1 BvR 2119/01 - Keine Verletzung von GG Art 3 Abs 1 u Art 12 Abs 1 durch Ablehnung eines Antrags auf Aktenübersendung an einen nicht verkammerten Rechtsbeistand
Karar Dilini Çevir:





 



BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 1 BvR 2119/01 -




In dem Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerde




 



des Rechtsbeistands X...




 





gegen

den Beschluss des
Amtsgerichts Bergen auf Rügen vom 17. Oktober 2001 - 13
Ds 169/01 -






 



hat die 2. Kammer des Ersten Senats des
Bundesverfassungsgerichts durch die

Richterin Jaeger

und die Richter Hömig,

Bryde




 



am 21. März 2002 einstimmig beschlossen:




 



Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur
Entscheidung angenommen.




 


Gründe:




I.




1



Die Verfassungsbeschwerde betrifft die
Ablehnung eines Antrags auf Aktenübersendung gegenüber einem
Rechtsbeistand, der nicht Mitglied einer Rechtsanwaltskammer
ist.




2



1. Der Beschwerdeführer verfügt seit 1974 über
eine Vollerlaubnis als Rechtsbeistand im Sinne des Art. 1
§ 1 Rechtsberatungsgesetz (RBerG) a.F. Von der 1980
geschaffenen Möglichkeit, Mitglied einer Rechtsanwaltskammer
zu werden (vgl. § 209 Bundesrechtsanwaltsordnung; im
Folgenden: BRAO), hat er keinen Gebrauch gemacht.
Schwerpunktmäßig ist er im Bereich der Regulierung von
KFZ-Schäden für Versicherungsunternehmen tätig.




3



Der Beschwerdeführer beantragte für die
Versicherung eines geschädigten Fahrzeughalters beim
Amtsgericht Akteneinsicht durch Überlassung der Akten in
seine Geschäftsräume. Das Amtsgericht lehnte das
Akteneinsichtsgesuch ab, weil der Beschwerdeführer weder
Rechtsanwalt sei noch als Rechtsbeistand der Kammer angehöre.
Ein Rechtsanwalt dürfe gemäß § 406 e Abs. 1
Strafprozessordnung (StPO) die Akten einsehen.
Rechtsbeistände, die einer Rechtsanwaltskammer angehörten,
stünden den Rechtsanwälten gleich, da sie den gleichen
standesrechtlichen Pflichten unterworfen sowie der Aufsicht
der Rechtsanwaltskammer und der Anwaltsgerichte unterstellt
seien.




4



2. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der
Beschwerdeführer die Verletzung seiner Rechte aus Art. 3 und
Art. 12 GG. Rechtsanwälte und Rechtsbeistände alten Rechts
betrieben die gleiche geschäftliche Rechtsbesorgung. Der
Gesetzgeber sei davon ausgegangen, dass Rechtsanwälte auf
Grund ihrer von gesetzlichen Pflichten geprägten Stellung
innerhalb der Rechtspflege wegen des für sie geltenden
Disziplinarrechts sowie der Aufsicht durch die
Rechtsanwaltskammer im Umgang mit überlassenen Akten
besonders zuverlässig seien. Die regelmäßig weniger fundierte
fachliche Qualifikation der Rechtsbeistände gebe aber keinen
Grund zur Annahme, dass sie deswegen ihre beruflichen
Pflichten weniger ernst nähmen als Rechtsanwälte. Schließlich
unterliege der Beschwerdeführer bereits seit 25 Jahren der
Rechtsaufsicht des Präsidiums des Landgerichts.




5



Der gleichzeitig mit der Verfassungsbeschwerde
gestellte Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
wurde mit Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des
Bundesverfassungsgerichts vom 31. Januar 2002 abgelehnt.




II.




6



Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur
Entscheidung anzunehmen. Die Voraussetzungen des § 93 a
Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor.




7



1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig.
Insbesondere ist der Rechtsweg im Sinne des § 90 Abs. 2
BVerfGG erschöpft. Eine Entscheidung über die
Aktenüberlassung nach § 406 e StPO ist - ebenso wie eine
Entscheidung gemäß der hier richtigerweise anzuwendenden
Vorschrift des § 475 StPO - nicht anfechtbar (vgl.
§ 406 e Abs. 3 Satz 2 bzw. § 475 Abs. 3 Satz 3
StPO).




8



2. Der Verfassungsbeschwerde kommt
grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung nicht zu, weil
die für ihre Beurteilung maßgeblichen verfassungsrechtlichen
Fragen durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden
sind.




9



Nach ständiger Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts ist der Gleichheitssatz des Art. 3
Abs. 1 GG nur verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten
im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird,
obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher
Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche
Behandlung rechtfertigen könnten (vgl. BVerfGE 102, 41
). Kammerrechtsbeistände sind mit Rechtsanwälten
insofern gleich zu behandeln, als sie mit Ausnahme der Vor-
und Ausbildung dieselben Voraussetzungen erfüllen müssen,
welche für die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft erforderlich
sind, und zudem als Kammermitglied denselben Standespflichten
wie Rechtsanwälte unterliegen (vgl. BVerfGE 80, 269
). Ebenso ist entschieden, dass Eingriffe in die
Freiheit der Berufsausübung nur dann mit Art. 12 Abs. 1 GG
vereinbar sind, wenn sie auf einer gesetzlichen Grundlage
beruhen, die durch ausreichende Gründe des Gemeinwohls
gerechtfertigt wird. Die aus Gründen des Gemeinwohls
unumgänglichen Beschränkungen des Grundrechts stehen unter
dem Gebot der Wahrung des Grundsatzes der
Verhältnismäßigkeit. Eingriffe in die Berufsfreiheit dürfen
deshalb nicht weiter gehen, als es die sie rechtfertigenden
Gemeinwohlbelange erfordern. Eingriffszweck und
Eingriffsintensität müssen in einem angemessenen Verhältnis
stehen (BVerfGE 101, 331 m.w.N.).




10



3. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist
auch nicht zur Durchsetzung der vom Beschwerdeführer als
verletzt bezeichneten Grundrechte angezeigt. Denn die
Verfassungsbeschwerde hat keine Aussicht auf Erfolg. Die
Verweigerung von Akteneinsicht und Aktenüberlassung in der
angegriffenen Entscheidung verstößt nicht gegen Art. 12 Abs.
1 oder Art. 3 Abs. 1 GG.




11



a) Über die Akteneinsicht entscheidet das
Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen. Wird sie abgelehnt,
stellt dies einen Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit des
Beschwerdeführers aus Art. 12 Abs. 1 GG dar. Dieser Eingriff
ist verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Es liegen
hinreichende Gründe des Gemeinwohls vor, das gewählte Mittel
ist zur Erreichung des verfolgten Zwecks geeignet und
erforderlich, und bei einer Gesamtabwägung zwischen der
Schwere des Eingriffs und dem Gewicht der ihn
rechtfertigenden Gründe ist die Grenze der Zumutbarkeit
gewahrt (vgl. BVerfGE 85, 248 m.w.N.; 93, 362
). Auch für die Ungleichbehandlung des
Beschwerdeführers gegenüber einem Rechtsanwalt sind
hinreichende Differenzierungsgründe vorhanden.




12



aa) Durch die Akteneinsicht erlangt der
Rechtsbeistand Kenntnis von zum Teil sensiblen Informationen,
insbesondere im Fall von Strafverfahren. Der Akteninhalt
bezieht sich regelmäßig nicht nur auf den Auftraggeber des
Rechtsbeistands, sondern auch auf Dritte, nämlich diejenigen,
gegen die sich die Strafverfolgung richtet - im vorliegenden
Fall den Unfallverursacher. Selbst wenn für die Akteneinsicht
besonders geheimhaltungsbedürftige Aktenteile sowie das
Vorstrafenregister abgetrennt werden (vgl. Nr. 187 i.V.m. Nr.
16 Abs. 2 Satz 2 der Richtlinien für das Straf- und
Bußgeldverfahren - RiStBV), kann das Geheimhaltungsinteresse
des Beschuldigten oder Angeklagten bezüglich der
verbleibenden Daten von großer Bedeutung sein.




13



Erlangt ein Rechtsanwalt oder ein
Rechtsbeistand, der Mitglied einer Rechtsanwaltskammer ist,
im Wege der Akteneinsicht Informationen, gibt es gesetzliche
Vorkehrungen gegen deren Weiterverbreitung. Der wichtigste
Schutzmechanismus ist die Beschränkung des Einsichtsrechts
auf Rechtsanwälte, also auf Personen, die zur Geheimhaltung
berechtigt und verpflichtet sind. Sie handeln bei der
Akteneinsicht nicht bloß im Auftrag ihrer Mandanten, sondern
haben zugleich das Recht auf Vertraulichkeit zugunsten
solcher Personen zu wahren, über die aus den Akten
Erkenntnisse gewonnen werden. Sie agieren nicht als Boten,
die Akten anfordern, den Inhalt kopieren und sodann an die
Verletzten oder deren Versicherungen weiterleiten. Sie haben
vielmehr die schutzwürdigen Interessen der Beschuldigten
(vgl. BRDrucks 51/86, S. 17) oder deren Recht auf
informationelle Selbstbestimmung (vgl. BRDrucks 65/99, S. 33)
zu beachten. Die Befugnis der Akteneinsicht ist mit der
Beschränkung auf Rechtsanwälte und ihnen gleichgestellte
Personen kein Privileg, sondern eine diesen zugewiesene
Aufgabe als vertrauenswürdige Organe der Rechtspflege. Dem
hiermit betrauten Personenkreis wird diese Stellung durch
flankierende Regelungen in der Strafprozessordnung und im
Strafgesetzbuch ermöglicht. In einem Strafverfahren steht
ihnen ein Zeugnisverweigerungsrecht aus beruflichen Gründen
gemäß § 53 Abs. 1 Nr. 3 StPO zu; hinsichtlich der
Unterlagen besteht ein Beschlagnahmeverbot nach § 97
StPO. Nachdruck verliehen wird der Verschwiegenheitspflicht
im Strafgesetzbuch; die Offenbarung des erlangten Wissens ist
gemäß § 203 Abs. 1 Nr. 3 in Verbindung mit Abs. 3 StGB
mit Strafe bedroht.




14



Diese Vorschriften gelten nicht für
Rechtsbeistände, die keine Kammermitglieder sind. Dieser
Personenkreis, dem der Beschwerdeführer angehört, bietet
minder wirksamen Schutz hinsichtlich der aus den Akten
erlangten Informationen. Damit ist der Eingriff in die
Berufsausübungsfreiheit zu rechtfertigen. Die Einschränkung
steht in einem angemessenen Verhältnis zum Eingriffszweck;
sie ist den Rechtsbeiständen auch zumutbar, weil es in ihrer
Entschließungsfreiheit liegt, ob sie sich durch Beitritt zur
Rechtsanwaltskammer gemäß § 209 BRAO derselben
Pflichtenbindung wie Rechtsanwälte unterwerfen. Die
Einschränkung der Berufsausübungsfreiheit ist nicht allein
Folge eines gesetzgeberischen Eingriffs; sie beruht
gleichermaßen auf der Tatsache, dass der Beschwerdeführer
nicht für die Verkammerung optiert hat.




15



bb) Aus der oben dargestellten
unterschiedlichen Pflichtenbindung ergibt sich zugleich, dass
eine Ungleichbehandlung zwischen Rechtsbeiständen, die einer
Rechtsanwaltskammer angehören, und Rechtsbeiständen, bei
denen dies nicht der Fall ist, nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG
verstößt.




16



b) Ist schon die Verweigerung der
Akteneinsicht verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, so
gilt dies erst recht für die vom Beschwerdeführer beantragte
Aktenüberlassung. Bei einer Überlassung von Akten in die
Räume des Rechtsbeistandes besteht in höherem Maße die
Gefahr, dass weitere Personen vom Akteninhalt Kenntnis nehmen
können mit der Folge, dass die Geheimhaltung der
schützenswerten Informationen noch weniger gewährleistet
ist.




17



c) Die Verweigerung der Akteneinsicht und der
Aktenüberlassung ist demnach verfassungsmäßig. Es bleibt dem
Beschwerdeführer unbenommen, gemäß § 209 BRAO Mitglied
einer Rechtsanwaltskammer zu werden und sich damit den
erwünschten Tätigkeitsbereich zu eröffnen, indem er sich den
in der Bundesrechtsanwaltsordnung und der Berufsordnung für
Rechtsanwälte näher umschriebenen Anforderungen an
Rechtsanwälte unterwirft. Damit wäre er zur
Zeugnisverweigerung berechtigt und strafbewehrt zur
Verschwiegenheit verpflichtet, deren Einhaltung - auch
zugunsten der Beschuldigten - der straf- und
berufsgerichtlichen Kontrolle unterläge.




18



4. Von einer weiteren Begründung wird gemäß
§ 93 d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.




19



Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 93
d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG).




 




Jaeger
Hömig
Bryde







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