1 BvR 1361/93 - Keine Verletzung des GG durch Nichtberücksichtigung freiwilliger Beiträge zur Rentenversicherung bei Bewertung der Zurechnungszeit für die Berechnung der Berufsunfähigkeitsrente
Karar Dilini Çevir:





 



BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 1 BvR 1361/93 -




In dem Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerde




 



des Herrn H ...,




 



- Bevollmächtigte:


Rechtsanwälte Jürgen Mische und Koll.,

Paulinenstraße 37, 32756 Detmold -





 



1. unmittelbar gegen



a)

das Urteil des
Bundessozialgerichts vom 20. April 1993 - 5 RJ 12/92
-



b)

den Bescheid der
Landesversicherungsanstalt Westfalen vom 18. Oktober 1988
in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 18. August
1989 - 11 020940 H 021/Wd. -







2. mittelbar gegen

§ 1255 a Abs. 4 Satz 1
Reichsversicherungsordnung (RVO)

in der Fassung des Gesetzes zur Wiederbelebung der Wirtschaft
und Beschäftigung und zur Entlastung des Bundeshaushalts
(Haushaltsbegleitgesetz 1983) vom 20. Dezember 1982 (BGBl I
S. 1857)




 



hat die 1. Kammer des Ersten Senats des
Bundesverfassungsgerichts durch

den Präsidenten Papier

und die Richter Steiner,

Hoffmann-Riem




 



gemäß § 93 b in Verbindung mit
§ 93 a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung
vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473)
am 18. April 2002 einstimmig beschlossen:




 



Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur
Entscheidung angenommen.




 


Gründe:




1



Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage,
ob in der gesetzlichen Rentenversicherung bei einer Rente
wegen Berufsunfähigkeit für die Berechnung des Wertes der
Zurechnungszeit allein Pflichtbeiträge zugrunde zu legen sind
oder ob entsprechend dem bis zum 31. Dezember 1982
geltenden Recht auch freiwillige Beiträge berücksichtigt
werden müssen.




I.




2



1. Die gesetzliche Rentenversicherung bietet
den Versicherten Schutz gegen das Risiko von Alter und
verminderter Erwerbsfähigkeit. Einzelheiten der Berechnung
der Renten im Versicherungsfall der Berufs- oder
Erwerbsunfähigkeit nach dem bis zum 31. Dezember 1982
geltenden Recht sind in § 1260 in Verbindung mit
§ 1258 der Reichsversicherungsordnung (RVO)
geregelt.




3



Danach ist bei Versicherten, die vor
Vollendung des 55. Lebensjahres berufsunfähig oder
erwerbsunfähig geworden sind, bei der Ermittlung der
anrechnungsfähigen Versicherungsjahre die Zeit vom
Kalendermonat, in dem der Versicherungsfall eingetreten ist,
bis zum Kalendermonat der Vollendung des 55. Lebensjahres den
zurückgelegten Versicherungs- und Ausfallzeiten
hinzuzurechnen (Zurechnungszeit). Nach § 1260 Abs. 1 RVO
müssen in den letzten fünf Jahren vor Eintritt des
Versicherungsfalls mindestens drei Jahre mit
Pflichtbeitragszeiten belegt oder das Erfordernis der so
genannten Halbbelegung mit Pflichtbeitragszeiten erfüllt
sein. Diese seit dem 1. Januar 1957 geltende Regelung (vgl.
Gesetz zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung der
Arbeiter - ArVNG> vom 23. Februar 1957, BGBl I S. 45)
blieb im Wesentlichen bis zum 31. Dezember 1991
unverändert.




4



Die Berücksichtigung von Zurechnungszeiten
bewirkt einen rentenrechtlichen Ausgleich für die
Arbeitsjahre, die infolge der Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit
ausfallen. Der Gesetzgeber hat in § 1260 Abs. 1 RVO
eine sinnvolle Anwendung des Versicherungsprinzips gesehen,
die dazu beiträgt, das Risiko der Berufs- oder
Erwerbsunfähigkeit in vollem Umfange durch die
Rentenversicherung zu decken (vgl. 2. Deutscher Bundestag,
Niederschrift über die 184. Sitzung vom 16. Januar 1957,
S. 10251). Nach § 1258 RVO erhält die Zurechnungszeit
den aus der gesamten Beitragszeit ermittelten
Durchschnittswert. Sie wirkt sich als Bestandteil der
anrechnungsfähigen Versicherungsjahre rentensteigernd
aus.




5



2. Das Gesetz zur Wiederbelebung der
Wirtschaft und Beschäftigung und zur Entlastung des
Bundeshaushalts (Haushaltsbegleitgesetz 1983) vom 20.
Dezember 1982 (BGBl I S. 1857; im Folgenden:
Haushaltsbegleitgesetz oder HBeglG 1983) hat für
Versicherungsfälle nach dem 31. Dezember 1977 (vgl.
Art. 5 Nr. 2, Art. 6 Nr. 2 und Art. 7 Nr.
2 des Gesetzes über die Anpassung der Renten der gesetzlichen
Rentenversicherung im Jahr 1982 vom 1. Dezember 1981,
BGBl I S. 1205) die Bewertung der Zurechnungszeit
geändert. Die hier maßgebliche Vorschrift des § 1255 a
Abs. 4 Satz 1 RVO hat folgenden Wortlaut:




6



Für eine Zurechnungszeit wird der
Monatsdurchschnitt zugrunde gelegt, der sich aus der
Bewertung der Beitragszeiten ergibt, die für eine
rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit
vor der zu bewertenden Zeit zurückgelegt sind.




7



Mit der Einfügung dieser Vorschrift, die vom
1. Januar 1983 bis zum 31. Dezember 1991 in Kraft
war, erhielt die Zurechnungszeit einen eigenen Wert
zugeordnet, der sich aus der Bewertung aller
Pflichtbeitragszeiten ergibt. Dadurch sollte erreicht werden,
dass Versicherte trotz gleicher Pflichtbeitragsleistung nicht
unterschiedliche Werte für ihre Zurechnungszeit erhalten
(vgl. BTDrucks 9/2140, S. 103).




8



3. Im Gesetz zur Reform der gesetzlichen
Rentenversicherung (Rentenreformgesetz 1992 - RRG 1992)
vom 18. Dezember 1989 (BGBl I S. 2261) hat der Gesetzgeber
- wie zuvor angekündigt (vgl. BTDrucks 9/2140 vom
30. November 1982, S. 95, 103) - die
Zurechungszeit und die anderen beitragsfreien Zeiten neu
geregelt. Ab 1. Januar 1992 werden diese Zeiten nach der
Gesamtleistung aller Beiträge einschließlich der freiwilligen
Beitragszeiten bewertet (so genannte Gesamtleistungsbewertung
nach § 71 SGB VI).




II.




9



1. Der im Jahre 1940 geborene Kläger des
Ausgangsverfahrens war seit 1955 zunächst
versicherungspflichtig beschäftigt. Vom 1. Januar 1975
bis 31. Juli 1987 leistete er als selbständiger
Handwerksmeister freiwillige Höchstbeiträge zur gesetzlichen
Rentenversicherung. Wegen der Folgen eines im Juli 1987
erlittenen Hirninfarkts gewährte der
Rentenversicherungsträger Rente wegen Berufsunfähigkeit ab 1.
Mai 1988 in Höhe von 1153,29 DM. Den Wert für die
anzurechnende Zurechnungszeit (1. August 1987 bis
30. September 1995) ermittelte er nach § 1255 a
Abs. 4 Satz 1 RVO auf der Grundlage der Summe aller
Werteinheiten aus den zu berücksichtigenden
Pflichtbeiträgen.




10



2. Alle Rechtsbehelfe mit dem Ziel, bei der
Zurechnungszeit auch die freiwilligen Beiträge zu
berücksichtigen, waren erfolglos. Durch Urteil vom 20. April
1993 wies das Bundessozialgericht die Revision zurück. Die
Vorschrift des § 1255 a Abs. 4 Satz 1 RVO sei
verfassungsgemäß. Der allgemeine Gleichheitssatz des
Art. 3 Abs.1 GG sei nicht verletzt. Der Gesetzgeber
könne sowohl die Anrechnung von Zurechnungszeiten nach
§ 1260 Abs. 1 RVO als auch deren Bewertung von
Pflichtbeitragszeiten abhängig machen. Ebenso wenig verstoße
die Regelung gegen Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG. Sie
habe nicht in unzulässiger Weise in die Rentenanwartschaft
eingegriffen. Das Ziel des Haushaltsbegleitgesetzes 1983,
Einsparungen vorzunehmen, die aus der Sicht des Gesetzgebers
unabweisbar geworden waren, um die Wirtschaft zu beleben und
die Rentenversicherung und die Krankenkassen durch Senkung
der Ausgaben zu entlasten, gehe als Gemeinwohlbelang den
Belangen des Einzelnen vor. Der Teil der Anwartschaft, der
den Wert der Zurechnungszeit und dessen nähere Bestimmung
umfasse, sei änderbar, weil er nicht durch eigene Leistung,
also durch Beitrag, verdient sei, sondern gewährt werde.




11



Schließlich verstoße die Neuregelung auch
nicht gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes nach
Art. 20 Abs. 3 GG. Der Eingriff in die
Rentenanwartschaft sei nicht unverhältnismäßig, wenn der Wert
der Zurechnungszeit sich nunmehr nach dem Durchschnitt der
Zeiten richte, in denen der Beschwerdeführer als
Pflichtversicherter in einer besonderen Beziehung zur
Rentenversicherung gestanden habe.




12



3. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der
Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Grundrechte aus
Art. 3 Abs. 1, Art. 14 und Art. 20 Abs. 3
GG.




13



Gegenüber Pflichtversicherten, die genauso wie
er Höchstbeträge entrichtet hätten, werde er krass ungleich
behandelt. Bei jenen würden alle Beiträge berücksichtigt, bei
ihm allein dagegen seine - von 1975 bis 1987
gezahlten - freiwilligen Höchstbeträge nicht.
§ 1255 a Abs. 4 Satz 1 RVO in der Fassung des
Haushaltsbegleitgesetzes 1983 verstoße auch gegen
Art. 14 Abs. 1 GG. Wenn der Beitrag nicht mehr das
Risiko des Alters und der Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit bei
freiwillig Versicherten abdecke, so sei dies
unverhältnismäßig. Schließlich sei auch der aus dem
Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Grundsatz des
Vertrauensschutzes (Art. 20 Abs. 3 GG) verletzt. Er habe
im Vertrauen auf den Fortbestand der wesentlichen
Grundprinzipien der Rentenversicherung seit 1975
Höchstbeiträge entrichtet. Dieses Vertrauen sei zerstört, da
bei der jetzt eingeführten Bewertung der Zurechnungszeit das
volle Äquivalent für diese Beiträge entfallen sei.




III.




14



1. Zu der Verfassungsbeschwerde hat das
Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung namens der
Bundesregierung Stellung genommen. Es hält die beanstandete
Regelung für verfassungsgemäß. Anders als bei den durch
Beitragsleistung erworbenen Ansprüchen habe der Gesetzgeber
einen größeren Gestaltungsspielraum, wenn er die Bewertung
bei Änderung von beitragslosen Zeiten wie der Zurechnungszeit
ändere. Bei typisierender Betrachtungsweise habe er auch die
möglichen Interessen der wenigen Versicherten, die hohe
freiwillige Beiträge gezahlt hätten, außer acht lassen
können, zumal selbst mit freiwilligen Höchstbeiträgen die
Voraussetzungen für die Anrechenbarkeit auch der
beitragsfreien Zurechnungszeit nicht sicherstellt werden
konnten.




15



Die im Gesetzgebungsverfahren des
Haushaltsbegleitgesetzes 1983 angekündigte Neuregelung für
die Ersatz-, Ausfall- und Zurechnungszeiten habe der
Gesetzgeber mit dem Rentenreformgesetz 1992 umgesetzt. Selbst
wenn vorher bei der Berechnung der Zurechnungszeit ein
Gleichheitsverstoß unterstellt werde, müsse dem Gesetzgeber
bei einer so komplexen Materie ein schrittweises Vorgehen und
Zeit für eine umfassende Diskussion und Sammlung von
Erfahrungswerten zugebilligt werden.




16



Im Übrigen beruhe die Nichtberücksichtigung
der geleisteten freiwilligen Beiträge bei der Bewertung der
Zurechnungszeit auf der Entscheidung des Beschwerdeführers
für eine freiwillige Versicherung und gegen eine auf Antrag
mögliche Pflichtversicherung. Zudem sei es dem Gesetzgeber
nicht verwehrt, die Solidarität der abhängig Beschäftigten zu
stärken, auf deren Schutz die Sozialversicherung nach wie vor
in erster Linie ausgerichtet sei. Anders als diese könnten
freiwillig Versicherte jederzeit die Beitragszahlung mindern,
erhöhen oder - zeitweilig oder auf Dauer - ganz
einstellen.




17



2. Den vom Bundesverfassungsgericht
übersandten Fragenkatalog haben das Bundesministerium für
Arbeit und Sozialordnung, die Landesversicherungsanstalt
Westfalen als zuständiger Rentenversicherungsträger des
Ausgangsverfahrens, der Zentralverband des Deutschen
Handwerks und der Verband Deutscher Rentenversicherungsträger
beantwortet.




18



Danach ergebe sich zum 1. Mai 1988 eine
fiktive Rente wegen Berufsunfähigkeit von monatlich 1.240,30
DM, wenn bei Bewertung der Zurechnungszeit - wie vom
Beschwerdeführer gefordert - auch die von ihm
entrichteten freiwilligen Beiträge einbezogen würden. Die
Differenz zur tatsächlich gezahlten Rente betrage monatlich
50,40 DM. Aufgrund des ab 1. Januar 1992 geltenden
SGB VI erhöhe sich der Differenzbetrag ab 1. Juli 1995
auf 64,37 DM pro Monat. Trete Erwerbsunfähigkeit ein oder
beantrage der Beschwerdeführer Rente wegen Alters, so werde
die Rente nach dem ab 1. Januar 1992 geltenden Recht
berechnet. Der Beschwerdeführer ziehe dann aus der
Vereinheitlichung der Bewertung der rentenrechtlich
relevanten beitragsfreien Zeiten Nutzen. So betrage zum
1. Oktober 1995 der Zahlbetrag einer fiktiven
Erwerbsunfähigkeitsrente 2.432,73 DM, auf der Grundlage der
vom Beschwerdeführer für die Zeit vorher als
verfassungsgeboten angesehenen Berechnung jedoch nur 2.376,75
DM. Im Übrigen liege exaktes statisches Material darüber, wie
viele Handwerker von den Regelungen des
Haushaltsbegleitgesetzes 1983 betroffen seien, nicht vor.




IV.




19



Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur
Entscheidung angenommen. Die Voraussetzungen nach § 93 a
Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor (vgl. BVerfGE 90, 22
).




20



1. Die Verfassungsbeschwerde hat keine
grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung (vgl.
§ 93 a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG). Es
handelt sich um ausgelaufenes Recht (vgl. BVerfGE 91, 186
). Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen
sind bereits entschieden. Die Frage nach der Bedeutung des
Gleichheitssatzes für die auf Beiträgen beruhenden Ansprüche
der Sozialversicherung ist in der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts geklärt (vgl. BVerfGE 51, 1
; 92, 53 ; 102, 127
). Weiterhin hat sich das Gericht bereits zur
Verfassungsmäßigkeit von Regelungen geäußert, nach denen sich
in besonderen Fällen freiwillige Beiträge zur
Rentenversicherung rentenvermindernd auswirken können (vgl.
BVerfGE 59, 287 ). Schließlich ergibt
sich aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts,
welche verfassungsrechtlichen Anforderungen an
Stichtagsregelungen zu stellen sind (vgl. BVerfGE 101, 239
; stRspr).




21



2. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist
auch nicht zur Durchsetzung der vom Beschwerdeführer als
verletzt bezeichneten Grundrechte nach § 93 a Abs. 2
Buchstabe b BVerfGG angezeigt. Sie hat keine Aussicht auf
Erfolg. Die mittelbar angegriffene Regelung des
§ 1255 a Abs. 4 Satz 1 RVO ist mit dem
Grundgesetz vereinbar.




22



a) Die Vorschrift des § 1255 a Abs. 4
Satz 1 RVO verstößt nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG.




23



Der Beschwerdeführer wird zwar insoweit
ungleich behandelt und benachteiligt, als bei Berechnung
seiner mit Wirkung zum 1. Mai 1988 gewährten Rente wegen
Berufsunfähigkeit die von ihm geleisteten freiwilligen
Beiträge - anders als die Pflichtbeiträge von Versicherten –
für die Zeit bis zum 1. Januar 1992 nicht in die Bewertung
der Zurechnungszeit einfließen und damit zu einer niedrigeren
Rentenleistung führen. Ein Verstoß gegen Art. 3
Abs. 1 GG liegt darin jedoch nicht. Denn für die
Ungleichbehandlung liegen hinreichend gewichtige Gründe
vor.




24



(1) Dem Gesetzgeber ist es grundsätzlich nicht
verwehrt, Pflichtversicherte und freiwillig Versicherte in
der gesetzlichen Rentenversicherung unterschiedlich zu
behandeln, um die Solidarität der abhängig Beschäftigten zu
stärken, auf deren Schutz die Sozialversicherung in erster
Linie ausgerichtet ist (vgl. BVerfGE 75, 78 106>). Pflichtversicherte Beschäftigte tragen in aller
Regel nach Beitragszeit, Beitragsdichte und Beitragshöhe in
erheblich stärkerem Maße zur Versichertengemeinschaft bei als
freiwillig Versicherte; sie können sich dieser Verpflichtung
auch nicht - wie freiwillig Versicherte - entziehen.
Freiwillig Versicherten ist es möglich, jederzeit die
Beitragszahlung zu mindern, zu erhöhen oder - zeitweilig
oder auf Dauer - ganz einzustellen (vgl. BVerfGE 75, 78
). Es ist daher im Hinblick auf Art. 3
Abs. 1 GG nicht zu beanstanden, wenn die Zurechnungszeit
allein nach Pflichtbeitragszeiten bewertet wird.




25



(2) § 1255 a Abs. 4 Satz 1
RVO ist aber auch wegen der Befugnis des Gesetzgebers mit
Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar, unter bestimmten
Voraussetzungen typisierende und generalisierende Regelungen
zu treffen. Die Abhängigkeit der Bewertung der
Zurechnungszeit von Pflichtbeiträgen hat die Stellung
freiwillig Versicherter, die außer Pflichtbeiträgen niedrige
freiwillige Beiträge entrichtet hatten, verbessert; eine
Rentenminderung konnte insoweit nicht mehr eintreten (vgl.
dazu schon BVerfGE 59, 287 ). Andererseits hat der
Gesetzgeber 1982 erkannt (vgl. BTDrucks 9/2140, S. 95 und
103), dass das geltende Recht der Anrechnung und Bewertung
von Ersatz-, Ausfall- und Zurechnungszeiten einer Neuregelung
bedarf. Da es sich dabei um komplexe Sachverhalte handelt,
ist es vertretbar, ihm zunächst eine angemessene Zeit zur
Sammlung von Erfahrungen einzuräumen, innerhalb der er sich
mit gröberen Typisierungen und Generalisierungen begnügen
kann (vgl. BVerfGE 70, 1 ; 89, 15 ). Die
vorübergehende, in der Zeit von 1983 bis 1991 bestehende
Ungleichbehandlung ist durch das Rentenreformgesetz 1992
behoben worden. Die Neuregelung des § 71 SGB VI,
die im Rahmen der Gesamtleistungsbewertung alle
Beitragszeiten während des gesamten Versicherungslebens bei
der Zurechnungszeit berücksichtigt, trat zum 1. Januar 1992
in Kraft.




26



b) Die Vorschrift des § 1255 a Abs.
4 Satz 1 RVO verletzt nicht Art. 14 Abs. 1 GG.




27



Ebenso wie Renten stehen Rentenanwartschaften
unter dem Schutz des Art. 14 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 53,
257 ; stRspr). Eine solche Anwartschaft
hatte der Beschwerdeführer vor dem In-Kraft-Treten des
Haushaltsbegleitgesetzes 1983 erworben. In diese hat jedoch
die angegriffene Regelung nicht verfassungswidrig
eingegriffen.




28



(1) Auf dem Gebiet des
Sozialversicherungsrechts hat der Gesetzgeber einen weiten
Gestaltungsspielraum (vgl. BVerfGE 81, 156
). Dies gilt im Besonderen für den Erlass
von Vorschriften, die die Funktions- und Leistungsfähigkeit
des Systems der gesetzlichen Rentenversicherung im Interesse
aller erhalten, verbessern oder veränderten wirtschaftlichen
Bedingungen anpassen sollen. Zur Erreichung dieser Ziele
umfasst Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG auch die Befugnis,
Rentenansprüche und Rentenanwartschaften zu beschränken (vgl.
BVerfGE 53, 257 ; 100, 1 ). Die
mittelbar angegriffene Vorschrift zielte darauf ab, die
Rentenversicherungsträger durch eine vom Gesetzgeber als
unabweisbar angesehene Senkung ihres Ausgabenvolumens
finanziell zu entlasten (vgl. BTDrucks 9/2140, S. 1) und
damit zur Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Systems der
gesetzlichen Rentenversicherung beizutragen. Um dieses dem
Gemeinwohl dienende Ziel zu erreichen, war der Gesetzgeber
grundsätzlich berechtigt, Regelungen zu treffen, die zu einer
Minderung bereits erworbener Rentenanwartschaften führen
konnten, sofern sie dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
nicht widersprechen.




29



Dabei sind an die Rechtfertigung eines
gesetzgeberischen Eingriffs in bestehende
Rentenanwartschaften umso geringere Anforderungen zu stellen,
je weniger die betroffenen Anwartschaften auf Vorleistungen
der Versicherten beruhen. Der in § 1255 a Abs. 4
Satz 1 RVO geregelte Bewertungsmodus betrifft mit der
Zurechnungszeit einen Bestandteil der Rentenanwartschaften,
den sich die Versicherten nicht durch eigene Beiträge
"verdient" haben, sondern der ihnen gewährt wird, weil es
ihnen nicht möglich war, ein volles Versicherungsleben lang
zu arbeiten und Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung
zu entrichten. Der Gesetzgeber hat bei der Berücksichtigung
und Bewertung solcher beitragsloser Zeiten einen sehr weiten
Gestaltungsspielraum, innerhalb dessen er auch zu Ungunsten
der Versicherten vom bisherigen Rechtszustand abweichen kann
(vgl. BVerfGE 58, 81 ).




30



(2) Im Hinblick darauf ist der Eingriff
verhältnismäßig. Der Gesetzgeber hat die Bewertung der
Zurechnungszeit nur modifiziert. Die grundsätzliche
Rechtsposition ist auch nach In-Kraft-Treten des § 1255
a Abs. 4 Satz 1 RVO im Wesentlichen unangetastet geblieben.
Alle erworbenen Zeiten sowie das Recht, bei vorzeitigem
Ausscheiden aus dem Erwerbsleben eine Zurechnungszeit in
Anspruch zu nehmen, sind erhalten geblieben. Allein der Wert
der Zurechnungszeit richtet sich nicht mehr nach dem
Durchschnitt aller Zeiten, sondern nach den Zeiten, in denen
der Beschwerdeführer Beiträge als Pflichtversicherter zur
gesetzlichen Rentenversicherung entrichtet hat. Unzumutbar
ist diese Regelung nicht. Orientiert man die Prüfung der
Verhältnismäßigkeit daran, dass das Bundesverfassungsgericht
im Zusammenhang mit der Begrenzung der Bewertung von
Ausbildungs-Ausfallzeiten (vgl. BVerfGE 58, 81
) eine Rentenminderung von bis zu 10 %
nicht als unverhältnismäßig sieht, so ist § 1255 a
Abs. 4 Satz 1 RVO nicht zu beanstanden. Dieser Wert
wird nach den vom Verband Deutscher Rentenversicherungsträger
vorgelegten Berechnungen im Falle des Beschwerdeführers nicht
erreicht. Danach beträgt die Differenz zwischen der
- nach der alten, vor 1983 geltenden Rechtslage
berechneten - fiktiven Rente und der tatsächlich
ausgezahlten Rente (Rentenbeginn: 1. Mai 1988) 50,40 DM
(1.189,90 DM statt 1.240,30 DM) und zum 1. Juli 1995
64,37 DM (1.520,21 DM statt 1.584,58 DM). Diese
Differenz macht etwas mehr als 4 % aus.




31



c) Art. 14 Abs. 1 GG ist auch
insoweit nicht verletzt, als der rechtsstaatliche Grundsatz
des Vertrauensschutzes im Eigentumsgrundrecht eine eigene
Ausprägung erfahren hat (vgl. BVerfGE 95, 64 ;
stRspr).




32



Zielsetzung des Haushaltsbegleitgesetzes 1983
war es, Einsparungen vorzunehmen, die aus der Sicht des
Gesetzgebers unabweisbar geworden waren, um die Wirtschaft zu
beleben und die Rentenversicherung und die Krankenkassen
durch Senkung der Ausgaben zu entlasten (vgl. BTDrucks
9/2140, S. 1). Das Interesse des Beschwerdeführers an dem
Fortbestand der für ihn günstigeren Bewertung der
Zurechnungszeit überwiegt diesen Gemeinwohlbelang nicht. Er
konnte von vornherein nicht erwarten, dass die gesetzlichen
Vorschriften über die Berechnung von Leistungen der
Rentenversicherung auf Dauer unverändert fortbestehen. Die
gesetzliche Rentenversicherung ist eine Solidargemeinschaft,
deren Rechte und Verpflichtungen im Laufe der Zeit vielfachen
Veränderungen unterliegen können. Wer einer so geprägten
Solidargemeinschaft beitritt, erwirbt nicht nur die mit einem
solchen System verbundenen Chancen, sondern trägt mit den
anderen Versicherten auch ihre Risiken (vgl. BVerfGE 58, 81
). Rentenansprüche und Rentenanwartschaften weisen
zwar einen hohen personalen Bezug auf, stehen zugleich jedoch
in einem ausgeprägten sozialen Bezug. Deshalb verleiht
Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG dem Gesetzgeber auch
die Befugnis, Rentenansprüche und Rentenanwartschaften zu
beschränken, Leistungen zu kürzen und Ansprüche und
Anwartschaften umzugestalten, sofern dies einem
Gemeinwohlzweck dient und dem Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit genügt. Diese Voraussetzungen liegen hier
vor (vgl. oben unter b).




33



Wenn für den Beschwerdeführer tatsächlich die
durch die möglichen Zurechnungszeiten verbesserte Absicherung
des Risikos der Erwerbs- und Berufsunfähigkeit bei seiner
Entscheidung für die gesetzliche Rentenversicherung so
entscheidend gewesen ist, wie er vorgetragen hat, so hätte er
nach Inkrafttreten des Haushaltsbegleitgesetzes zum
1. Januar 1983 eigene Vorsorge treffen können. So wäre
etwa eine Verringerung der freiwillig entrichteten
Höchstbeiträge zugunsten einer ergänzenden privaten
Absicherung des Invaliditätsrisikos in Betracht gekommen. Bei
der Abwägung fällt zudem ins Gewicht, dass der
Beschwerdeführer aus der freiwilligen Zahlung von Beiträgen
in die gesetzliche Rentenversicherung auch Leistungsvorteile
ziehen kann (siehe oben unter III 2).




34



Im übrigen wird von einer Begründung
abgesehen.




35



Diese Entscheidung ist unanfechtbar.




 




Papier
Steiner
Hoffmann-Riem







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