17 W (pat) 25/16  - 17. Senat (Techn.Beschw.)
Karar Dilini Çevir:

ECLI:DE:BPatG:2018:150318B17Wpat25.16.0


BUNDESPATENTGERICHT



17 W (pat) 25/16
_______________
(Aktenzeichen)



Verkündet am
15. März 2018





B E S C H L U S S

In der Beschwerdesache

betreffend die Patentanmeldung 10 2005 007 642.4 - 53








hat der 17. Senat (Technischer Beschwerdesenat) des Bundespatentgerichts auf
die mündliche Verhandlung vom 15. März 2018 unter Mitwirkung des Vorsitzenden
Richters Dipl.-Phys. Dr. Morawek, der Richter Dipl.-Ing. Baumgardt und
Dipl.-Ing. Hoffmann sowie der Richterin Akintche
- 2 -
beschlossen:

Auf die Beschwerde der Anmelderin wird der Beschluss des Deut-
schen Patent- und Markenamts vom 19. Februar 2016 aufgeho-
ben.

Das Patent wird mit folgenden Unterlagen erteilt:

- Patentansprüche 1 bis 11 und
- Beschreibung Seiten 1, 2, 2a, 2b, 3 bis 9,
jeweils wie in der mündlichen Verhandlung überreicht, und
- 6 Blatt Zeichnungen mit Figuren 1 bis 9, jeweils vom Anmel-
detag.


G r ü n d e

I.

Die vorliegende Patentanmeldung wurde am 19. Februar 2005 beim Deutschen
Patent- und Markenamt eingereicht. Sie trägt die Bezeichnung
„Eingabevorrichtung für ein Kraftfahrzeug mit einem Touchscreen“.
Die Anmeldung wurde durch Beschluss der Prüfungsstelle für Klasse G 06 F des
Deutschen Patent- und Markenamts in der Anhörung vom 19. Februar 2016 mit
der Begründung zurückgewiesen, dass der Gegenstand des Patentanspruchs 1
weder in der Fassung des damals geltenden Hauptantrags noch in der Fassung
der Hilfsanträge 1 bis 4 patentfähig sei, (sinngemäß) weil er gegenüber der Druck-
schrift D1 (s. u.) auf keiner erfinderischen Tätigkeit beruhe; die jeweils darüber
hinausgehenden Merkmale beträfen gestalterische Überlegungen im Bereich des
- 3 -
Designs grafischer Nutzeroberflächen, welche nicht als technische Mittel zur Lö-
sung eines technischen Problems angesehen werden und deshalb keine erfinderi-
sche Tätigkeit begründen könnten.
Gegen diesen Beschluss ist die Beschwerde der Anmelderin gerichtet.
Sie trägt vor, der Fachmann könne hier nicht irgendein Anwendungsprogrammie-
rer für Multitouchscreen-Benutzeroberflächen sein, sondern müsse aus dem Be-
reich der Kraftfahrzeugtechnik kommen. Besonders sei auch der Anmeldungszeit-
punkt zu berücksichtigen, der mehr als zwei Jahre vor der Vorstellung des Apple-
iPhone liege (welches das erste im Konsumentenmarkt auftretende Gerät mit
Mehrfachberührfähigkeit gewesen sei). Rückschauend erschienen viele Anmel-
dungen, die vor dieser Markteinführung des iPhones getätigt wurden, als nahelie-
gend, da die darin beschriebenen Merkmale aus heutiger Sicht als banal einge-
stuft würden und eine solche Bedienungsweise auch für den Nichtfachmann heute
als die „einzig“ mögliche und sinnvolle Bedienung einer mit einem Touchscreen
versehenen Vorrichtung erscheine.
Als nächstliegenden Stand der Technik sehe die Prüfungsstelle wohl die Druck-
schrift D4 (s. u.) an, welche zumindest die einzige der in der Argumentation
bezüglich des Hauptantrags herangezogenen Druckschriften sei, die einen Ver-
weis auf ein Kraftfahrzeug enthalte. Ein Touchscreen sei dort jedoch nicht so
offenbart, dass ein verständiger Fachmann veranlasst gewesen wäre, sich um die
konkrete Ausgestaltung einer Touchscreen-Benutzeroberfläche zu kümmern. Zwar
sei die Druckschrift grundsätzlich mit der Erfassung von Nutzereingaben und der
Auslösung von Funktionen befasst, jedoch in keiner Weise mit Problemen einer
haptischen Bedienung. Insofern erscheine es abwegig, diese Druckschrift als Aus-
gangspunkt der Überlegung hinsichtlich der erfinderischen Tätigkeit zu wählen.
Die zweite aus Sicht der Prüfungsstelle wesentliche Druckschrift D1 beschäftige
sich nicht mit der Funktionseingabe oder Funktionsauslösung in Kraftfahrzeugen;
außerdem stellten dort Zeigerelemente die Grundlage einer Bedienung dar, was
- 4 -
für das Arbeiten auf Touchscreens in Kraftfahrzeugen völlig unüblich und tech-
nisch nicht sinnvoll sei.
Auch die Aussage der Prüfungsstelle, eine konkrete Ausgestaltung eines Berühr-
musters beruhe ausschließlich auf gestalterischen Überlegungen, sei völlig abwe-
gig und rechtsfehlerhaft, da von der konkreten Ausgestaltung und Erfassung der
Signale sowie deren Verarbeitung, so wie es beansprucht ist, ein abweichender
technischer Effekt des Verfahrens bzw. der Vorrichtung bedingt sei.
Die Ausführungsform der Druckschrift D1 führe zu einem abweichenden funktio-
nellen Verhalten gegenüber dem in der Anmeldung beanspruchten Verfahren. Da-
her halte die Anmelderin die Argumentation im Zurückweisungsbeschluss für nicht
haltbar und rechtsfehlerhaft. Die Kombination der Druckschriften D1 und D4,
sofern der Fachmann sie überhaupt vornehmen würde, sei nicht geeignet, um die
beanspruchten Gegenstände nahezulegen. Auch die weiteren im Verfahren zitier-
ten Druckschriften seien nicht geeignet, die in der Argumentationskette bestehen-
den Lücken zu füllen oder zu ersetzen.
Die Anmelderin stellt den Antrag,
den angegriffenen Beschluss aufzuheben und das nachgesuchte
Patent mit folgenden Unterlagen zu erteilen:
Patentansprüche 1 bis 11 und
Beschreibung Seiten 1, 2, 2a, 2b, 3 bis 9,
jeweils wie in der mündlichen Verhandlung überreicht, und
6 Blatt Zeichnungen mit Figuren 1 bis 9, jeweils vom Anmeldetag.

- 5 -
Das geltende Patentbegehren (hier mit einer zusätzlichen Merkmalsgliederung für
den Patentanspruch 1) lautet:
(M1) 1. Verfahren zum Betrieb einer Eingabevorrichtung (2) für
ein Kraftfahrzeug (1)
(M2) mit einem Display (22) zur variablen Darstellung von Infor-
mationen und Bildern,
(M3) mit einem über dem Display (22) angeordneten Touch-
screen (20) zur Eingabe von Befehlen durch Berühren einer
Bedienfläche (21) des Touchscreens (20) und
(M4) mit einer Auswertung (12) zur derartigen Bestimmung der
Position (80) einer Berührung der Bedienfläche (21),
(M5) dass zumindest zwei gleichzeitig erfolgende Berührungen
der Bedienfläche (21) an unterschiedlichen Positionen (80,
81) als solche erkennbar sind,
(M6) wobei mittels des Displays (22) zumindest ein Bedienele-
ment (51) dargestellt wird, und
(M7) wobei eine dem Bedienelement (51) zugeordnete erste
Funktion des Kraftfahrzeuges (1) oder der Eingabevorrich-
tung (2) aufgerufen oder ausgeführt wird,
(M8) wenn die Bedienfläche (21) an einer ersten Position (80) im
Bereich des Bedienelementes (51) nicht jedoch gleichzeitig
an einer um mehr als einen Abstandsgrenzwert von der ers-
ten Position (80) entfernten zweiten Position (81) berührt
wird.
- 6 -
2. Verfahren nach Anspruch 1, dadurch gekennzeichnet, dass
eine zweite Funktion des Kraftfahrzeuges (1) oder der Einga-
bevorrichtung (2) aufgerufen oder ausgeführt wird, wenn die
Bedienfläche (21) an den zwei unterschiedlichen, um mehr
als den Abstandsgrenzwert voneinander entfernten Positio-
nen (80, 81) berührt wird.
3. Verfahren nach Anspruch 2, dadurch gekennzeichnet, dass
die zweite Funktion des Kraftfahrzeuges (1) oder der Einga-
bevorrichtung (2) nicht dem zumindest einen Bedienele-
ment (51) zugeordnet ist, in dessen Bereich die erste Posi-
tion (80) der zwei gleichzeitig erfolgenden Berührungen der
Bedienfläche (21) erkannt wird.
4. Verfahren nach Anspruch 2 oder 3, dadurch gekennzeichnet,
dass die zweite Funktion des Kraftfahrzeuges (1) oder der
Eingabevorrichtung (2) nur aufgerufen oder ausgeführt wird,
wenn die Bedienfläche (21) an den zwei unterschiedlichen,
um mehr als den Abstandsgrenzwert voneinander entfernten
Positionen (80, 81) berührt wird und die Berührungen länger
als eine Sekunde dauern.
5. Kraftfahrzeug (1) mit einer Eingabevorrichtung (2), die ein
Display (22) zur variablen Darstellung eines Bedienelemen-
tes (51), einen über dem Display (22) angeordneten Touch-
screen (20) zur Eingabe von Befehlen durch Berühren einer
Bedienfläche (21) des Touchscreens (20) und eine Auswer-
tung (12) zur derartigen Bestimmung der Position (80) einer
Berührung der Bedienfläche (21) umfasst, dass zumindest
zwei gleichzeitig erfolgende Berührungen der Bedienflä-
che (21) an unterschiedlichen Positionen (80, 81) als solche
- 7 -
erkennbar sind, wobei das Kraftfahrzeug (1) eine Steue-
rung (11) zum Aufruf oder zur Ausführung einer dem Bedien-
element (51) zugeordneten ersten Funktion des Kraftfahr-
zeuges (1) oder der Eingabevorrichtung (2) bei einer Berüh-
rung der Bedienfläche (21) an einer ersten Position (80) im
Bereich des Bedienelementes (51) nicht jedoch gleichzeitig
an einer um mehr als einen Abstandsgrenzwert von der ers-
ten Position (80) entfernten zweiten Position (81) umfasst.
6. Kraftfahrzeug (1) nach Anspruch 5, dadurch gekennzeichnet,
dass bei einer Berührung der Bedienfläche (21) an den zwei
unterschiedlichen, um mehr als den Abstandsgrenzwert von-
einander entfernten Positionen (80, 81) mittels der Steue-
rung (11) eine zweite Funktion des Kraftfahrzeuges (1) oder
der Eingabevorrichtung (2) aufrufbar oder ausführbar ist.
7. Kraftfahrzeug (1) nach Anspruch 6, dadurch gekennzeichnet,
dass die zweite Funktion des Kraftfahrzeuges (1) oder der
Eingabevorrichtung (2) nicht dem zumindest einen Bedien-
element (51) zugeordnet ist, in dessen Bereich die erste Po-
sition (80) der zwei gleichzeitig erfolgenden Berührungen der
Bedienfläche (21) erkannt wird.
8. Kraftfahrzeug (1) nach Anspruch 6 oder 7, dadurch gekenn-
zeichnet, dass die zweite Funktion des Kraftfahrzeuges (1)
oder der Eingabevorrichtung (2) nur aufgerufen oder ausge-
führt wird, wenn die Bedienfläche (21) an den zwei unter-
schiedlichen, um mehr als den Abstandsgrenzwert vonei-
nander entfernten Positionen (80, 81) berührt wird und die
Berührungen länger als eine Sekunde dauern.
- 8 -
9. Kraftfahrzeug (1) nach einem der Ansprüche 5 oder 8, da-
durch gekennzeichnet, dass die Bedienfläche (21) eine harte
Fläche ist.
10. Kraftfahrzeug (1) nach einem der Ansprüche 5 bis 9, dadurch
gekennzeichnet, dass der Touchscreen (20) ein kapazitiver
Touchscreen ist.
11. Kraftfahrzeug (1) nach einem der Ansprüche 6 bis 10, da-
durch gekennzeichnet, dass die zweite Funktion die Bereit-
stellung einer Spracheingabe mittels eines Mikrofons (14)
umfasst.
Dem Patentbegehren soll die Aufgabe zugrunde liegen, eine Eingabevorrichtung
mit einem Touchscreen zu verbessern (siehe geltende Beschreibung Seite 2b Ab-
satz 1). Es sei wünschenswert, eine besonders gut für Kraftfahrzeuge geeignete
Eingabevorrichtung zu schaffen.


II.

Die Beschwerde wurde rechtzeitig eingelegt und ist auch sonst zulässig. Sie hat
auch Erfolg, da das geltende Patentbegehren durch den bekannt gewordenen
Stand der Technik nicht vorweggenommen oder nahegelegt ist und die übrigen
Kriterien für eine Patenterteilung ebenfalls erfüllt sind (PatG §§ 1 bis 5, § 34).

1. Die vorliegende Patentanmeldung betrifft ein bestimmtes Eingabeverfahren
für einen berührungsempfindlichen Bildschirm (Touchscreen) in einem Kraftfahr-
zeug, beansprucht als „Verfahren zum Betrieb einer Eingabevorrichtung für ein
Kraftfahrzeug“ (Hauptanspruch – Merkmal (M1)) bzw. „Kraftfahrzeug mit einer Ein-
- 9 -
gabevorrichtung“ (nebengeordneter Anspruch 5). Bei derartigen Touchscreens
werden typischerweise Bedien-Elemente auf dem Display dargestellt, denen Gerä-
tefunktionen (des Fahrzeugs oder einer seiner Baugruppen, oder auch der Einga-
bevorrichtung) zugeordnet sind, die durch Berühren des Bedienfeldes im Darstel-
lungsbereich des jeweiligen Bedien-Elementes, in Analogie zum Drücken einer
Bedien-Taste, aktiviert werden können (Merkmale (M2), (M3), (M4), (M6), (M7),
teilw. (M8) – siehe z. B. Offenlegungsschrift Absatz [0033] und Figur 3 / 4).
Gegenüber üblichen Touchscreens liegt eine erste Besonderheit zunächst darin,
dass „zwei gleichzeitig erfolgende Berührungen der Bedienfläche an unterschiedli-
chen Positionen“ als zwei Berührungen (Doppel-Berührung) erkannt werden kön-
nen, einschließlich der jeweiligen Berührpositionen (Merkmal (M5), siehe Absatz
[0031] Satz 3) – oder ggf. auch mehr als zwei gleichzeitige Berührungen.
Das Merkmal (M8) zielt nun darauf, in welcher Weise eine erkannte Doppel-Berüh-
rung interpretiert werden soll bzw. unter welchen Bedingungen eine „erste Funk-
tion“ (Gerätefunktion) ausgelöst werden soll: Die übliche Funktionsauslösung bei
Berührung eines Bedienfeldes soll nur dann erfolgen, wenn nicht gleichzeitig eine
zweite Berührung erkannt wird an einer Position, die „um mehr als einen Ab-
standsgrenzwert von der ersten Position“ entfernt ist.
D. h. das Merkmal (M8) stellt im Grunde eine Melange aus verschiedenen
Maßnahmen dar: Wenn nur eine einzelne Berührung im Bereich eines Bedien-
Elementes erkannt wird, soll die zugeordnete Funktion ausgelöst werden. Wenn
aber gleichzeitig eine zweite Berührung erkannt wird, ist zu prüfen, in welchem
Abstand von der ersten Berührposition sie erfolgt: ist der Abstand klein genug
(„nicht … um mehr als einen Abstandsgrenzwert entfernt“), wird die Doppelberüh-
rung wie eine „einfache“ Berührung des Bedienfeldes behandelt, d. h. die zuge-
ordnete Funktion wird ebenfalls ausgeführt; ist der Abstand hingegen zu groß („um
mehr als einen Abstandsgrenzwert von der ersten Position entfernt“), wird auf
„Zwei-Finger-Berührung“ erkannt, und die dem Bedienfeld zugeordnete Funktion
- 10 -
wird nicht ausgelöst. Dieser Prüfungs-Ablauf ist insbesondere in Abs. [0035] /
[0036] und Figur 5 dargestellt. Der erkannten „Zwei-Finger-Berührung“ kann eine
spezielle andere Fahrzeug- oder Eingabe-Funktion zugeordnet sein (siehe Abs.
[0037]: Schritt 74 „Bereitstellung einer Spracheingabe“).
Der auf ein „Kraftfahrzeug mit einer Eingabevorrichtung“ gerichtete Nebenan-
spruch 5 betrifft i. W. eine „Steuerung (11)“ zum Aufruf oder zur Ausführung von
Funktionen in derselben Weise, wie sie der Hauptanspruch beschreibt.
Die Anmeldung erläutert nicht, warum bei einer zunächst erkannten Doppel-Be-
rührung die beschriebene Abstandsprüfung vorgenommen wird. Hierzu hat die An-
melderin vorgetragen, dass dies zur Erkennung unbeabsichtigter Doppel-Berüh-
rungen vorgesehen sei: Insbesondere in einem Kraftfahrzeug bestehe bei der
Bedienung während der Fahrt die Gefahr, dass der berührende Finger, z. B. auf-
grund einer Erschütterung des Fahrzeugs, „verrutsche“ und der Touchscreen eine
Doppel-Berührung anzeige, obwohl der Bediener nur ein angezeigtes Bedienfeld
habe betätigen wollen. Dies könne eben daran erkannt werden, dass die beiden
erfassten Berühr-Positionen recht nahe beieinanderlägen. Für diesen Fall nehme
die beanspruchte Erfindung eine Interpretation der Doppel-Berührung als die
eigentlich gewollte Einfach-Berührung vor.
Als Fachmann, der mit der Aufgabe betraut wird, eine Eingabevorrichtung mit
einem Touchscreen insbesondere für die Verwendung in einem Kraftfahrzeug zu
verbessern, sieht der Senat einen Fachmann aus dem Bereich der Kraftfahrzeug-
technik an, welcher angesichts des doch recht speziellen Fachgebiets einen Fach-
mann für Touchscreen-Eingabegeräte und -verfahren hinzuzieht (vgl. BGH GRUR
2012, 482 – Pfeffersäckchen: „… deren Fachkenntnisse sich in einem Team
ergänzen“).
- 11 -
2. Das geltende Patentbegehren ist zulässig. Die geltenden Patentansprüche
und die Beschreibung gehen nicht über die ursprüngliche Offenbarung hinaus.
Auch andere formale Mängel liegen nicht vor.

2.1 Die geltenden Patentansprüche 1, 2, 5, 6, 9, 10 und 11 entsprechen den
ursprünglichen Patentansprüchen 1 bis 7, wobei lediglich im Anspruch 2 und im
Anspruch 6 gegenüber den ursprünglichen Ansprüchen 2 und 4 die Formulierung
„an zwei unterschiedlichen“ zur Klarstellung in „an den zwei unterschiedlichen“
geändert wurde. Dies begegnet keinen Bedenken.
Die neu formulierten Ansprüche 3 / 4 und 7 / 8 können sich auf die Offenbarung
gemäß Absatz [0010] und Absatz [0037] der Offenlegungsschrift stützen.
2.2 Die Patentansprüche sind geeignet, klar und deutlich anzugeben, was
durch sie unter Schutz gestellt werden soll. An der Ausführbarkeit der beanspruch-
ten Lehre bestehen keine Zweifel.
2.3 Die Beschreibung wurde in zulässiger Weise an die geltenden Ansprüche
angepasst, unter Berücksichtigung des entgegengehaltenen Standes der Technik
(s. u. Abschnitt 4.).

3. Entgegen der Argumentation im Zurückweisungsbeschluss sind im vorlie-
genden Fall sämtliche Merkmale des Patentanspruchs 1 (wie auch des nebenge-
ordneten Patentanspruchs 5) bei der Prüfung auf erfinderische Tätigkeit zu
berücksichtigen.
3.1 Zu Recht ist allerdings die Prüfungsstelle davon ausgegangen, dass rein
„gestalterische Überlegungen im Bereich des Designs grafischer Nutzeroberflä-
chen“ (solange sie nicht auf technischen Erkenntnissen beruhen) nicht als Mittel
zur Lösung eines technischen Problems angesehen und deshalb bei der Prüfung
- 12 -
auf erfinderische Tätigkeit nicht berücksichtigt werden können (vgl. BGH GRUR
2011, 125 – Wiedergabe topografischer Informationen, u. a.).
3.2 Ein solcher Fall liegt hier aber nicht vor. Die im Zurückweisungsbeschluss
als „gestalterische Überlegung“ beurteilte Maßnahme gemäß Merkmal (M8), nahe
beieinanderliegende Doppel-Berührungen von weiter auseinanderliegenden zu
unterscheiden, hat nichts mit dem Design der Benutzeroberfläche zu tun. Sie dient
vielmehr dazu, die Interpretation erkannter Berührungen an die Situation im Kraft-
fahrzeug anzupassen und insbesondere solche Doppel-Berührungen zu erkennen,
die auf „verrutschte“ Einzel-Berührungen zurückzuführen sind (s. o. Abschnitt 1.
vorletzter Absatz). Dies stellt grundsätzlich ein technisches Problem dar, das durch
die Bestimmung des Abstands der Berührpunkte gemäß Merkmal (M8) gelöst
wird.
Daher darf das Merkmal (M8) bei der Prüfung auf erfinderische Tätigkeit nicht aus-
geschlossen werden.

4. Der Gegenstand des geltenden Patentanspruchs 1 ist durch den bekannt
gewordenen Stand der Technik weder vorweggenommen noch nahegelegt.
4.1 Folgende Druckschriften wurden im Laufe des Verfahrens entgegengehal-
ten:
D1 DE 199 01 481 A1
D2 DE 197 53 742 A1
D3 US 2005 / 24 342 A1
D4 DE 198 39 354 A1
D5 SEARS, Andrew et al.: A New Era for High Precision Touch-
screens. In: Advances in human computer interaction, Vol. 3,
Ablex Publ. Corp., Norwood, NJ, 1992, S. 1–33
D6 US 5 896 126 A
- 13 -
D7 US 2003 / 48 260 A1
D8 WO 03 / 54 680 A2
Die (bereits in der Anmeldung Abs. [0007] angeführte) Druckschrift D1 betrifft ein
Verfahren zur Bedienung von bildschirmgesteuerten Prozessen industrieller Groß-
anlagen, z. B. zum Auslösen von Prozessbefehlen von einer Leitwarte für ein
Kraftwerk (siehe Spalte 1 Zeile 3 ff., Spalte 3 Zeile 31 bis 35). Die Bedienung kann
mittels eines berührungsempfindlichen Bildschirms erfolgen (Spalte 1 Zeile 20). Es
können mehrere Positionssignale z. B. von den Fingerspitzen einer menschlichen
Hand erzeugt werden (Spalte 2 Zeile 54 bis 58). Allerdings arbeitet D1 mit der Be-
wegung von „Zeigeelementen“ (Figur: 18A, 18B), wobei zunächst eine Aktivierung
eines Befehlsfeldes (Aktionsfeldes) durch Bewegen des Zeigeelementes auf die-
ses hin und in einem zweiten Schritt eine Befehlsauslösung durch ein Betätigungs-
signal z. B. durch höheren Druck auf das Feld erfolgen soll (siehe Spalte 4
Zeile 48 bis Spalte 5 Zeile 2). Eine Unterscheidung bei der Befehlsauslösung ab-
hängig davon, ob ein, zwei oder noch mehr Finger gleichzeitig aufliegen, lässt sich
aus D1 nicht herauslesen – insbesondere nicht die Fall-Unterscheidung des Merk-
mals (M8). Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob ein Durchschnittsfachmann
diese Druckschrift zur Verbesserung der Eingabe in Kraftfahrzeugen herangezo-
gen hätte, obwohl sich die D1 nicht mit Kraftfahrzeugen befasst und ihre Problem-
stellung deutlich eine andere ist.
Die Druckschrift D2 beschreibt die Verwendung von „einfachen“ berührungsemp-
findlichen Bildschirmen in Kraftfahrzeugen. Eine Erkennung mehrerer gleichzeitig
erfolgender Berührungen lässt sich der D2 nicht entnehmen.
Die Druckschrift D3 zeigt ebenfalls die Anwendung eines berührungsempfindlichen
Bildschirms im Kraftfahrzeug, wobei die Figuren 6 und 7 der D3 mit den Figuren 3
und 4 der Anmeldung übereinstimmen. Jedoch lässt sich eine Erkennung mehre-
rer gleichzeitig erfolgender Berührungen auch hier nicht entnehmen.
- 14 -
D4 beschreibt ein Fahrzeugkommunikationssystem, das mit geringem Aufwand
erweitert und an neue Aufgaben und Applikationen angepasst werden kann (siehe
Abs. [0007], [0009], [0012], [0014] u. a.). Rein beispielhaft ist ein Touchscreen als
eine von vielen möglichen Eingabeeinheiten angegeben (siehe Spalte 4 Zeile 58).
Der Anmelderin ist zuzustimmen, dass sich diese D4 kaum als Ausgangspunkt für
eine Weiterentwicklung von einem Touchscreen als Benutzerschnittstelle in einem
Kraftfahrzeug eignen dürfte. Insbesondere ist der D4 aber auch keine Anregung
entnehmbar, wie eine erkannte gleichzeitige Berührung von zwei unterschiedli-
chen Positionen auf einem Touchscreen interpretiert werden sollte.
Die Druckschrift D5 ist ein wissenschaftlicher Artikel aus dem Jahr 1992. Sie
befasst sich mit dem Einsatz von Touchscreens als Eingabegeräte, geht jedoch
dabei aus von einer „einfachen“ Berührungserkennung (siehe insbesondere
Seite 12 bis 15); „Multitouch Touchscreens“ sind auf Seite 26 lediglich als Objekt
weiterer Forschung beschrieben, ohne dass irgendeine Lehre gegeben würde, wie
mit zwei gleichzeitig erfassten Berührpositionen umgegangen werden sollte. Die
Prüfungsstelle nimmt Bezug auf Seite 24, letzter Absatz vor dem neuen Abschnitt
„Workstation Design“ („The problem of false lift-offs and land-ons …“). Dort ist zu
entnehmen, dass besondere Vorsorge getroffen werden sollte bezüglich einer feh-
lerhaften Berührungserkennung, z. B. durch eine geforderte Minimaldauer einer
Berührung, oder durch Berücksichtigen von Verrutschen („… to account for the
sliding that may occur“). Wie genau man das machen könnte, und welche Maß-
nahmen hierfür bei Verwendung eines „Multitouch Touchscreens“ ergriffen werden
könnten, dazu liefert die D5 allerdings keine Hinweise.
Aus der Druckschrift D6 war es bekannt, bei einem Touchscreen zur Menü-Ein-
gabe („drop-down menu“) die Anzahl der erkannten Finger zu zählen, um abhän-
gig davon, d. h. abhängig von der Anzahl erkannter Berührpositionen, unterschied-
liche Funktionen auszulösen (siehe insbesondere Figur 6 und Spalte 4 Zeile 13 ff.,
das Ausführungsbeispiel gemäß Figur 3 oder Figur 4, i. V. m. Spalte 3 Zeile 39 bis
41). Hierbei wurde auch schon vorgeschlagen, eine bestimmte Mindestzeit abzu-
- 15 -
warten, bevor die Anzahl der Finger als „erkannt“ gilt (Figur 6 Block 615 / 620
„Wait X Seconds“). Über eine besondere Behandlung nah beieinander liegender
Doppel-Berührungen i. S. d. Merkmals (M8) findet sich jedoch nichts.
Die Druckschrift D7 beschreibt Eingaben mittels eines Sensors wie z. B. eines
Touchscreens (Abs. [0046]), wobei die einzelnen Finger des Nutzers unterschie-
den werden und den Fingern unterschiedliche Funktionen zugeordnet sind, so
dass der benutzte Finger die ausgewählte Funktion bestimmt (Figur 2). Die be-
schriebene Weiterentwicklung eines Touchscreens kann beispielsweise auch bei
einem Instrumentenbrett in Fahrzeugen eingesetzt werden (Abs. [0071]).
Die D8 beschreibt Möglichkeiten, die sich für die Eingabe mittels berührungsemp-
findlicher Flächen wie z. B. Touchscreens ergeben, wenn mehrere Fingerpositio-
nen gleichzeitig erkannt werden können (siehe insbes. Seite 2 / 3 Unterpunkt (b);
Seite 4 Absatz 1; Seite 9 Mitte). So können zwei gleichzeitig gedrückte Finger als
Zoom-Funktion interpretiert werden (Seite 9 Mitte, Unterpunkt b), wobei aber eine
Mindestdauer von 0,3 Sekunden und ein Mindestabstand von 6 mm eingehalten
sein müssen. Drei gleichzeitig erkannte Finger können als Wechsel zur nächsten
Menü-Ebene interpretiert werden (Seite 9 Mitte, Unterpunkt c). Als Anwendungs-
beispiel werden auch Fahrzeug-Bildschirme genannt (Seite 9 viertletzte Zeile).
4.2 Mit diesem Stand der Technik lässt sich ein Naheliegen der Lehre des gel-
tenden Patentanspruchs 1 nicht begründen.
Zwar waren Touchscreens mit einer Erkennung von Mehrfach-Berührungen bereits
vor dem Anmeldetag der vorliegenden Anmeldung bekannt (siehe z. B. die Druck-
schrift D6) und wurden auch schon für die Anwendung in Fahrzeugen beschrieben
(siehe Druckschrift D8). Generell war es bekannt, dass der Entwickler Fehlbedie-
nungen im Auge haben müsse, wie z. B. auch unbeabsichtigtes Verrutschen des
Fingers („… to account for the sliding that may occur“ – siehe Druckschrift D5).
- 16 -
Keiner der genannten Druckschriften sind jedoch Anregungen zu entnehmen, wie
solche unbeabsichtigten Fehlbedienungen erkannt werden könnten, und wie damit
umgegangen werden sollte. Insbesondere lässt sich nirgendwo die Lehre ableiten,
im Falle einer erkannten Doppel-Berührung den Abstand der zwei Berührpunkte
zu untersuchen und, falls dieser klein genug ist, die Doppel-Berührung wie eine
einfache Berührung zu interpretieren.
Genau das ist aber die Lehre des wesentlichen Teils von Merkmal (M8), die nach
alledem nicht nahelag und damit die Patentfähigkeit des geltenden Patentan-
spruchs 1 trägt.

5. Der Nebenanspruch 5 ist auf eine entsprechende Lehre gerichtet („… bei
einer Berührung der Bedienfläche (21) an einer ersten Position (80) im Bereich
des Bedienelementes (51) nicht jedoch gleichzeitig an einer um mehr als einen
Abstandsgrenzwert von der ersten Position (80) entfernten zweiten Position (81)“)
und daher gleichfalls gewährbar.
Die Unteransprüche können durch ihre Rückbeziehung auf den Anspruch 1 bzw.
Anspruch 5 nicht anders beurteilt werden. Nach der von der Anmelderin durchge-
führten Anpassung der Beschreibung liegen für eine Patenterteilung geeignete
Unterlagen vor.


Rechtsmittelbelehrung

Gegen diesen Beschluss steht den am Beschwerdeverfahren Beteiligten das Rechtsmittel
der Rechtsbeschwerde zu. Da der Senat die Rechtsbeschwerde nicht zugelassen hat, ist
sie nur statthaft, wenn gerügt wird, dass

- 17 -
1. das beschließende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war,
2. bei dem Beschluss ein Richter mitgewirkt hat, der von der Ausübung des Richter-
amtes kraft Gesetzes ausgeschlossen oder wegen Besorgnis der Befangenheit mit
Erfolg abgelehnt war,
3. einem Beteiligten das rechtliche Gehör versagt war,
4. ein Beteiligter im Verfahren nicht nach Vorschrift des Gesetzes vertreten war,
sofern er nicht der Führung des Verfahrens ausdrücklich oder stillschweigend
zugestimmt hat,
5. der Beschluss aufgrund einer mündlichen Verhandlung ergangen ist, bei der die
Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt worden sind, oder
6. der Beschluss nicht mit Gründen versehen ist.

Die Rechtsbeschwerde ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Beschlusses beim
Bundesgerichtshof, Herrenstr. 45 a, 76133 Karlsruhe, durch einen beim Bundesgerichts-
hof zugelassenen Rechtsanwalt als Bevollmächtigten schriftlich einzulegen.



Dr. Morawek Baumgardt Hoffmann Akintche


Fa


Full & Egal Universal Law Academy