10 W (pat) 28/16  - 10. Senat (Techn.Beschw.)
Karar Dilini Çevir:

ECLI:DE:BPatG:2017:020517B10Wpat28.16.0


BUNDESPATENTGERICHT




10 W (pat) 28/16
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(Aktenzeichen)



B E S C H L U S S

In der Beschwerdesache

betreffend die Patentanmeldung 10 2011 108 339.5



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hat der 10. Senat (Technischer Beschwerdesenat) in der Sitzung vom 2. Mai 2017
unter Mitwirkung des Vorsitzenden Richters Dr.-Ing. Lischke sowie der Richter
Dipl.-Ing. Hildebrandt, Eisenrauch und Dipl.-Ing. Küest

beschlossen:

Auf die Beschwerde des Anmelders wird der Beschluss der Prü-
fungsstelle für Klasse E02B des Deutschen Patent- und Marken-
amts vom 27. April 2016 aufgehoben, und das Patent wird mit fol-
genden Unterlagen erteilt:
- Patentansprüche 1 bis 7 und
- Beschreibung Seiten 1 bis 13,
jeweils vom 23. Mai 2013,
- Zeichnungen (Fig. 1 und 2) gemäß Offenlegungsschrift.


G r ü n d e

I.

Die Erfindung wurde am 25. Juli 2011 unter Inanspruchnahme einer inneren Prio-
rität vom 27. Juli 2010 (20 2010 010 731.8) beim Deutschen Patent- und Marken-
amt unter dem Aktenzeichen 10 2011 108 339.5 angemeldet.

Mit Prüfungsbescheid vom 5. Februar 2013 hat die zuständige Prüfungsstelle
ausgeführt, die beanspruchte Priorität sei nicht wirksam, da die Prioritätsanmel-
dung und die vorliegende Patentanmeldung nicht die identische Erfindung bein-
halteten. Somit zähle die Prioritätsschrift DE 20 2010 010 731 U1 zum Stand der
Technik und nehme den Gegenstand der Anmeldung neuheitsschädlich vorweg.
Der Anmeldungsgegenstand sei daher nicht patentfähig. Ergänzend verweist die
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Prüfungsstelle noch auf die Druckschrift DE 199 19 239 A1 als hier einschlägigen
Stand der Technik.

Dem sind die Anmelder mit Schriftsatz vom 23. Mai 2013 entgegengetreten und
führen aus, dass die mit der Nachanmeldung beanspruchte Merkmalskombination
in der Voranmeldung sehr wohl als zu der angemeldeten Erfindung gehörend of-
fenbart, und damit die Priorität zu Recht in Anspruch genommen sei. Die
DE 20 2010 010 731 U1 sei daher nicht als entgegenstehender Stand der Technik
heranzuziehen, der Anmeldungsgegenstand somit patentfähig. Hierzu reichen die
Anmelder neue Unterlagen ein, wobei lediglich eine klarstellende Änderung der
Bezeichnung der Erfindung und damit verbunden des ersten Wortes des An-
spruchs 1 von „Staudamm“ in „Stauvorrichtung“ erfolgte.

Daraufhin hat die Prüfungsstelle die Anmeldung mit Beschluss vom 27. April 2016
unter Bezugnahme auf den vorangegangenen Prüfungsbescheid zurückgewiesen,
wobei sie weiterhin die Auffassung vertrat, das beanspruchte Prioritätsverhältnis
sei unwirksam und der Gegenstand des Patentanspruchs 1 gegenüber dem Inhalt
der Druckschrift DE 20 2010 010 731 U1 nicht neu.

Gegen diesen Beschluss richtet sich die Beschwerde der Anmelder. Sie treten der
Begründung durch die Prüfungsstelle entgegen und stellen den Antrag,

den angefochtenen Beschluss aufzuheben und ein Patent mit fol-
genden Unterlagen zu erteilen:

- Patentansprüche 1 bis 7 und
- Beschreibung Seiten 1 bis 13,
jeweils vom 23. Mai 2013 (Hauptantrag),
hilfsweise jeweils in der Fassung vom 2. Juni 2016;
- Zeichnungen (Fig. 1 und 2) gemäß Offenlegungsschrift.

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Die Patentansprüche gemäß Hauptantrag lauten:

1. Stauvorrichtung zum Anstauen von Löschwasser in einem
fließenden Gewässer, aufweisend eine Hauptstauwand (1), sowie
mindestens eine Seitenstauwand (2), dadurch gekennzeichnet,
dass die mindestens eine Seitenstauwand (2) seitlich schwenkbar
an der Hauptstauwand (1) angelenkt ist und dass die Stauvor-
richtung eine Wassertasche (3) aufweist, welche aus flexiblen
Material besteht, wobei die Hauptstauwand (1) und die mindes-
tens eine Seitenstauwand (2) an ihren, einem Grund des Gewäs-
sers zugewandten, Seitenkanten mit der Wassertasche (3) fest
verbunden sind und wobei die Wassertasche (3) einen maximalen
Öffnungswinkel zwischen der Hauptstauwand (1) und der min-
destens einen Seitenstauwand (2) festlegt und dass in einem zu-
sammengeklappten Zustand die Hauptstauwand (1) und die min-
destens eine Seitenstauwand (2) im Wesentlichen parallel ange-
ordnet sind und die Wassertasche (3) in gefalteter Form zwischen
der Hauptstauwand (1) und der mindesten einen Seitenstauwand
(2) vorliegt.

2. Stauvorrichtung nach Anspruch 1, dadurch gekennzeichnet,
dass eine weitere Seitenstauwand (4) seitlich schwenkbar so an
der Hauptstauwand (1) angeordnet ist, dass die weitere Seiten-
stauwand (4) der ersten Seitenstauwand (2) gegenüberliegt.

3. Stauvorrichtung nach Anspruch 1 oder 2, dadurch gekenn-
zeichnet, dass dieser auf der Stauseite eine Aufnahme zum Ein-
hängen eines Saugstutzens aufweist.

4. Stauvorrichtung nach einem der vorhergehenden Ansprüche,
dadurch gekennzeichnet, dass die Hauptstauwand (1), die min-
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destens eine Seitenstauwand (2) und die Wassertasche (3) aus
verwitterungsfesten Werkstoffen bestehen.

5. Stauvorrichtung nach Anspruch 4, dadurch gekennzeichnet,
dass die Hauptstauwand (1) und die mindestens eine Seitenstau-
wand (2) aus Aluminium bestehen.

6. Stauvorrichtung nach Anspruch 4, dadurch gekennzeichnet,
dass die Wassertasche (3) aus Kunststoff besteht.

7. Stauvorrichtung nach einem der vorhergehenden Ansprüche,
dadurch gekennzeichnet, dass dieser auf der, dem Grund des
Gewässers zugewandten Seite, mindestens ein Ankerelement (6)
aufweist.

Hinsichtlich des weiteren Vortrags der Anmelder sowie der Unterlagen gemäß
Hilfsantrag wird auf die Gerichtsakte verwiesen.


II.

1. Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist zulässig. Sie ist auch
erfolgreich, da die beanspruchte Priorität wirksam und der Anmeldungsgegen-
stand gemäß Hauptantrag gegenüber dem aufgezeigten Stand der Technik pa-
tentfähig ist (§§ 1 bis 5 PatG).

2. Die Priorität aus dem vorangemeldeten Gebrauchsmuster
DE 20 2010 010 731 U1 ist wirksam in Anspruch genommen, da dort dieselbe Er-
findung wie in der Streitanmeldung offenbart ist (§ 40 Abs. 1 PatG).

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Die Prüfungsstelle hat in dem angefochtenen Beschluss die Wirksamkeit der be-
anspruchten Priorität unter Bezugnahme auf die BGH-Entscheidung vom
11. Februar 2014 (GRUR 2014, 542 ff. - Kommunikationskanal) mit der Begrün-
dung verneint, dass der Anspruch 1 der Nachanmeldung ein Merkmal nicht ent-
halte, welches im (einzigen) Schutzanspruch des vorangemeldeten Gebrauchs-
musters enthalten ist, nämlich das dort mit den Ziffern 6) und 12) bezeichnete
Merkmal eines in der Wassertasche integrierten Wasserablassventils. Daher
könne der Fachmann, hier ein Bauingenieur (FH) mit speziellen Kenntnissen auf
dem Gebiet der Gewässertechnik, der Voranmeldung keine Stauvorrichtung ent-
nehmen, bei der die Wassertasche kein Wasserablassventil aufweist.

Diese Schlussfolgerung geht hier jedoch fehl, da es für die Frage der Identität von
Vor- und Nachanmeldung gemäß der zitierten BGH-Entscheidung nicht auf den
durch etwaige Patent- bzw. Schutzansprüche definierten Schutzbereich der bei-
den Anmeldungen ankommt sondern einzig auf die Frage, ob „die mit der Nach-
anmeldung beanspruchte Merkmalskombination in der Voranmeldung in ihrer Ge-
samtheit als zu der angemeldeten Erfindung gehörend offenbart ist. [ ... ] Dabei ist
die Offenbarung des Gegenstandes der ersten Anmeldung nicht auf die dort for-
mulierten Ansprüche beschränkt; vielmehr ist dieser aus der Gesamtheit der An-
meldungsunterlagen zu ermitteln“ (s. dort Ziffer II.1.a)). Hierbei ist es entgegen der
Auffassung der Prüfungsstelle auch ohne Belang, was in § 5 Abs. 4 GebrMV ge-
regelt ist.

Weiter führt der BGH hierzu aus: „Die Priorität einer Voranmeldung kann in An-
spruch genommen werden, wenn sich die dort anhand eines Ausführungsbeispiels
oder in sonstiger Weise beschriebenen Anweisungen für den Fachmann als Aus-
gestaltung der in der Nachanmeldung umschriebenen allgemeinen technischen
Lehre darstellen und diese Lehre in der in der Nachanmeldung offenbarten Allge-
meinheit bereits der Voranmeldung als zu der angemeldeten Erfindung gehörend
entnehmbar ist“ (s. dort Leitsatz und Ziffer III.1.bb)). Dies entspricht gefestigter
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Rechtsprechung (BGH GRUR 2013, 1210, 1211- Dipeptidyl-Peptidase-Inhibito-
ren).

Vorliegend ist die erste dieser beiden Bedingungen dergestalt erfüllt, dass der
Schutzanspruch des Gebrauchsmusters eine Stauvorrichtung umfasst, bei wel-
cher die Wassertasche ein integriertes Wasserablassventil aufweist und somit
eine Ausgestaltung der in der Nachanmeldung umschriebenen allgemeinen tech-
nischen Lehre einer Stauvorrichtung ohne Wasserablassventil darstellt. Die zweite
Bedingung ist dadurch erfüllt, dass diese (allgemeinere) Lehre der Voranmeldung
als zu der angemeldeten Erfindung gehörend entnehmbar ist, nämlich der ge-
samten Beschreibung, welche die Erfindung als Lösung der zugrunde liegenden
Aufgabe ohne das Merkmal eines Wasserablassventils beschreibt (s. Abs. [0001]
bis [0006] der GM-Schrift).

Eine Ausführung der Wassertasche mit einem Wasserablassventil als vorteilhafte
Ausgestaltung der Erfindung findet sich in der Beschreibung der Streitanmeldung
(s. Abs. [0032] der Offenlegungsschrift DE 10 2011 108 339 A1).

Damit ist vorliegend die Priorität der DE 20 2010 010 731 U1 wirksam in Anspruch
genommen.

3. Der Patentanspruch 1 in der gemäß Hauptantrag geltenden Fassung vom
23. Mai 2013 ist zulässig.

Die gegenüber der ursprünglichen Fassung erfolgte Änderung erstreckt sich ledig-
lich auf einen Austausch des Begriffs „Staudamm“ gegen die Bezeichnung „Stau-
vorrichtung“ in den Ansprüchen und der Beschreibung. Im Kontext der gesamten
Anmeldung sieht der Senat diese Änderung als zulässig an, da es sich dem
Fachmann hieraus ohne weiteres erschließt, dass mit dem Begriff „Staudamm“
kein fest errichtetes Bauwerk im üblichen Sinne gemeint sein kann, sondern die
Erfindung auf eine mobile, leicht zu transportierende Vorrichtung zum (vorüberge-
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henden) Anstauen eines Fließgewässers gerichtet ist. Insofern ist die Bezeich-
nung „Stauvorrichtung“ durch den Gesamtinhalt der Anmeldung gedeckt.

4.1 Der Gegenstand des geltenden Patentanspruchs 1 ist neu.

Aufgrund der wirksam in Anspruch genommenen Priorität hat die
DE 20 2010 010 731 U1 als Stand der Technik zur Beurteilung der Patentfähigkeit
der Nachanmeldung außer Betracht zu bleiben.

Beim Gegenstand der von der Prüfungsstelle als einzige weitere Druckschrift er-
mittelten DE 199 19 239 A1 fehlt zumindest das Merkmal einer Wassertasche, so
dass der Anmeldungsgegenstand demgegenüber neu ist.

4.2 Der Gegenstand des geltenden Patentanspruchs 1 beruht auch auf einer
erfinderischen Tätigkeit.

Die in der DE 199 19 239 A1 offenbarte Vorrichtung umfasst eine dem Anmel-
dungsgegenstand ähnliche Grundkonstruktion aus zwei gelenkig miteinander ver-
bundenen Wandteilen, wobei jeder dieser beiden Schenkel an seiner Unterseite
ein Bodenelement aufweisen kann. Dieses Bodenelement soll für einen sicheren
Stand der Vorrichtung am Grund des Gewässers sorgen. Eine Anregung dazu,
anstelle dieser Bodenelemente zwischen den beiden Schenkeln eine Wasserta-
sche anzuordnen, welche mit beiden Wandteilen verbunden ist und damit einen
Wasserbehälter bildet, der im Bedarfsfall zur Entnahme einer größeren Wasser-
menge aus dem Gewässer gehoben werden kann, geht von der
DE 199 19 239 A1 nicht aus; vielmehr offenbart diese Druckschrift eine in sich ab-
geschlossene Lehre zum Anstauen eines Gewässers, wobei die Wasserentnahme
über eine Saugleitung aus dem aufgestauten Bereich des Gewässers erfolgt.

5. Mit dem damit gewährbaren Patentanspruch 1 sind auch die hierauf rückbe-
zogenen Unteransprüche 2 bis 7 gewährbar.
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6. Da somit dem Hauptantrag stattgegeben werden konnte, brauchte auf den
Hilfsantrag nicht eingegangen zu werden.


Dr. Lischke Hildebrandt Eisenrauch Küest

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