1 BvR 605/02 - Anforderungen an das gerichtliche Eilverfahren zum Entzug der elterlichen SorgeSiehe auchPressemitteilung Nr. 57/2002 vom 21. Juni 2002
Karar Dilini Çevir:





 



BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 1 BvR 605/02 -










Im Namen des Volkes




In dem Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerde




 



der Frau H...,
des Herrn H...





 



- Bevollmächtigte:


Rechtsanwälte Harald Brückner und Koll.,

Kollegienwall 26, 49074 Osnabrück -





 





gegen
a)

den Beschluss des
Oberlandesgerichts Hamm vom 1. März 2002 - 13 WF 83/02
-,



b)

den Beschluss des
Amtsgerichts Münster vom 7. Januar 2002 - 44 F 2278/01
-,



c)

den Beschluss des
Amtsgerichts Münster vom 18. Dezember 2001 - 44 F 2278/01
SH -,



d)

den Beschluss des
Amtsgerichts Münster vom 17. Dezember 2001 - 44 F 2278/01
SH -









und

Antrag, Herrn L., Vorsitzender des
Präsidiums der "A. e.V.", im
Verfassungsbeschwerdeverfahren als Beistand
zuzulassen









und

Antrag auf Zahlung von Schadensersatz und
Schmerzensgeld






 



hat die 3. Kammer des Ersten Senats des
Bundesverfassungsgerichts durch

den Präsidenten Papier

und die Richterinnen Haas,

Hohmann-Dennhardt




 



am 21. Juni 2002 einstimmig beschlossen:




 



Der Antrag, Herrn L., Vorsitzender des
Präsidiums der "A. e.V.", im Verfassungsbeschwerdeverfahren
als Beistand zuzulassen, wird abgelehnt.
Der Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm
vom 1. März 2002 - 13 WF 83/02 - und der Beschluss des
Amtsgerichts Münster vom 17. Dezember 2001 - 44 F 2278/01
SH - verletzen die Beschwerdeführer in ihrem Recht aus
Artikel 6 Absatz 2 Satz 1 in Verbindung mit Absatz 3 des
Grundgesetzes. Die Entscheidungen werden aufgehoben. Die
Sache wird an das Amtsgericht Münster zurückverwiesen. Im
Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur
Entscheidung angenommen.
Das Land Nordrhein-Westfalen hat den
Beschwerdeführern die notwendigen Auslagen in Höhe von 3/4
zu erstatten.
Der Antrag auf Zahlung von Schadensersatz
und Schmerzensgeld wird abgelehnt.





 


Gründe:




I.




1



Mit der Verfassungsbeschwerde wenden sich die
Beschwerdeführer insbesondere gegen den in einem Eilverfahren
erfolgten Entzug der Personensorge für ihre vier gemeinsamen
Kinder sowie den Entzug der elterlichen Sorge für drei
weitere Kinder der Beschwerdeführerin zu 1 und den Ausschluss
des Umgangsrechts.




2



1. Die Beschwerdeführer zu 1 und 2 sind die
Eltern der ehelich geborenen Kinder A. (geb. 1995), S. (geb.
1998), M. (geb. 2000) und L. (geb. am 11.12.2001). Des
Weiteren ist die Beschwerdeführerin zu 1 die
alleinsorgeberechtigte Mutter der bei den Beschwerdeführern
lebenden Kinder T. (geb. 1990), N. (geb. 1992) und L. (geb.
1992). Sie hat noch vier weitere Kinder aus erster Ehe: M.
(geb. 1985), S. (geb. 1986), R. (geb. 1987) und A. (geb.
1988). Diese leben beim Vater, der insoweit das alleinige
Sorgerecht hat.




3



Bis zum Jahre 1994 hatte das Jugendamt Kontakt
zur Beschwerdeführerin zu 1 und deren damaliger Familie. Es
wurden sozialpädagogische Familienhilfen gewährt. Diese
endeten im Juli 1994. Im Dezember 2000 beantragte die
Beschwerdeführerin zu 1 beim Jugendamt die Gewährung von
Hilfen zur Erziehung. Sie wurde mit N. bei der Abteilung für
Psychosomatik vorstellig, der stationär aufgenommen wurde.
Nach Abschluss der stationären Aufnahme wurde eine
Fremdunterbringung als notwendig angesehen. Zu dieser konnte
sich die Beschwerdeführerin zu 1 nicht entschließen. Um ein
"Gesamtkonzept" für die Beschwerdeführer und deren Kinder zu
entwickeln, wurde vom Jugendamt ein familienpsychologisches
Gutachten in Auftrag gegeben. Dieses Gutachten wurde unter
dem 17. Dezember 2001 durch den Diplom-Psychologen G.
erstattet. Dieser stellte auf der Grundlage von vier
Hausbesuchen (September und Oktober 2001) bei allen Kindern
Entwicklungsstörungen und Verhaltensauffälligkeiten fest. Es
sei davon auszugehen, dass die basalen Bedürfnisse der Kinder
nicht befriedigt würden und alle Lebensbereiche der Kinder
darüber hinaus von gewaltförmigen Handlungen (Schläge,
Einsperren) der Erwachsenen sowie einer permanenten
Unterversorgung geprägt sei. T. und L. hätten den
unbeaufsichtigten Kontakt zum Gutachter dazu genutzt, um
deutlich zu machen, dass sie der gegenwärtigen
Lebenssituation entfliehen wollten. Ambulante Hilfen seien
daher nicht ausreichend. Zur Abwehr weiterer Gefahren für die
Kinder sei eine langfristige Unterbringung von T., N., L.,
A., S. und M. in Heimerziehung bzw. in professionellen
Pflegestellen erforderlich.




4



Noch am selben Tage beantragte das Jugendamt
insbesondere den Entzug der elterlichen Sorge sowie den
Ausschluss des Umgangsrechts (auch hinsichtlich der vier
Kinder, die bei dem ersten Ehemann der Beschwerdeführerin zu
1 leben) im Wege der einstweiligen Anordnung. Es berief sich
dabei auf das eingeholte Gutachten. Die besondere
Eilbedürftigkeit begründete es damit, dass sich die
Gefährdungssituation für die Kinder durch die notwendige
Versorgung des Neugeborenen (L.), die Weihnachtsferien sowie
den Umstand, dass die Kinder T. und L. sich dem Gutachter
anvertraut hätten, "massiv zuspitzt".




5



a) Ebenfalls am 17. Dezember 2001 entzog das
Amtsgericht den Beschwerdeführern ohne deren Anhörung die
elterliche Sorge für die gemeinsamen Kinder sowie der
Beschwerdeführerin zu 1 die elterliche Sorge für die bei ihr
lebenden drei weiteren Kinder. Zugleich ordnete es die
Herausgabe der Kinder an und ermächtigte das Jugendamt zur
Durchsetzung der Herausgabeanordnung. Aus dem Gutachten des
Sachverständigen G. ergäben sich dringende Anhaltspunkte für
eine Gefährdung des Wohls der sieben Kinder. Die
Kindeswohlgefährdung erreiche ein solches Ausmaß, dass als
einzig möglicher Weg die Trennung der Kinder von den Eltern
angezeigt erscheine.




6



b) Am 18. Dezember 2001 schloss das
Amtsgericht - ebenfalls im Eilverfahren - den Umgang der
Beschwerdeführer mit den Kindern aus und ordnete zugleich an,
dass ihnen der Aufenthaltsort der Kinder nicht mitzuteilen
ist. Darüber hinaus schloss es auch den Umgang der
Beschwerdeführerin zu 1 mit ihren Kindern aus erster Ehe aus.
Es sei mit erheblichen Widerständen und dem Versuch der
Beschwerdeführer zu rechnen, Druck auf ihre Kinder auszuüben.
Um die Kinder von diesen Belastungen fern zu halten, seien
zum Wohle der Kinder die erlassenen Anordnungen
erforderlich.




7



Ebenfalls am 18. Dezember 2001 wurden die
Kinder vom Jugendamt aus der Familie herausgenommen. Das
jüngste Kind wurde noch von der Entbindungsstation
mitgenommen. Am 7. Januar 2002 hörte das Amtsgericht
schließlich die Beteiligten und Frau L. vom Kindergarten A.
an.




8



c) Mit Beschluss vom 1. März 2002 wies das
Oberlandesgericht die gegen den Beschluss des Amtsgerichts
vom 17. Dezember 2001 noch am gleichen Tage eingereichte
Beschwerde der Beschwerdeführer zurück. Aufgrund des
Gutachtens des Sachverständigen G. habe hinreichende
Veranlassung für den Entzug der elterlichen Sorge
bestanden.




9



d) Die 3. Kammer des Ersten Senats hat den
Antrag der Beschwerdeführer auf Erlass einer einstweiligen
Anordnung durch Beschluss vom 4. April 2002 abgelehnt.




10



2. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügen die
Beschwerdeführer eine Verletzung ihrer Grundrechte aus Art.
2, Art. 3, Art. 6 und Art. 103 GG. Sie beanstanden
insbesondere den Erlass der Eilentscheidung ohne ihre
vorherige Anhörung, die Verletzung des Grundsatzes der
Verhältnismäßigkeit, da behördliche Hilfemaßnahmen ebenfalls
zur Abwendung der Kindeswohlgefährdung geeignet seien, sowie
eine unzureichende Ermittlung des Sachverhalts.




11



3. Die Landesregierung Nordrhein-Westfalen und
das Amt für Kinder-, Jugendliche und Familien der Stadt
Münster hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.




II.




12



Die Verfassungsbeschwerde ist im Umfang ihrer
Zulässigkeit zur Entscheidung anzunehmen, weil dies zur
Durchsetzung der Rechte der Beschwerdeführer aus Art. 6 Abs.
2 in Verbindung mit Abs. 3 GG angezeigt ist (vgl. § 93 a
Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine
stattgebende Kammerentscheidung liegen vor. Die für die
Entscheidung maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat
das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (vgl.
§ 93 c Abs. 1 Satz 1 und 2 BVerfGG).




13



1. Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig,
soweit die Beschwerdeführer den durch Beschluss des
Amtsgerichts vom 18. Dezember 2001 erfolgten
Umgangsausschluss bzw. den Beweisbeschluss vom 7. Januar 2002
angreifen. Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde steht
insoweit der Grundsatz der Subsidiarität entgegen (vgl.
§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG). Beide Entscheidungen sind
mit dem Rechtsmittel der Beschwerde (vgl. § 19 FGG)
anfechtbar. Von dieser Möglichkeit haben die Beschwerdeführer
- soweit ersichtlich - keinen Gebrauch gemacht. Ihre
Beschwerde vom 19. Dezember 2001 richtet sich ausschließlich
gegen die ebenfalls mit der Verfassungsbeschwerde
angegriffene Entscheidung des Amtsgerichts vom 17. Dezember
2001. Anhaltspunkte dafür, dass den Beschwerdeführern die
Einlegung der Beschwerde insoweit unzumutbar ist (vgl.
§ 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG), sind weder dargetan noch
ersichtlich.




14



Das Gebot der Rechtswegerschöpfung steht der
Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde im Übrigen nicht
entgegen. Die Erschöpfung des Rechtsweges in der Hauptsache
ist vorliegend nicht geboten (vgl. BVerfGE 77, 381
).




15



2. Soweit die Verfassungsbeschwerde zulässig
ist, hat sie keine grundsätzliche verfassungsrechtliche
Bedeutung. Insbesondere zur Problematik der
verfassungsrechtlichen Anforderungen an Eingriffe in das
Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 GG (vgl.
insbesondere BVerfGE 24, 119 ; 31, 194
; 60, 79 und 79,
51 ) und an das diesen Eingriffen zu Grunde
liegende gerichtliche Verfahren (vgl. BVerfGE 55, 171
) hat das Bundesverfassungsgericht bereits
Stellung genommen. Auch hat es schon entschieden, dass das
Gebot effektiven Grundrechtsschutzes nicht nur die Gestaltung
des Verfahrensrechts im Allgemeinen beeinflusst (vgl. BVerfGE
a.a.O.), sondern darüber hinaus auch besondere
verfassungsrechtliche Anforderungen an das gerichtliche
Eilverfahren stellt (vgl. BVerfGE 67, 43 ;
69, 315 ). Schließlich hat sich das
Bundesverfassungsgericht zu den sich aus Art. 103 Abs. 1 GG
ergebenden Anforderungen an die Gewährung rechtlichen Gehörs
in Eilverfahren geäußert (vgl. BVerfGE 65, 227
).




16



3. Die Verfassungsbeschwerde ist, soweit sie
sich gegen die Entscheidungen des Amtsgerichts vom 17.
Dezember 2001 und des Oberlandesgerichts vom 1. März 2002
richtet, begründet.




17



a) Die Fachgerichte haben das Elternrecht der
Beschwerdeführerin zu 1 sowie das des Beschwerdeführers zu 2
hinsichtlich der vier jüngsten Kinder aus Art. 6 Abs. 2 Satz
1 in Verbindung mit Abs. 3 GG verletzt.




18



aa) Nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG sind Pflege
und Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern. In
dieses Recht darf der Staat grundsätzlich nur im Rahmen des
staatlichen Wächteramtes (Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG)
eingreifen. Eingriffe in das Elternrecht sind insbesondere
dann verfassungsrechtlich gerechtfertigt, wenn das Wohl des
Kindes durch die Sorgerechtsausübung der Eltern gefährdet
wird. Jede zum Zwecke der Abwendung einer
Kindeswohlgefährdung getroffene staatliche Maßnahme muss
allerdings den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten
(vgl. BVerfGE 72, 122 ; 76, 1
m.w.N.).




19



Darüber hinaus regelt und begrenzt Art. 6 Abs.
3 GG einen bestimmten, auf Grund des staatlichen Wächteramts
in Betracht kommenden Eingriff in das Elternrecht: eine
Trennung des Kindes von seinen erziehungsberechtigten Eltern
ist gegen deren Willen nur auf Grund eines Gesetzes und nur
dann möglich, wenn diese versagen oder wenn die Kinder aus
anderen Gründen zu verwahrlosen drohen (vgl. BVerfGE 24, 119
). Diese verfassungsrechtlichen Vorgaben
sind im Zusammenhang mit dem Elternrecht des Art. 6 Abs. 2
Satz 1 GG zu sehen. Für die leiblichen Eltern ist die
Trennung von ihrem Kind der stärkste vorstellbare Eingriff in
ihr Elternrecht, der nur bei strikter Wahrung des Grundsatzes
der Verhältnismäßigkeit mit dem Grundgesetz vereinbar ist
(vgl. BVerfGE 60, 79 ; 79, 51 ).




20



Diese verfassungsrechtliche Dimension von Art.
6 Abs. 2 und 3 GG beeinflusst auch das Prozessrecht und seine
Handhabung im Sorgerechtsverfahren (vgl. BVerfGE 55, 171
). Das gerichtliche Verfahren muss in seiner
Ausgestaltung dem Gebot effektiven Grundrechtsschutzes
entsprechen, damit nicht die Gefahr einer Entwertung
materieller Grundrechtspositionen entsteht (vgl. BVerfGE 63,
131 ). Dies gilt auch und gerade in
kindschaftsrechtlichen Eilverfahren. Im Bereich des
Sorgerechts sind bereits vorläufige Maßnahmen in der Regel
mit einem erheblichen Eingriff in das Grundrecht der Eltern
verbunden. Sie können Tatsachen schaffen, die - insbesondere
auf Grund der Dauer des Hauptsacheverfahrens - später nicht
oder nur schwer rückgängig zu machen sind (vgl. BVerfG, FamRZ
1994, 223 ; NJW 2001, S. 961 f.). Soweit der
Erlass einer Eilentscheidung erforderlich ist, müssen daher
jedenfalls die im Eilverfahren zur Verfügung stehenden
Aufklärungs- und Prüfungsmöglichkeiten ausgeschöpft werden
(vgl. BVerfGE 67, 43 ; 69, 315
).




21



Bei der Überprüfung von gerichtlichen
Entscheidungen, die eine Trennung der Kinder von ihren Eltern
gegen deren Willen zum Gegenstand haben, ist das
Bundesverfassungsgericht nicht auf die Prüfung beschränkt, ob
die angefochtenen Entscheidungen Fehler erkennen lassen, die
auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der
Bedeutung des Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG
beruhen (vgl. BVerfGE 18, 85 ). Die Beurteilung als
erziehungsunfähig berührt die Eltern in ihrem Grundrecht aus
Art. 2 Abs. 1 GG. Bei dieser Sachlage können auch einzelne
Auslegungsfehler wegen der Intensität des
Grundrechtseingriffs, der neben den Eltern zugleich auch die
Kinder betrifft, in diesem Zusammenhang nicht außer Betracht
bleiben (vgl. BVerfGE 60, 79 ).




22



bb) Nach diesen Maßstäben sind weder die
Entscheidung des Amtsgerichts vom 17. Dezember 2001 noch der
Beschluss des Oberlandesgerichts vom 1. März 2002 mit Art. 6
Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Abs. 3 GG vereinbar.




23



Es ist schon nicht ersichtlich, dass die
Gerichte die Bedeutung des Elternrechts für ihre Entscheidung
zutreffend erkannt und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
hinreichend beachtet haben.




24



Das Oberlandesgericht beschränkt sich in
seiner Begründung der Entscheidung im Wesentlichen darauf,
auf den Bericht des Jugendamtes und das
familienpsychologische Gutachten zu verweisen. Feststellungen
dazu, ob die vom Gutachter gefundenen Ergebnisse auf einer
hinreichend sicheren Tatsachenbasis beruhen, fehlen ebenso
wie die Würdigung des Beschwerdevorbringens der
Beschwerdeführer und die Prüfung, ob nicht mildere Mittel zur
Abwendung einer eventuellen Gefahr ausreichen. Weitere
Feststellungen erübrigten sich auch nicht im Hinblick auf den
Beschluss des Amtsgerichts. Denn auch dieses nimmt zur
Begründung seiner Entscheidung lediglich auf den Antrag des
Jugendamtes und das Gutachten Bezug.




25



Die Fachgerichte haben Art. 6 Abs. 2 Satz 1 in
Verbindung mit Abs. 3 GG auch bei der Ausgestaltung ihres
Verfahrens nicht hinreichend Rechnung getragen. Die
angegriffenen Eilentscheidungen sind nicht auf der Grundlage
eines ermittelten Sachverhalts ergangen, der die getroffene
staatliche Maßnahme rechtfertigen könnte.




26



Das Oberlandesgericht hat die
Verfahrensbeteiligten nicht persönlich angehört, obwohl schon
das Familiengericht eine Anhörung sowie weitere Ermittlungen
unterlassen hatte und ersichtlich war, dass eine weitere
Aufklärung des Sachverhalts erforderlich gewesen wäre.




27



Denn das Familiengericht hatte seine vom
Oberlandesgericht nicht beanstandete Entscheidung, die zu
einer unmittelbaren Veränderung der tatsächlichen
Lebensverhältnisse aller Beteiligten geführt hat und die
deswegen einen Eingriff in das Elternrecht mit besonders
hoher Intensität darstellt, noch am Tage des Eingangs der
Anregung des Jugendamts getroffen, ohne den Sachverhalt beim
Jugendamt und beim Gutachter durch gegebenenfalls auch
telefonische Rückfragen kurzfristig weiter aufzuklären. Eine
solche im Amtsverfahren vorzunehmende beschleunigte
Aufklärung des Sachverhalts (vgl. § 12 FGG) hätte jedoch
angesichts der Schwere des Grundrechtseingriffs erfolgen
müssen, um zu klären, in welchem Ausmaß eine
Kindeswohlgefährdung vorliegt und ob mildere Mittel zur
Abwehr einer solchen Gefährdung zum Einsatz gebracht werden
können.




28



(a) Zwar haben die Hinweise des Jugendamts auf
einen etwaigen Medikamentenmissbrauch, auf die fehlende
Befriedigung basaler Bedürfnisse der Kinder sowie auf
gewaltförmige Handlungen der Beschwerdeführer gegenüber den
Kindern Anlass für ein Tätigwerden des Familiengerichts und
gegebenenfalls auch für ein schnelles Einschreiten geboten,
um etwaige Kindeswohlgefährdungen abzuwehren. Auch hat das
Gericht effektive Maßnahmen zur Abwehr einer
Kindeswohlgefährdung einzusetzen. Die Auswahl der Maßnahme
muss jedoch immer im Verhältnis zum Grad der
Kindeswohlgefährdung stehen. Insofern hat Aufklärungsbedarf
bestanden, dem schon das Amtsgericht nicht nachgekommen ist.
Es hat den Sachverhalt weder beim Jugendamt noch beim
Gutachter oder beispielsweise beim behandelnden Kinderarzt -
gegebenenfalls telefonisch - weiter erkundet. Auch hat es die
Kinder nicht vor Erlass seiner Entscheidung kurzfristig
befragt beziehungsweise sich einen unmittelbaren Eindruck von
diesen verschafft. Hinzu kommt, dass dem Familiengericht
keine Erkenntnisse über mögliche mit seiner Eilentscheidung
verbundene Auswirkungen auf die Kinder vorgelegen haben, da
weder der Jugendamtsbericht noch der Gutachter hierzu
Stellung genommen hatten. Im Rahmen der vorzunehmenden
Abwägung der Vor- und Nachteile einer familiengerichtlichen
Maßnahme ist aber zu berücksichtigen, dass eine Trennung der
Kinder von ihren Eltern ihrerseits die kindliche Entwicklung
zu gefährden vermag, weil ein Abbruch der
Eltern-Kind-Beziehung in den ersten Lebensjahren dem Kind in
der Regel die Basis für seine Orientierung über die Welt und
sich selbst entzieht (vgl. Zenz, in: Salgo et al.,
Verfahrenspflegschaft für Kinder und Jugendliche, Ein
Handbuch für die Praxis, Rn. 652). Auch dies hat das
Oberlandesgericht nicht beanstandet.




29



(b) Die Notwendigkeit einer zügigen weiteren
Sachverhaltsaufklärung hat auch im Hinblick auf die Frage
bestanden, ob mildere Mittel die vom Jugendamt dargestellte
Kindeswohlgefährdung hätten abwehren können. Zwar hatte der
Gutachter die Möglichkeit von Hilfen zur Erziehung auf Grund
der von ihm angenommenen fehlenden Kooperationsbereitschaft
der Eltern ausgeschlossen. Andererseits hatte die
Beschwerdeführerin zu 1 laut Schreiben des Jugendamts vom 17.
Dezember 2001 selbst um Hilfen zur Erziehung nachgesucht.
Diesem Widerspruch sind die Fachgerichte nicht
nachgegangen.




30



Schließlich hat auch der Bericht des
Jugendamtes vom 17. Dezember 2001 Anlass zu weiteren
Ermittlungen gegeben: Es ist bereits nicht nachvollziehbar,
wieso die Fachgerichte auf Grund des ihnen vorliegenden
Tatsachenmaterials angenommen haben, der Familie sei bereits
in vielfältiger Weise Hilfe geleistet worden. Dem Bericht des
Jugendamtes vom 17. Dezember 2001 sind Inhalt und Umfang der
bisher geleisteten Hilfen nicht zu entnehmen. Vielmehr hatte
die Beschwerdeführerin zu 1 nach dem Bericht des Jugendamtes
vom 17. Dezember 2001 zuletzt im Jahre 1994 Kontakt zum
Jugendamt. Dieser ist von ihr selbst im Dezember 2000 wieder
aufgenommen worden. Dies lässt nur die Annahme zu, dass der
Familie in der Zeit zwischen 1994 und 2000 keinerlei Hilfen
des Jugendamtes zuteil wurden. Auch ist nicht zu erkennen, ob
und inwieweit die Beschwerdeführer in den darauf folgenden
Jahren den Kontakt zum Jugendamt beziehungsweise
entsprechende Hilfsangebote abgelehnt haben. Welche "einzelne
Jugendhilfemaßnahmen" in der Vergangenheit durchgeführt
wurden und warum diese nicht zum Erfolg geführt haben, ist
nicht ersichtlich.




31



(c) Auch die Eilbedürftigkeit der Sache kann
die Verfahrensweise der Fachgerichte nicht rechtfertigen. Es
sind keine Gründe für eine Entscheidung des Amtsgerichts noch
am 17. Dezember 2001 ersichtlich, zumal die
Beschwerdeführerin zu 1 von sich aus um Hilfen zur Erziehung
nachgesucht hatte. Insofern hätte im Rahmen des
§ 27 ff. SGB VIII bis zur kurzfristigen Klärung der
offenen Fragen die Möglichkeit bestanden, Einfluss auf die
Lebensbedingungen der Kinder zu nehmen und auf diese Weise
einer Gefährdung des Kindeswohls zumindest zwischenzeitlich
vorzubeugen.




32



b) Da die in zulässiger Weise angegriffenen
Entscheidungen Art. 6 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Abs. 3
GG verletzen, kann dahingestellt bleiben, ob die Entscheidung
des Amtsgerichts vom 17. Dezember 2001 und des
Oberlandesgerichts vom 1. März 2002 darüber hinaus das Recht
der Beschwerdeführer aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzen.




33



c) Die Entscheidungen des Amtsgerichts vom 17.
Dezember 2001 und des Oberlandesgerichts vom 1. März 2002
sind daher aufzuheben.




34



Dies schließt nicht aus, dass das
Familiengericht vor Abschluss des vorrangig zu bearbeitenden
und nunmehr besonders zu beschleunigenden
Hauptsacheverfahrens eine neue Eilentscheidung erlässt. Es
wird dabei sorgfältig prüfen, ob die Aufrechterhaltung der
Trennung der Kinder von den Beschwerdeführern auch vor dem
Hintergrund des zwischenzeitlichen Ermittlungsergebnisses
gerechtfertigt ist. Dabei wird es auch die Gefahren
einbeziehen, die sich bei einem gegebenenfalls notwendig
werdenden mehrfachen Umgebungswechsel für das Wohl der Kinder
ergeben könnten.




35



Hält das Amtsgericht die Aufrechterhaltung des
jetzigen Zustandes für erforderlich, dann wird es zugleich
darüber befinden, ob die durch die Trennung der Kinder von
ihren Eltern beziehungsweise ihrer Mutter bewirkte Intensität
des Grundrechtseingriffs dadurch zu mildern ist, dass den
Beschwerdeführern ein - gegebenenfalls begleiteter und unter
Auflagen stehender (vgl. § 1684 Abs. 4 BGB) - Umgang mit
den Kindern gewährt wird. Darüber hinaus wird es prüfen, ob
die Intensität des Grundrechtseingriffs in strikter Anwendung
des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit danach verlangt, eine
etwaige erneute Eilentscheidung in ihrer Geltungsdauer zu
befristen.




36



4. Die Entscheidung über die Erstattung der
notwendigen Auslagen beruht auf § 34 a Abs. 2
BVerfGG.




37



5. Der Antrag auf Zulassung eines Beistandes
war abzulehnen. Eine Zulassung als Beistand steht im
pflichtgemäßen Ermessen des Bundesverfassungsgerichts. Sie
kommt nur in Betracht, wenn sie sachdienlich ist (vgl.
BVerfGE 68, 360 ). Die Beschwerdeführer sind
jedoch anwaltlich vertreten. Anhaltspunkte dafür, dass die
(zusätzliche) Zulassung eines Beistandes objektiv
sachdienlich ist, sind nicht zu erkennen.




38



6. Der Antrag auf Zahlung von Schadensersatz
und Schmerzensgeld ist ebenfalls abzulehnen, da es insoweit
an einer Rechtsgrundlage fehlt.




39



7. Von einer weiteren Begründung wird gemäß
§ 93 d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.




40



Diese Entscheidung ist unanfechtbar.




 




Papier
Haas
Hohmann-Dennhardt







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