1 BvR 793/01 - Urteilsbegründungspflicht im arbeitsgerichtlichen Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren zur Durchsetzung des Anspruchs auf wirkungsvollen Rechtsschutz
Karar Dilini Çevir:





 



BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 1 BvR 793/01 -










Im Namen des Volkes




In dem Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerde




 



des Herrn S...




 



- Bevollmächtigte:


Rechtsanwälte Wolfgang Procher und Koll.,

Bavariaring 24, 80336 München -





 





gegen

das Urteil des
Landesarbeitsgerichts München vom 10. Mai 1999 - 3 Sa
1205/98 -









und

Antrag auf Wiedereinsetzung in den
vorigen Stand






 



hat die 2. Kammer des Ersten Senats des
Bundesverfassungsgerichts durch

die Richterin Jaeger

und die Richter Hömig,

Bryde




 



am 15. November 2001 einstimmig
beschlossen:




 



Das Urteil des Landesarbeitsgerichts München
vom 10. Mai 1999 - 3 Sa 1205/98 - verletzt den
Beschwerdeführer in seinen Rechten aus Artikel 2
Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem
Rechtsstaatsprinzip (Artikel 20 Absatz 3 des
Grundgesetzes). Es wird aufgehoben.

Die Sache wird an eine andere Kammer des
Landesarbeitsgerichts München zurückverwiesen.

Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer
die notwendigen Auslagen im Verfassungsbeschwerdeverfahren zu
erstatten. Im Übrigen wird der Kostenantrag des
Beschwerdeführers zurückgewiesen.

Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen
Tätigkeit wird auf 100.000 DM (in Worten: einhunderttausend
Deutsche Mark) festgesetzt.




 


Gründe:




A.




1



Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen
das Berufungsurteil eines Landesarbeitsgerichts, das dem
Beschwerdeführer in vollständiger Fassung erst mehr als 20
Monate nach der Verkündung zugestellt worden ist.




I.




2



1. Der Beschwerdeführer war seit Juli 1970
zuletzt als technischer Verkaufsberater zu einer monatlichen
Bruttovergütung von 10.475 DM bei der Beklagten des
Ausgangsverfahrens als Arbeitnehmer beschäftigt. Im April
1996 veräußerte die Beklagte den Geschäftsbereich, in dem der
Beschwerdeführer tätig war. Der Beschwerdeführer widersprach
dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses auf den Erwerber.
Daraufhin kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis im
April 1996 aus betriebsbedingten Gründen ordentlich
fristgerecht zum 30. Juni 1997, weil sie nach dem
Betriebsübergang keine Beschäftigungsmöglichkeit mehr für den
Beschwerdeführer habe. Dagegen erhob der Beschwerdeführer
Kündigungsschutzklage, hilfsweise begehrte er die Zahlung
einer Sozialplanabfindung in Höhe von 251.400 DM.




3



Das Arbeitsgericht wies zunächst die
Kündigungsschutzklage durch Teilurteil ab. Die Kündigung sei
aus betriebsbedingten Gründen sozial gerechtfertigt. Der
Beschwerdeführer habe durch den Widerspruch gegen den
Übergang seines Arbeitsverhältnisses auf den Erwerber, der
ihn weiterbeschäftigt hätte, letztlich selbst zum Verlust
seines Arbeitsplatzes beigetragen. Die Berufung des
Beschwerdeführers gegen das Teilurteil des Arbeitsgerichts
wies das Landesarbeitsgericht zurück.




4



Schließlich wies das Arbeitsgericht auch die
Klage hinsichtlich des Hilfsantrages auf Zahlung einer
Abfindung durch "End"-Urteil ab. Aus dem Sozialplan ergebe
sich kein derartiger Anspruch des Beschwerdeführers, weil er
ohne sachlichen Grund dem Übergang seines
Arbeitsverhältnisses auf den Erwerber widersprochen und damit
eine Kündigung durch die Beklagte provoziert habe.




5



2. Das Landesarbeitsgericht wies die Berufung
des Beschwerdeführers gegen das Schlussurteil des
Arbeitsgerichts durch Urteil vom 10. Mai 1999 zurück; die
Revision ließ es nicht zu. Dieses zweite Urteil des
Landesarbeitsgerichts ist den Prozessbevollmächtigten des
Beschwerdeführers erst mehr als 20 Monate nach der
Verkündung, am 5. Februar 2001, zugestellt worden.




6



Die am 5. März 2001 beim
Bundesarbeitsgericht eingegangene Nichtzulassungsbeschwerde
des Beschwerdeführers ist bisher nicht beschieden und wird
vom Beschwerdeführer zurzeit nicht weiter betrieben. Mit
einer am 27. April 2001 eingegangenen Kurznachricht
übersandte das Bundesarbeitsgericht dem Beschwerdeführer den
Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des
Bundesverfassungsgerichts vom 26. März 2001 - 1 BvR
383/00 - zur Kenntnisnahme.




II.




7



Mit seiner am 10. Mai 2001 eingegangenen
Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen
das Urteil des Landesarbeitsgerichts über die Berufung gegen
das "End"-Urteil des Arbeitsgerichts, mit welchem über den
Hilfsantrag des Beschwerdeführers betreffend die Abfindung
entschieden wurde. Das Urteil verstoße im Hinblick auf den
langen Zeitraum zwischen Verkündung und schriftlicher
Niederlegung gegen sein Grundrecht aus Art. 2
Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip
(Art. 20 Abs. 3 GG), wobei er Bezug nimmt auf den
Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des
Bundesverfassungsgerichts vom 26. März 2001 - 1 BvR
383/00 - (NZA 2001, S. 982).




8



Gleichzeitig beantragt der Beschwerdeführer,
ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Die
vom Bundesverfassungsgericht im vorgenannten Beschluss für
die Zukunft vorgegebene Frist (Fristbeginn mit Überschreiten
der Fünf-Monats-Frist ab Verkündung des Berufungsurteils)
könne er nicht mehr einhalten. Da er keine Kenntnis von der
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gehabt habe, sei
er ohne Verschulden verhindert gewesen, Verfassungsbeschwerde
innerhalb der gesetzlichen Monatsfrist zu erheben. Mit
Erlangung der Kenntnis von dieser Entscheidung am
27. April 2001 sei dieses Hindernis behoben worden.




9



Schließlich beantragt der Beschwerdeführer,
dem Freistaat Bayern auch die notwendigen Auslagen und Kosten
des Beschwerdeführers im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren
vor dem Bundesarbeitsgericht aufzuerlegen. Das
Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren könne im Hinblick auf die
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 26. März 2001
- 1 BvR 383/00 - nicht mehr weiterbetrieben werden.




III.




10



Zur Verfassungsbeschwerde haben das Bayerische
Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und
Frauen, das Bundesarbeitsgericht und die Beklagte des
Ausgangsverfahrens Stellung genommen.




11



1. Das Bayerische Staatsministerium hat sich
dahin geäußert, dass alleiniger Grund für die verspätete
Zustellung des Urteils des Landesarbeitsgerichts der
Gesundheitszustand des Kammervorsitzenden gewesen sei. Die
Verzögerung werde außerordentlich bedauert.




12



2. Der Neunte und der Zehnte Senat des
Bundesarbeitsgerichts haben darauf hingewiesen, dass das
Bundesarbeitsgericht bei Verstößen gegen
Verfahrensgrundrechte im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren
nicht abhelfen könne (vgl. BAG, Beschluss vom 26. Juni 2001 -
9 AZN 132/01 -; NZA 2001, S. 1036).




13



3. Die Beklagte des Ausgangsverfahrens hält
die Verfassungsbeschwerde für unzulässig, weil die
Einlegungsfrist versäumt sei. Der Beschwerdeführer hätte
schon innerhalb eines Monats nach Ablauf der
Fünf-Monats-Frist seit Verkündung des
landesarbeitsgerichtlichen Urteils, spätestens aber innerhalb
eines Monats nach Urteilszustellung, Verfassungsbeschwerde
erheben müssen. Erhoben worden sei die Verfassungsbeschwerde
aber erst drei Monate nach der Zustellung.




14



Gegen die Fristversäumnis sei keine
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Die
Unkenntnis des Beschwerdeführers von dem Beschluss der 2.
Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom
26. März 2001 - 1 BvR 383/00 - (NZA 2001, S. 982)
schütze den Beschwerdeführer nicht.




B.




I.




15



Die Kammer nimmt gemäß § 93 b
BVerfGG die Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des
Landesarbeitsgerichts vom 10. Mai 1999 zur Entscheidung
an, weil dies zur Durchsetzung des Anspruchs des
Beschwerdeführers auf wirkungsvollen Rechtsschutz
(Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem
Rechtsstaatsprinzip) angezeigt ist (§ 93 a
Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Der
Verfassungsbeschwerde, die im Anschluss an die Kurznachricht
des Bundesarbeitsgerichts vom April 2001 rechtzeitig erhoben
worden ist, ist nach Maßgabe der Gründe stattzugeben. Die für
die Beurteilung wesentlichen verfassungsrechtlichen Fragen
hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden. Die
Verfassungsbeschwerde ist hinsichtlich des genannten Urteils
des Landesarbeitsgerichts zulässig und begründet.




16



1. Das Bundesverfassungsgericht hat die
einschlägigen verfassungsrechtlichen Fragen zur Bedeutung des
Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem
Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) bereits
entschieden.




17



Der Anspruch auf Gewährung wirkungsvollen
Rechtsschutzes verbietet es den Gerichten, den Parteien den
Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz
in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht zu rechtfertigender
Weise zu erschweren (vgl. BVerfGE 41, 23 ;
69, 381 ). Gleichzeitig gebietet die aus dem
Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Pflicht zur Gewährung
wirkungsvollen Rechtsschutzes und zur Herstellung von
Rechtssicherheit, dass strittige Rechtsverhältnisse in
angemessener Zeit geklärt werden (vgl. BVerfGE 60, 253
; 88, 118 ).




18



2. Nach diesem Maßstab verletzt die
Entscheidung des Landesarbeitsgerichts die Rechte des
Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 1 GG in
Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20
Abs. 3 GG).




19



Eine landesarbeitsgerichtliche Entscheidung,
in der die Revision nicht zugelassen wurde und deren
vollständige Gründe erst mehr als fünf Monate nach Verkündung
unterschrieben der Geschäftsstelle übergeben worden sind,
kann keine geeignete Grundlage mehr für das Revisionsgericht
sein, um das Vorliegen von Revisionszulassungsgründen in
rechtsstaatlicher Weise zu überprüfen. Ein
Landesarbeitsgericht, das ein Urteil in vollständiger Fassung
erst so spät absetzt, erschwert damit für die unterlegene
Partei den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung
eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht
mehr zu rechtfertigender Weise.




20



Wegen der weiteren Begründung wird verwiesen
auf den Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des
Bundesverfassungsgerichts vom 26. März 2001 - 1 BvR
383/00 -, AP Nr. 33 zu Art. 20 GG = NZA 2001,
S. 982.




II.




21



Die angegriffene Entscheidung des
Landesarbeitsgerichts ist aufzuheben und die Sache - zur
Vermeidung weiterer Verzögerungen - an eine andere Kammer des
Landesarbeitsgerichts zurückzuverweisen.




22



Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer
die notwendigen Auslagen zu erstatten, weil sich die
Verfassungsbeschwerde als begründet erwiesen hat
(§ 34 a Abs. 2 BVerfGG).




23



Der Antrag des Beschwerdeführers, seine
notwendigen Auslagen und Kosten im
Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren beim Bundesarbeitsgericht
dem Freistaat Bayern aufzuerlegen, ist dagegen unbegründet.
Es fehlt an einer Rechtsgrundlage. Unter notwendigen Auslagen
im Sinne von § 34 a Abs. 2 BVerfGG werden nur
diejenigen verstanden, die zu einer zweckentsprechenden
Rechtsverfolgung im Verfahren vor dem
Bundesverfassungsgericht aufgewendet werden müssen (vgl.
BVerfGE 88, 382 ). Die Kosten des
Ausgangsverfahrens haben mit dem
Verfassungsbeschwerdeverfahren nichts zu tun und sind daher
nicht erstattungsfähig.




24



Die Festsetzung des Wertes des Gegenstandes
der anwaltlichen Tätigkeit beruht auf § 113 Abs. 2
Satz 3 BRAGO.




 




Jaeger
Hömig
Bryde







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