarung der Patentschrift zu bestimmen (BGH GRUR 2012, 1124
– Polymerschaum I; GRUR 2015, 868 – Polymerschaum II).

2.3 Danach betrifft der Gegenstand des Patentanspruchs 1 in der erteilten Fas-
sung ein Dreirad (tricycle), das in zwei verschiedenen Modi (mode of operation)
ordnungsgemäß betrieben werden kann. In dem ersten Betriebsmodus wird das
Dreirad von einem Fahrer des Dreirades gelenkt, während in dem zweiten Be-
triebsmodus das Dreirad von einer weiteren Person (individual) gelenkt wird, die
das Dreirad schiebt (pushing) (vgl. Merkmale M1 und M1.1).

- 15 -
Das beanspruchte Dreirad umfasst dabei folgende Merkmale:

- M2 Ein Paar Hinterräder (rear wheels).

- M3 Ein Vorderrad (front wheel), das gegenüberliegende Seiten und eine
Vorderradachse aufweist.

- M4: Ein Steuerrohr (head tube).

- M5: Einen Rahmen (frame), der so beschaffen ist, dass er sowohl die
Hinterräder drehbar stützt, wie auch das Steuerrohr trägt.

- M6: Ein Paar Pedale (pedals), wobei jedes Pedal zur Verbindung mit der
Vorderradachse konfiguriert ist, um dabei das Vorderrad (100) zu drehen.

- M7: Eine Gabel (fork), die mindestens eine Gabelscheide (blade) auf-
weist, wobei die Gabel so beschaffen ist, dass sie das Vorderrad in einer
Weise aufnimmt, dass sich das Vorderrad um die Vorderradachse drehen
kann.

- M8: Einen Schaft (stem), der derart beschaffen ist, dass er sich von dem
Steuerrohr in einer Weise erstreckt, dass sich der Schaft in dem Steuerrohr
drehen kann (vgl. Merkmal M8.2). Die Drehung erfolgt dabei um eine Schaft-
achse, die sich quer zur Vorderradachse erstreckt (vgl. Merkmal M8.1).

Der Schaft umfasst gemäß Merkmal M8.3 eine Stange (rod), die zumindest
einen Bereich mit kleinem Durchmesser aufweist, der wenigstens dreimal klei-
ner ist als die Breite des Vorderrades. Dieses Verständnis steht hierbei im Ein-
klang mit den Ausführungsbeispielen gemäß der Absätze [0024], Zeilen 50
bis 54, und [0028], Zeilen 39 bis 48, der SPS, wonach der Schaft Bereiche
unterschiedlicher Durchmesser umfassen kann. Die Ausbildung eines Bereichs
mit einem solchen kleinen Durchmesser „kann“ gemäß Absatz [0024], Zei-
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len 42 bis 44, der SPS dabei eine Reibung so verringern, dass in dem zweiten
Betriebsmodus die Lenkkontrolle der schiebenden Person über das Dreirad
erleichtert wird. Dies setzt aber zwingend voraus, dass die Lagerung des
Schafts in dem Steuerrohr auch im Bereich des minimalen Durchmessers im
Sinne einer Gleitlagerung erfolgt, die Drehführung somit dort stattfindet. Auf
eine solche Anordnung ist der Gegenstand des Patentanspruchs 1 jedoch we-
der beschränkt, noch kann schon allein aufgrund der „kann“-Formulierung
darauf geschlossen werden, dass nur bei der Befolgung einer solch engen
technischen Lehre sich der gewünschte Erfolg einstellt. Dem Merkmal M8.3
kommt hinsichtlich dessen Bemaßung somit lediglich ein eine Dimension be-
stimmender Charakter zu.

Gemäß Merkmal M8.4 steht der Schaft von der Gabel in einem Winkel von
etwa 165 Grad bis 179 Grad ab, wobei das untere Ende des Schafts mit dem
oberen Ende der Gabel verbunden ist. Der Winkel ist gemäß Absatz [0028],
Zeilen 21 bis 39, der SPS durch einen Winkel zwischen der Schaftachse und
einer Gabelachse bestimmt, so wie sie der Figur 4a der SPS als Achse mit
dem Bezugszeichen b zu entnehmen ist. Die Gabelachse definiert sich in die-
ser Figur als Gerade durch den Verbindungspunkt zwischen Schaft und Gabel
und zielt in ihrer Orientierung auf die Vorderradachse des Dreirads. Gerade
durch den abknickenden Verlauf wird erreicht, dass die Vorderradachse ver-
setzt gegenüber der Schaftachse angeordnet ist und sich dementsprechend
ein in der SPS als „Versatz (offset)“ bezeichneter, unmittelbar horizontaler Ab-
stand zwischen Vorderradachse und Schaftachse einstellt, der eine wesentli-
che Voraussetzung für einen die Lenkeigenschaften des Dreirad bestimmen-
den Nachlauf bzw. Vorlauf bildet. Der Versatz beträgt gemäß Merkmal M8.5
dabei 15 mm bis 40 mm.

Allerdings stellen die in den Merkmalen M8.4 und M8.5 beanspruchten Werte
für den Winkel zwischen Schaftachse und Gabelachse sowie für den Versatz
zwischen Schaftachse und Vorderradachse lediglich notwendige, jedoch nicht
hinreichende Bedingungen für den die Lenkeigenschaften des Vorderrads
- 17 -
bestimmenden Nach- bzw. Vorlauf dar. Denn dieser ist darüber hinaus wesent-
lich bestimmt durch den Durchmesser des Vorderrades, wie auch durch den
Winkel des Steuerrohres, der ein Maß für die Neigung der Schaftachse gegen-
über der Vertikalen darstellt. Insofern stellen die Merkmale M8.4 und M8.5 für
sich zwar keine mosaikartige Merkmalskombination dar, da sich beide Merk-
male ergänzen bzw. bedingen, sie tragen aber nur in technisch üblicher Art
und Weise zur Einstellung eines Nach- bzw. Vorlaufs teilweise bei.

Soweit die Beklagte hierzu Einwände erhoben und die Auffassung vertreten
hat, dass sich der besagte, in Merkmal M8.4 beanspruchte Winkel ausschließ-
lich auf den Übergangsbereich zwischen dem unteren Ende des Schafts und
dem oberen Ende der Gabel bezieht und darüber hinaus die Gabel zwingend
geradlinig ausgebildet ist, folgt diese Auffassung weder aus dem Wortlaut noch
bietet das Streitpatent anderweitig hierfür irgendeinen Anhaltspunkt. Denn
diese Auffassung steht im Widerspruch zu den Ausführungen im vorstehend
genannten Absatz [0028] der SPS, der diesen Winkel zwischen zwei Achsen
und nicht zwischen zwei Bauteilen definiert. Auch darf hinsichtlich der Ausbil-
dung der Gabel hier aus dem abgebildeten Ausführungsbeispiel nicht auf ein
engeres Verständnis des Patentanspruchs geschlossen werden, denn weder
hat die exakte konstruktive Gestaltung der Gabel bzw. der Gabelscheiden zwi-
schen dem Verbindungspunkt zu dem Schaft und der durch sie festgelegten
Vorderradachse in technischer Sicht auf die Nachlaufeigenschaften des Vor-
derrads einen Einfluss, noch schließt das Streitpatent anderweitig geformte
Gabelscheiden explizit aus. Vielmehr führt es in Absatz [0021], Übergang
Seite 4 auf Seite 5, der SPS aus, dass die Gabelscheiden jegliche Struktur mit
einschließen, sofern diese nur in der Lage sind, ein Vorderrad in drehbarer
Weise zu tragen.

- M9: Eine Lenkstange (rider handle), die derart beschaffen ist, dass mit
ihrer Unterstützung die Gabel um die Schaftachse gedreht werden kann (vgl.
Merkmal M9.1).

- 18 -
Dabei ist die Lenkstange in dem ersten Betriebsmodus so konfiguriert, dass sie
mit dem Schaft in einer Weise drehgekoppelt ist, die es dem Dreiradfahrer er-
möglicht, Kräfte auf die Lenkstange auszuüben und dadurch die Gabel zu dre-
hen (vgl. Merkmal M9.2).

In dem zweiten Betriebsmodus ist die Lenkstange dagegen gemäß Merk-
mal M9.3 so konfiguriert, dass sie von dem Schaft drehentkoppelt ist, wodurch
verhindert wird, dass Kräfte, die auf die Lenkstange ausgeübt werden, die
Gabel drehen können. Dabei läuft die Schaftachse der Vorderradachse zumin-
dest in diesem Modus voraus; der in Merkmal M8.5 beanspruchte Versatzab-
stand ist folglich nach vorn gerichtet. Durch den sich dadurch einstellenden
Nachlauf wird sich die Gabel beim Schieben aufgrund der Schubkräfte drehen,
entsprechend der Nachlaufwirkung.

Ob im ersten Modus das Dreirad ebenfalls mit einem Nachlauf oder alternativ,
wie es das Ausführungsbeispiel des Streitpatents zeigt mit einem Vorlauf, bei
dem die Schaftachse der Vorderradachse etwa nachläuft, betrieben wird, ist in
dem Patentanspruch 1 hingegen nicht näher spezifiziert, wie auch die Beklagte
in der mündlichen Verhandlung einräumt.

2.4 Der Gegenstand des erteilten Patentanspruchs 1 mag neu im Sinne des § 3
PatG bzw. Art. 54 EPÜ gegenüber dem Inhalt der Druckschriften D2 und D4 bzw.
den behaupteten Vorbenutzungen sein. Jedoch ergibt sich das vorliegend bean-
spruchte Dreirad für den Fachmann jedenfalls in naheliegender Weise aus der
Druckschrift D2 unter Berücksichtigung seines Fachkönnens.

Die Druckschrift D2 offenbart ein Dreirad. Dieses umfasst einen Rahmen 110, der
unter anderem zwei in Längsrichtung des Dreirades angeordnete Rohre 111 bein-
haltet (vgl. Seite 6, Zeilen 15 bis 17). Im hinteren Bereich des Rahmens sind an
diesen zwei Hinterräder 140 montiert (vgl. Figur 1, Seite 7, Zeile 5), während an
seinem vorderen Ende dieser mit einem Gehäuse 61 (vgl. Figur 3) verbunden ist,
welches wahlweise an den Positionen 112 oder 113 (vgl. Figur 4) mittels einer Be-
- 19 -
festigungseinrichtung 70 – 75 mit dem Rahmen fixiert werden kann. In dem Ge-
häuse 61 ist eine hohlzylindrische Aufnahme vorgesehen, die als Steuerrohr für
eine aufzunehmende Vorderradgabelstruktur dient.

Die Vorderradgabelstruktur umfasst eine Gabel 20 mit zwei Gabelscheiden (vgl.
Figur 7), welche ein Vorderrad 25 aufnehmen, so dass sich das Vorderrad 25,
welches gegenüberliegende Seiten und eine Vorderradachse aufweist, um die
Vorderradachse drehen kann.

Koaxial zu der Vorderradachse ist eine Welle 31 angeordnet, an deren Enden Pe-
dale 30 angebracht sind, mittels derer das Vorderrad gedreht werden kann (vgl.
Figur 2; Seite 5, Zeilen 4 bis 11).

Im oberen Bereich der Gabel geht diese in einen Schaft 23 über, der innerhalb des
Steuerrohrs angeordnet ist und der an seiner Außenfläche mit Nuten 24 versehen
ist (vgl. Figur 6; Seite 4 ab Zeile 30). Der Schaft ist dabei so beschaffen, dass er
sich von dem Steuerrohr in einer Weise erstreckt, dass sich der Schaft in dem
Steuerrohr drehen kann, wobei die Drehung um eine Schaftachse erfolgt, die sich
quer zur Vorderradachse erstreckt und die in Figur 6 als eingezeichnete Linie er-
kennbar ist.

Im oberen Bereich des Schafts 23 weist dieser ein rohrförmiges zylindrisches
Ende 21 mit sich nach oben stufenweise verjüngendem Durchmesser auf (Figur 6;
Seite 4, Zeilen 26 bis 29). Dieses rohrförmige Ende wird von einer auf diesem
Ende aufgesetzten Hohlwelle 12 umgriffen, welche ebenfalls an ihrer Außenfläche
mit Nuten 13 versehen ist. Am anderen Ende der Hohlwelle 12 ist ein Lenker 10
montiert (Figuren 1 und 6; Seite 4, Zeilen 17 bis 25).

Ferner ist eine verschiebliche Kupplung 40 vorgesehen, die mit innenliegenden
Keilnuten 42 versehen ist (Figur 6; Seite 5, ab Zeile 21). Je nach vertikaler Lage
der Kupplung 40 ist die Hohlwelle 12 mit dem rohrförmigen zylindrischen Ende 21
und somit mit dem Schaft 23 aufgrund des Eingreifens der Nuten 13 und 24 in die
- 20 -
Keilnuten 42 entweder drehfest gekuppelt oder von diesem entkuppelt. Somit kann
das Dreirad in einem ersten Modus betrieben werden, in dem das Dreirad von
dem Fahrer des Dreirades gelenkt wird, oder in einem zweiten Modus betrieben
werden, in dem das Dreirad von einer weiteren Person geschoben wird. Im zwei-
ten Betriebsmodus sind die Gabel 20 sowie das Vorderrad 25 frei um 360° dreh-
bar, so dass aufgrund eines Versatzes zwischen Vorderradachse und Schaftachse
das Vorderrad im zweiten Betriebsmodus wegen des Nachlaufeffekts eine nach
hinten versetzte Stellung einnehmen wird, so wie dies der Figur 5 (zweiter Modus)
im Vergleich zu der Figur 1 (erster Modus) entnehmbar ist. Im zweiten Betriebs-
modus liegt die Schaftachse dabei vor der Vorderradachse, wie dies eindeutig die
Figur 5 zeigt und wie es auf Seite 7, Zeile 7 bis Seite 8, Zeile 7 ausgeführt wird.

Die Druckschrift D2 beschreibt somit unstreitig ein Dreirad entsprechend dem
gebotenen Verständnis der Merkmale M1 bis M8.2 sowie M9 bis M9.2.

Der einen konstruktiven Nachbau des in der Druckschrift D2 offenbarten Dreirad
anstrebende Fachmann entnimmt den in den Figuren der Druckschrift D2 darge-
stellten schematischen Ausführungsbeispielen darüber hinaus, dass das hier spe-
ziell für Kinder (vgl. Seite 1, Zeilen 2 und 3) entwickelte Dreirad, wie in diesem
Segment üblich, mit relativ breiten Vorderädern ausgebildet ist, wobei deren Breite
das rohrförmige zylindrische Ende 21 in seinem Durchmesser zumindest deutlich
übertrifft (vgl. Figur 7).

Auch ist die Schaftachse nicht fluchtend mit der Gabelachse angeordnet, sondern
schließt mit dieser einen Winkel ein. Denn anderweitig kann sich weder der deutli-
che Unterschied in der Radstellung zwischen dem ersten Betriebsmodus und dem
zweiten Betriebsmodus, der den Figuren 1 und 5 entnehmbar ist, ergeben, noch
könnte sich selbstständig ein Wechsel zwischen Vorlauf im ersten Betriebsmodus
und Nachlauf im zweiten Betriebsmodus vollziehen, wie jedenfalls für das Ausfüh-
rungsbeispiel offenbart. Dieser Winkel bedingt in der Folge zwingend - und eben-
falls den Figuren auch eindeutig entnehmbar - einen Versatz zwischen Vorderrad-
achse und Schaftachse.
- 21 -
Somit offenbart die Druckschrift D2 auch bereits die durch die Merkmale M8.3 bis
M8.5 bewirkte technische Funktionalität, sowie die grundsätzlich in diesen Merk-
malen beanspruchten geometrischen Lageorientierungen der einzelnen Achsen
bzw. Bauteile zueinander bzw. gibt hierzu die entscheidende Richtung der Bemes-
sungen vor.

Lediglich die einzelnen, darüber hinausgehenden exakten geometrischen Maß-
angaben, welche in den Merkmalen M8.3, M8.4 und M8.5 beansprucht werden,
sind der Druckschrift D2 nicht zu entnehmen. Denn schematische Darstellungen
offenbaren in der Regel nur das Prinzip der beanspruchten Vorrichtung, nicht aber
deren exakte Abmessungen (vgl. BGH, Beschluss vom 16.10.2012 - X ZB 10/11 -,
BPatGE 53, 303 – Steckverbindung).

Diese in der Druckschrift D2 nicht unmittelbar offenbarten Merkmale können eine
erfinderische Tätigkeit aber nicht begründen, da sie sich in einer Bemessungs-
maßnahme eines Bauteils erschöpfen, die zu den routinemäßigen Aufgaben des
Fachmannes im Rahmen seines Fachkönnens gehören (vgl. BPatG, Beschluss
vom 17. 10. 2007 – 7 W (pat) 367/04 –, juris, Rn. 42). Dass die im vorliegenden
Fall offensichtlich von weiteren, nicht im Anspruch definierten Randbedingungen
abhängende Dimensionierung im Hinblick auf die Erzielung eines für den prakti-
schen Bedarfsfall ausreichenden Nachlaufs hin hierbei besonderen Schwierigkei-
ten begegnet, ist darüber hinaus weder vorgetragen worden noch erkennbar. Auch
eine besondere für den Fachmann nicht zu erwartende kombinatorische Wirkung
des Merkmals M8.3 zu den Merkmalen M8.4 und M8.5 ist, wie vorstehend in
Punkt 2.3 erläutert, nicht erkennbar.

Mithin ist das Streitpatent im Umfang des Patentanspruchs 1 in der erteilten Fas-
sung nicht rechtsbeständig.

- 22 -
3. Zur Fassung des Streitpatents nach Hilfsantrag 1

Der mit dem Hilfsantrag 1 verteidigte Patentanspruch 1 ist unzulässig, da er ge-
genüber dem erteilten Patentanspruch 1 keine Beschränkung, sondern lediglich
eine Klarstellung enthält (vgl. Busse, PatG, 8. Aufl., § 82, Rn. 110; Schulte, PatG,
9. Aufl., § 81, Rn. 120; Keukenschrijver, Patentnichtigkeitsverfahren, 6. Aufl.,
Rn. 313, 346).

3.1 In dem Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag 1 ist gegenüber dem Patentan-
spruch 1 in der erteilten Fassung das Merkmal M8.4 wie folgt geändert (Ände-
rungen unter- bzw. durchgestrichen).

M8.4H1 wherein the lower end of the stem (305) extends from is connected to
the upper end of the fork (133) in a manner such that the stem axis
and a fork axis of the fork (133) form at an angle (x) of between about
165 degrees and 179 degrees there between

3.2 Inhaltlich unterscheidet sich das neue Merkmal M8.4H1 jedoch nicht von
dem Merkmal M8.4 des Patentanspruchs 1 in der erteilten Fassung, insofern wird
zur Auslegung auf vorstehende Ausführungen verwiesen. Das neue Merk-
mal M8.4H1 ist somit auch ursprünglich offenbart.

Damit wird, wie von der Beklagten in der mündlichen Verhandlung auch nicht be-
stritten, mit dem Merkmal M8.4H1 jedoch nur etwas klargestellt, was durch das
Merkmal M8.4 bereits unter Schutz gestellt werden soll. Als bloße Klarstellung be-
wirkt das Merkmal M8.4H1in der Folge aber keine Beschränkung des Streitpatents,
somit ist der Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag 1 nicht zulässig (vgl. Benkard,
Patentgesetz, 11. Auflage, § 21 Rn. 41; zur Problematik auch BGH GRUR 1988,
757 – Düngerstreuer und BGH GRUR 1989, 103 – Verschlussvorrichtung für
Gießpfannen).

- 23 -
4. Zur Fassung des Streitpatents nach Hilfsantrag 2

Der Gegenstand des Patentanspruchs 1 nach Hilfsantrag ist aus denselben Grün-
den wie der Gegenstand des Patentanspruchs 1 in der erteilten Fassung nicht
schutzfähig.

4.1 In dem Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag 2 ist gegenüber dem Patent-
anspruch 1 in der Fassung nach Hilfsantrag 1 zusätzlich in das Merkmal M9.2 ein
neues Teilmerkmal mit aufgenommen worden. Das Merkmal M9.2 lautet geändert
wie folgt (Änderung unterstrichen):

M9.2H2 the rider handle in the first mode, where the stem axis trails the front
wheel axis, being configured to be rotationally coupled with the stem
(305) in a manner permitting a tricycle rider to exert forces on the
rider handle (200) and thereby turn the fork (133),

4.2 Das neu in den Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag 2 eingefügte Teilmerk-
mal beschränkt den in Merkmal M9.2 beschriebenen ersten Betriebsmodus derart,
dass es nun bestimmt, dass in diesem ersten Betriebsmodus die Schaftachse der
Vorderradachse folgt, somit sich in diesem Betriebsmodus ein Vorlauf einstellt.

4.3 Diese somit insgesamt beschränkend wirkende Änderung des Patentan-
spruchs ist zulässig, denn das gegenüber dem Hilfsantrag 1 aufgenommene zu-
sätzliche Merkmal ist in dem Absatz [0006], Zeilen 16 bis 19, der SPS sowie in
den Anmeldeunterlagen wörtlich und auch im Übrigen als zur Erfindung gehörend
offenbart.

4.4 Der nunmehr beanspruchte Erfindungsgegenstand erweist sich aber auch
mit diesem zusätzlichen Merkmal zumindest nicht als erfinderisch, denn er ergibt
sich für den Fachmann in naheliegender Weise aus der Druckschrift D2 unter Be-
rücksichtigung seines Fachkönnens.

- 24 -
Wie bereits in Abschnitt 2.4 zu der Druckschrift D2 ausgeführt, ist die Gabel 20 um
360° drehbar, wobei das Vorderrad aufgrund Versatzes, der sich aus der Gestalt
der hierfür maßgeblichen Komponenten, wie u. a dem Winkel zwischen den Ach-
sen, ergibt, zwischen Vorderradachse und Schaftachse im zweiten Betriebsmodus
nach hinten in eine Nachlaufstellung gedreht ist (vgl. Figur 5), während im ersten
Betriebsmodus das Vorderrad nach vorne gedreht ist (vgl. Figur 1). In diesem Mo-
dus folgt aufgrund des Versatzes die Schaftachse der Vorderradachse.

Folglich fügt das zusätzliche Merkmal dem bereits ausgehend von der Druck-
schrift D2 als nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhendem Dreirad nach
dem Patentanspruch 1 in der erteilten Fassung lediglich ein weiteres, ebenfalls
aus der Druckschrift D2 bekanntes Merkmal hinzu.

Mithin ist das Streitpatent auch im Umfang des Patentanspruchs 1 in der Fassung
nach Hilfsantrag 2 nicht patentfähig.

5. Der Vortrag der Parteien gab keine Veranlassung zu Ausführungen über die
Gegenstände der von den Anspruchssätzen mitumfassten abhängigen Ansprüche
im Einzelnen.

Ein eigenständiger erfinderischer Gehalt ist hinsichtlich der angegriffenen Unter-
ansprüche auch nicht geltend gemacht worden und darüber hinaus nicht ersicht-
lich.


III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 Abs. 2 PatG in Verbindung mit § 91
Abs. 1 ZPO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 99 Abs. 1
PatG in Verbindung mit § 709 ZPO.
- 25 -
IV.

Rechtsmittelbelehrung

Gegen dieses Urteil ist das Rechtsmittel der Berufung gegeben.

Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des in vollständiger Form
abgefassten Urteils, spätestens aber innerhalb eines Monats nach Ablauf von fünf
Monaten nach Verkündung des Urteils, durch einen beim Bundesgerichtshof zuge-
lassenen Rechtsanwalt oder Patentanwalt als Bevollmächtigten schriftlich oder in
elektronischer Form beim Bundesgerichtshof, Herrenstr. 45 a, 76133 Karlsruhe,
einzulegen.


Schmidt Sandkämper Dr. Baumgart Grote-Bittner Dr. Geier

Ko



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